:: 4/2013

Saisonbereinigungsverfahren in der Konjunkturbeobachtung am Beispiel der BIP-Quartalswerte für Baden-Württemberg

Ökonomische Zeitreihen unterliegen verschiedenen Einflüssen wie beispielsweise Trend, Konjunktur, saisonalen Mustern und Schocks. Diese Einflüsse sind nicht unmittelbar zu beobachten. Daher ist man für ihre Berechnung auf hypothetische Konstrukte angewiesen, die eine analytische Zerlegung der Zeitreihe in die genannten Komponenten ermöglichen. Es gibt zahlreiche Saisonbereinigungsverfahren, die auf unterschiedlichen theoretischen Überlegungen zur Identifizierung der Einflussfaktoren beruhen und entsprechend verschiedene Ergebnisse liefern können. Für die BIP-Quartalswerte – und nicht nur für diese – veröffentlicht das Statistische Bundesamt bereinigte Reihen nach den Verfahren BV4.1 und X-12-ARIMA. Die BIP-Quartalswerte für Baden-Württemberg, die das Statistische Landesamt in eigener Berechnung ermittelt, werden im Rahmen der Konjunkturbeobachtung bislang lediglich nach BV4.1 bereinigt. Es stellt sich die Frage, wie sich die Komponenten der Reihe darstellen, wenn sie nach X-12-ARIMA ermittelt werden, zumal unter Berücksichtigung der methodischen Besonderheiten der BIP-Quartalsrechnung für Baden-Württemberg.

Saisonale Muster, irreguläre Einflüsse – nicht unmittelbar zu beobachten, dennoch real

Die BIP-Quartalswerte für Baden-Württemberg sind, wie viele unterjährige ökonomische Zeitreihen, besonders augenfällig von saisonalen Mustern geprägt. So zeigt Schaubild 1, dass der BIP-Kettenindex in der Regel das Jahr über steigt und im 1. Quartal unter dem Niveau des Schlussquartals des vergangenen Jahres liegt. Eine rudimentäre Methode, dieses saisonale Muster herauszufiltern, wäre ein Vorjahresvergleich. Für eine Aussage zur aktuellen konjunkturellen Lage wäre die Vorjahresveränderung allein jedoch aufgrund des zu starken Vergangenheitsbezuges nur bedingt tauglich. Ein BIP-Rückgang im Vergleich zum Vorjahresquartal ist durchaus mit einem (saisonal bereinigten) Anstieg zum Vorquartal vereinbar – eine Situation, wie sie sich beispielsweise im Schlussquartal 2009 darstellte. Das reale BIP lag um 2,1 % unter dem Vorjahreswert, gegenüber dem Vorquartal stieg aber das BIP saisonbereinigt nach BV4.1 um 1,8 % und zeigte damit an, dass der Tiefpunkt der letzten Rezession überwunden war und die konjunkturelle Entwicklung in Richtung Aufschwung zeigte.

Damit stellt sich die Frage, nach welchem Verfahren die Saisonbereinigung durchgeführt werden soll. Da das Statistische Bundesamt die BIP-Quartalswerte für Deutschland insgesamt nach BV4.1 und X-12-ARIMA bereinigt veröffentlicht, sollen diese Verfahren auch für die baden-württembergische Perspektive herangezogen werden.1 Je nach Methode sind unterschiedliche Ergebnisse denkbar, die im Vorquartalsvergleich unter Umständen sogar zu unterschiedlichen Vorzeichen führen können. Die Schaubilder 2 und 3 zeigen die Trend-Konjunktur-Komponenten nach BV4.1 bzw. nach X-12-ARIMA zu verschiedenen Berechnungsständen.2 Die Trend-Konjunktur-Komponente entspricht der zusätzlich um irreguläre Einflüsse bereinigten saison­bereinigten Reihe und wird auch als »glatte Komponente« bezeichnet. Bereits rein optisch zeigen die Verläufe unterschiedliche Eigenschaften. So erscheint die nach BV4.1 berechnete Trend-Konjunktur-Komponente über den gesamten Verlauf glatter, was für sich genommen allerdings noch kein Qualitätsmerkmal ist – auch bei X-12-ARIMA könnte die Linie über die Wahl anderer gleitender Durchschnitte weiter geglättet werden. Ein möglicher Beurteilungsmaßstab könnten »Stabilitätskriterien« sein, die messen, wie robust die Trend-Konjunktur-Komponente und/oder die saisonbereinigte Reihe gegenüber Aktualisierungen und Revisionen der Originalzeitreihe sind. Eine erwünschte Eigenschaft wäre beispielsweise, dass konjunkturelle Wendepunkte möglichst zuverlässig angezeigt werden. Zu diesem Zweck werden im Folgenden die BIP-Quartalswerte für Baden-Württemberg, wie sie sich zu den jeweiligen Berechnungsständen bzw. -terminen darstellen, herangezogen.3

