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Nichtversetzte 2002: Mädchen deutlich seltener betroffen

Gut 1,3 Mill. Schüler besuchen die rund 4 100 allgemein bildenden Schulen in Baden-Württemberg. Nicht alle dieser Schüler haben im Sommer 2002 das Klassenziel erreicht und sind versetzt worden. Die Quoten der Nichtversetzten an den hier untersuchten Schularten Grund-, Haupt- und Realschule sowie Gymnasium schwanken zwischen 1 % an den Grundschulen und 4,3 % an den Realschulen. Mädchen schneiden an allen untersuchten Schularten deutlich besser ab als Jungen. Bei jeder Schulart lassen sich eine oder zwei »kritische« Klassenstufen feststellen, die seit Jahren die höchsten Quoten an Nichtversetzten aufweisen. Zwischen den Stadt- bzw. Landkreisen Baden-Württembergs gibt es große regionale Unterschiede: So reicht beispielsweise die Spanne der Nichtversetzten-Quoten von 2,2 % im Landkreis Biberach bis zu 7,7 % in der Landeshauptstadt (Realschulen) bzw. von 2,1 % im Landkreis Rastatt bis zu 5,2 % im Landkreis Heilbronn (Gymnasien).

Immer wieder wird von der Politik – verstärkt nach den Ergebnissen der PISA-Studie – das System des »Sitzenbleibens« kritisiert und die Einführung einer individuellen Förderung der Schüler verlangt. Schüler, die das Klassenziel verfehlen und daher ein Jahr länger auf der Schule verweilen, kosten mehr Geld und – so der Vorwurf in einer Landtagsanfrage1 - brächten »in der Regel nicht den Anschluss an den Leistungsstand ihrer Klasse …«. Wie hoch ist tatsächlich der Anteil der Nichtversetzten an den baden-württembergischen Schulen? Wie ist die Entwicklung? Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede oder regionale Besonderheiten?

Nichtversetzte werden in der amtlichen Schulstatistik an den Schularten Grund-, Haupt- und Realschule, Gymnasium, an den drei Schulen besonderer Art und an der schulartunabhängigen Orientierungsstufe erhoben.2 Wegen vergleichsweise niedriger Schülerzahlen sollen hier die beiden letztgenannten Schularten aber nicht betrachtet werden. Zu den nicht versetzten Schülern zählen in der amtlichen Schulstatistik die Wiederholer (ohne freiwillige Wiederholer), aber auch Schüler, die auf eine Wiederholung der Klasse verzichten und die jeweilige Schulart verlassen.3

Anteil der Schüler, die nicht versetzt werden, an Realschulen am höchsten

Während von den 353 447 Grundschülern (ohne 1. Klasse) in Baden-Württemberg im Sommer 2002 lediglich 3 363 (1 %, wie auch im Vorjahr) die Klasse wiederholen mussten, liegt die Nichtversetzten-Quote an den weiterführenden Schulen deutlich höher. 5 516 (2,6 %, Vorjahr: 3,2 %) der 208 810 Hauptschüler (ohne Klassenstufe 10) und 8 377 (3,4 %, Vorjahr: 3,7 %) der 249 122 Gymnasiasten in den Klassenstufen 5 bis 11 haben am Ende des Schuljahres 2001/02 das Klassenziel nicht erreicht. Am höchsten ist der Anteil der Nichtversetzten an den Realschulen: Hier konnten am Ende des Schuljahres 2001/02 insgesamt 10 235 der 237 855 baden-württembergischen Realschüler nicht versetzt werden, was einer Quote von 4,3 % (Vorjahr: 4,7 %) entspricht. Trotz des generellen Rückgangs setzt sich die seit 1993 zu beobachtende Reihenfolge innerhalb der Schularten weiter fort: Die Realschulen stehen an der Spitze der Nichtversetzten-Quoten, gefolgt von den Gymnasien. An dritter Stelle stehen seit einem Jahrzehnt die Hauptschulen, die niedrigsten Quoten haben die Grundschulen (Schaubild 1). Dabei sind die Nichtversetzten-Quoten der Realschulen von 3,7 % im Jahr 1995 bis auf 4,7 % im Jahr 2001 mäßig, aber kontinuierlich angestiegen. 2002 ist an den Realschulen ein leichter Rückgang (0,4 Prozentpunkte) zu beobachten, ebenso wie an den Gymnasien (0,3 Prozentpunkte). Die Hauptschulen fielen im Jahr 2002 auf ihren niedrigsten Wert bei der Nichtversetzten-Quote seit 1994.