BIP-Quartalswerte für Baden-Württemberg – Revision in Permanenz

Für einen Vergleich der Saisonbereinigungsverfahren ist es hilfreich, den Beobachtungszeitraum in Abschnitte einzuteilen, die sich durch bestimmte Berechnungsstände4 abgrenzen lassen. Der »stabilste« Abschnitt liegt zwischen dem 1. Quartal 1996 und dem 4. Quartal 2005. Die erste BIP-Quartalsrechnung für Baden-Württemberg nach der bis dato angewandten Methode erfolgte am 26. August 2009 für den Zeitraum vom 1. Quartal 1996 bis zum 2. Quartal 2009. Zu diesem Zeitpunkt waren die BIP-Jahreswerte bis 2005 einschließlich originär berechnet, das heißt die »offiziellen«, vom Arbeitskreis »VGR der Länder« veröffentlichten Jahreszahlen, veränderten sich rückwirkend nicht mehr.5

Den unbereinigten Werten entsprechend variieren auch die bereinigten BIP-Quartalswerte unabhängig vom angewandten Verfahren zwischen dem 1. Quartal 1996 und dem 4. Quartal 2005 kaum mit den jeweiligen Berechnungsständen. Dass hier überhaupt eine leichte Bewegung festzustellen ist, liegt an zwei Gründen: Zum einen daran, dass die unbereinigten BIP-Quartalswerte für Baden-Württemberg nach einem indikatorgestützten zeitreihenökonometrischen Verfahren berechnet werden, das es mit sich bringt, dass sich mit jedem neuen Berechnungsstand die gesamte Originalzeitreihe geringfügig ändert. Dabei entspricht der Durchschnitt der 4 Quartale eines Jahres stets dem Jahresergebnis der VGR, so dass die Aggregationsrestriktion mithin erfüllt ist. Die andere Ursache für die leichten Variationen im angegebenen Zeitraum liegt in der mit jedem neuen Berechnungsstand fortschreitenden Erkenntnis über das Saisonmuster, die auch in die Berechnung der zurückliegenden Werte einfließt.

Zu klären bleibt noch die »Delle« in der nach X-12-ARIMA berechneten Trend-Konjunktur-Komponente zwischen dem 4. Quartal 2004 und dem 4. Quartal 2005. Es zeigt sich, dass diese für die Berechnungsstände 1. September 2011 und jünger resultiert; der leicht aufwärtsgerichtete Verlauf ergibt sich für ältere Berechnungsstände. Der Grund ist die unterschiedliche Behandlung des Originalwerts für das 1. Quartal 2005. Zu den älteren Berechnungsständen identifiziert X-12-ARIMA diesen Wert der Originalzeitreihe als Ausreißer und misst ihm daher eine geringere Relevanz für die Trend-Konjunktur-Komponente zu. Für die jüngeren Berechnungsstände ist das nicht mehr der Fall, auch weil stärkere Volatilität im weiteren Zeitverlauf normaler geworden ist, so dass der relativ niedrige Wert für das 1. Quartal 2005 doch für die glatte Komponente relevante Informationen beinhaltet.

Interpretation bereinigter Reihen – Beipackzettel beachten!