Mädchen erreichen das Klassenziel deutlich häufiger als Jungen

Betrachtet man männliche und weibliche Schüler getrennt, liegen die Nichtversetzten-Quoten an den Grundschulen mit 1,0 % bei den Jungen und 0,9 % bei den Mädchen recht eng beieinander. An den weiterführenden Schulen zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. So wurden an den Hauptschulen des Landes zum Ende des Schuljahres 2001/02 durchschnittlich 3,1 % der männlichen, aber nur 2,1 % der weiblichen Schüler nicht versetzt. Etwas größer fallen die Unterschiede bei den Geschlechtern an den Gymnasien aus: Hier haben 4,2 % der männlichen Schüler, aber nur 2,6 % der weiblichen Schüler das Klassenziel nicht erreicht. Die größte Spanne bei den Quoten der Nichtversetzten findet sich bei den hier betrachteten Schularten jedoch an den Realschulen. An dieser Schulart wurden durchschnittlich 5,3 % der männlichen Realschüler nicht versetzt, im Gegensatz zu 3,4 % der weiblichen (Schaubild 2).

An jeder Schulart gibt es »kritische« Klassenstufen

Wie bereits erwähnt, erreichen die Grundschüler das Klassenziel vergleichsweise häufig. 99 % von ihnen werden im Durchschnitt der Klassenstufen 2 bis 4 zum Ende des Schuljahres 2001/02 versetzt.4 Bei den weiterführenden Schulen ist die »Erfolgsquote« leider nicht mehr so hoch. Kann man dabei feststellen, ob es eine typische, eine »kritische« Klassenstufe gibt, in der die Schüler besonders gefährdet sind, das Klassenziel zu verfehlen?

In den letzten 10 Jahren waren die Nichtversetzten-Quoten an den Hauptschulen (Tabelle 1) in der Klassenstufe 8 oder 7 am höchsten. Hat ein Schüler dann aber den Sprung in die 9. Klasse geschafft, ist das Risiko einer Nichtversetzung wesentlich geringer. Dann sinken die Nichtversetzten-Quoten im Vergleich zur Klassenstufe 8 in manchen Jahren um fast die Hälfte oder mehr.

Auch bei den Realschulen lässt sich eine »kritische« Klassenstufe feststellen. In den letzten 10 Jahren weist hier die Klassenstufe 9 die höchsten Nichtversetzten-Quoten auf. Die Wahrscheinlichkeit einer Nichtversetzung nimmt an den Realschulen rapide ab, wenn man erst einmal die Klassenstufe 10 erreicht hat. Die niedrigsten Nichtversetzten-Quoten und damit die höchsten »Zielerreichungsgrade« finden sich sowohl an den Hauptschulen (Ausnahme: 1993) als auch an den Realschulen jeweils in der Klassenstufe 5.

An den Gymnasien Baden-Württembergs liegen die Nichtversetzten-Quoten in Klassenstufe 5 seit 10 Jahren sogar unterhalb der 1%-Marke. Über die letzten 10 Jahre scheint es bei Gymnasien vor allem die Klassenstufe 10 zu sein, bei der das Klassenziel nicht erreicht wird. Dies mag erstaunen, da ein erfolgreicher Abschluss dieser Klassenstufe mit der mittleren Reife verbunden ist.