Der nächste Zeitabschnitt erstreckt sich vom 1. Quartal 2006 bis zum 1. Quartal 2009. Zusätzlich zu den oben genannten Faktoren, die zu einer rückwirkenden Revision der unbereinigten und bereinigten Quartalsergebnisse führen, kommen hier noch die Revisionen der BIP-Jahreswerte hinzu, die in der BIP-Quartalsrechnung berücksichtigt werden, um der oben genannten Aggregationsrestriktion zu genügen. In diesen Zeitraum fällt der Beginn der Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09. Den konjunkturellen Wendepunkt markiert bei der mit BV4.1 geglätteten Reihe das 1. Quartal 2008, nach X-12-ARIMA dagegen erst das 2. Quartal 2008. Betrachtet man die unbereinigte Reihe, scheint das 2. Quartal angemessener zu sein, denn das Niveau der Wirtschaftsleistung lag im 3. Quartal deutlich unter dem Wert des Vorquartals, was eine bemerkenswerte Abweichung vom bis dahin zu beobachtenden saisonalen Muster war.

Mit dem Berechnungsstand 26. August 2009 und der erstmaligen Berechnung des BIP für das 2. Quartal 2009 beginnt die eigentliche Echtzeitanalyse und damit der dritte und interessanteste Abschnitt. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich nachvollziehen, wie sich die Werte von Original und bereinigten Reihen verhalten, wenn laufend neue Informationen hinzukommen. Auffällig ist zunächst, dass der von X-12-ARIMA festgestellte konjunkturelle Tiefpunkt im 1. Quartal 2009 einigermaßen unabhängig vom Berechnungsstand ist. Zum Berechnungsstand 26. August 2009 zeigte die nach X-12-ARIMA berechnete glatte Komponente vom 1. auf das 2. Quartal eine Bodenbildung an (Schaubild 3). Bereits zum nächsten Berechnungsstand (25. November 2009), also mit der erstmaligen Berechnung des 3. Quartals 2009, wird rückwirkend deutlich, dass der Aufschwung im 2. Quartal tatsächlich einsetzte. Auch hier ist der Verlauf der Originalreihe mit diesem Befund in Einklang. Mit dem 2. Quartal 2009 setzt das gewohnte saisonale Muster wieder ein.

Die nach BV4.1 berechneten Reihen verhalten sich in diesem Zeitabschnitt wesentlich diffuser. So weist der Berechnungsstand 26. August 2009 im 2. Quartal eine fallende Trend-Konjunktur-Komponente aus, der nächste Berechnungsstand ebenfalls für das 2. und sogar noch für das 3. Quartal. Erst mit der erstmaligen Berechnung des 4. Quartals 2009 (12. April 2010) deutet sich ex post für das 3. Quartal ein konjunktureller Tiefpunkt an, der sich erst mit weiteren Berechnungsständen in Richtung 2. Quartal zurückverlagert (was immer noch zu spät ist, wie ein Blick auf die Originalreihe zeigt). Auf diese Eigenheit der nach BV4.1 berechneten Trend-Konjunktur-Komponente bezieht sich offensichtlich auch der vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Hinweis für die Interpretation der Analyseergebnisse, wonach »eine zuverlässige Entwicklungsrichtung am Ende einer (…) Quartalsreihe – vor allem bei Konjunkturumschwüngen – in der Regel erst mit (…) 1 bis 2 Quartalen Zeitverzögerung zu erwarten ist.«6 Die Schlussfolgerung, die hieraus zu ziehen sei, lautet, »den aktuellen Verlauf der Trend-Konjunktur-Komponente nicht isoliert zu betrachten«: »Ein großer Unterschied zwischen dem aktuellen und dem vorherigen Schätzwert (…) am Reihenende (…) kann bereits auf eine Änderung der konjunkturellen Entwicklung hindeuten, auch wenn noch kein Richtungswechsel angezeigt wird.« Tatsächlich zeigt sich die Revisionsanfälligkeit der nach BV4.1 bereinigten Reihen an diesem konjunkturellen Wendepunkt auch für die bundesdeutschen BIP-Quartalswerte. So ging beispielsweise das nach BV4.1 saisonbereinigte bundesdeutsche BIP im 3. Quartal 2009 laut Berechnungsstand 24. November 2009 um 0,7 % gegenüber dem Vorquartal zurück. Gemäß aktuellem Berechnungsstand (23. November 2012) stieg der Wert um 0,2 %. Zum Vergleich: Der entsprechende X-12-ARIMA-Wert belief sich nach altem Berechnungsstand auf + 0,7 %, nach neuem auf + 0,8 %.7

Was tun?

Welcher Methode ist also für die baden-württembergische BIP-Quartalsrechnung der Vorzug zu geben? Vergleichbarkeit mit den Bundesergebnissen wäre ein formales, das Verhalten am konjunkturellen Wendepunkt des Jahres 2009 ein inhaltliches Argument, das für X-12-ARIMA spricht. Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass die Echtzeitdaten seit dem 2. Quartal 2009 noch bei weitem keinen vollständigen Konjunkturzyklus abbilden.8 Die konjunkturelle Situation in der 2. Jahreshälfte 2008 und zu Beginn des Jahres 2009 war kein normaler zyklischer Abschwung, sondern ein ökonomischer Schock, der von beiden Verfahren auch als solcher gehandhabt wird. Während X-12-ARIMA diese besondere Situation augenscheinlich besser verarbeitet hat, zeigen die Echtzeitdaten am aktuellen Rand keine solche Überlegenheit. Grund genug, die Ergebnisse von BV4.1 nicht zu verwerfen, sondern die Konjunkturberichterstattung zumindest vorläufig auf beide Verfahren zu stützen.

1 Auf die methodischen Hintergründe soll hier nicht eingegangen werden. Bezüglich BV4.1 finden sich Informationen bei Hans-Theo Speth; Komponentenzerlegung und Saisonbereinigung ökonomischer Zeitreihen mit dem Verfahren BV4.1, Wiesbaden 2004. Literatur zu X-12-ARIMA ist beispielsweise unter www.census.gov/srd/www/x12a/ aufgeführt (Abruf vom 3. April 2013).

2 X-12-ARIMA bietet dem Nutzer eine Vielzahl von Möglichkeiten, das Verfahren zu spezifizieren. Die Spezifikationen, die hier gewählt wurden, entsprechen denen, die auch das Statistische Bundesamt für die Zerlegung der BIP-Quartalsreihen des Bundes verwendet.

3 Pinkwart unternimmt dies für bundesdeutsche Werte. Der Analysezeitraum reicht vom 2. Quartal 1985 bis zum 2. Quartal 1989. (Nicolas Pinkwart; Zur Stabilität von Saisonbereinigungsverfahren: Eine Echtzeitdaten-Analyse am Beispiel BV4.1 und X-12-ARIMA, IWE Working Paper 02-2009).

4 Die Berechnungsstände der BIP-Quartalsberechnung für Baden-Württemberg orientieren sich an den entsprechenden Veröffentlichungsterminen des Bundes. Außerdem erfolgt immer dann eine Neuberechnung, wenn seitens des Arbeitskreises »VGR der Länder« neue Jahreswerte veröffentlicht werden.

5 Zwar sind auch diese Werte nicht in Stein gemeißelt. Durch Umstellungen der Wirtschaftszweigsystematik, wie sie in mehrjährigen Abständen vorgenommen werden, können sich selbst hier Änderungen ergeben. Von dieser Revisionsquelle soll aber hier abgesehen werden, da die BIP-Quartalswerte bislang durchgängig nach WZ 03 berechnet wurden.

6 Methodenpapier Zeitreihenanalyse des Statistischen Bundesamtes: www.destatis.de/DE/Methoden/Methodenpapiere/Download/Zeitreihenanalyse.pdf?__blob=publicationFile (Abruf vom 3. April 2013).

7 Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.3, 3. Vj. 2009 bzw. 3. Vj. 2012.

8 Theoretisch wäre es denkbar, dem abzuhelfen, indem frühere Berechnungsstände der BIP-Quartalsrechnung künstlich erzeugt werden. Allerdings wäre der Aufwand, frühere Wissensstände zu rekonstruieren, sehr hoch.