Auffälliges Land-Stadt-Gefälle bei der Erreichung des Klassenziels

Spielt für die Nichtversetzten-Quote auch eine Rolle, in welchem Teil von Baden-Württemberg man die Schule besucht? Gibt es Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gegenden? Hier sollen die zwei Schularten mit den relativ höchsten Nichtversetzten-Quoten betrachtet werden: die Realschulen und die Gymnasien. Bei den Realschulen weist der Regierungsbezirk Stuttgart mit durchschnittlich 4,7 % die höchste Nichtversetzten-Quote auf, gefolgt vom Regierungsbezirk Karlsruhe mit 4,4 %. Der Regierungsbezirk Freiburg liegt mit im Schnitt 3,9 % Nichtversetzten an Realschulen auf etwas niedrigerem Niveau; die im Schnitt niedrigste Nichtversetzten-Quote hat aber der Regierungsbezirk Tübingen mit durchschnittlich 3,7 %.

Innerhalb der Regierungsbezirke schwanken die Nichtversetzten-Quoten allerdings sehr stark. Im Regierungsbezirk Stuttgart sind in den Landkreisen Schwäbisch Hall und Ostalbkreis jeweils nur 2,7 % der Realschüler nicht versetzt worden, in Stuttgart dagegen 7,7 %. Damit hat Stuttgart an den Realschulen die höchste Nichtversetzten-Quote aller Kreise. Auch im Regierungsbezirk Karlsruhe schwanken die Nichtversetzten-Quoten zwischen 2,8 % im Enzkreis und 7,2 % in Mannheim. Die Spanne im Regierungsbezirk Freiburg reicht von 2,9 % in den überwiegend ländlichen Landkreisen Emmendingen und Waldshut bis zu 6,7 % in Freiburg im Breisgau. Auffallend gering ist die Schwankungsbreite im Regierungsbezirk Tübingen: von 2,2 % im ländlich geprägten Kreis Biberach bis zu 5,0 % im Landkreis Reutlingen. Der Landkreis Biberach kann damit sogar die niedrigste Nichtversetzten-Quote aller Kreise an den Realschulen aufweisen (Tabelle 2).

An den Gymnasien schwanken die Nichtversetzten-Quoten ebenfalls zwischen den einzelnen Stadt- und Landkreisen. So liegen die Quoten im Regierungsbezirk Stuttgart zwischen 2,7 % im ländlichen Schwäbisch Hall und 5,2 % im Stadtkreis Heilbronn. Im Regierungsbezirk Karlsruhe kann der Landkreis Rastatt mit 2,1 % die – sogar landesweit – niedrigste Quote vorzeigen. Mannheim hat dagegen mit 4,8 % an den Gymnasien die höchste Quote an Nichtversetzten. Im Regierungsbezirk Freiburg schwanken die Anteile der Nichtversetzten an den Gesamtschülerzahlen nur zwischen 2,5 % in Tuttlingen und 3,8 % in Freiburg im Breisgau. Im Regierungsbezirk Tübingen reicht die Schwankungsbreite der Nichtversetzten-Quoten bei den Gymnasien von 2,5 % in den Landkreisen Biberach und Alb-Donau-Kreis bis 4,5 % im Stadtkreis Ulm.

Zumindest teilweise könnten die auf dem Lande vergleichsweise niedrigeren Übergangsquoten vor allem auf die weiterführende Schulart Gymnasium auch Auswirkungen auf den Erfolg der Schüler an diesen Schulen haben. So betrug im Schnitt der Jahre 1996 bis 2002 beispielsweise die Übergangsquote5 von der Grundschule auf ein öffentliches Gymnasium in Stuttgart 41,9 %, in Freiburg im Breisgau sogar 47,6 %. Im ländlich geprägten Landkreis Waldshut gingen dagegen im Durchschnitt derselben Jahre nur 22,8 % der Viertklässler auf ein öffentliches Gymnasium über, im ebenfalls ländlichen Landkreis Schwäbisch Hall 26,2 %. Ähnlich niedrig liegt die Übergangsquote auf ein öffentliches Gymnasium im Landkreis Tuttlingen mit 27,7 %. Vermutlich gehen in den ländlicheren Gebieten, wo die Fahrtzeiten doch oft verhältnismäßig lang sind und die Busverbindungen möglicherweise eingeschränkt sind, einige Schüler wirklich nur dann auf eine Realschule oder auf ein Gymnasium, wenn die Noten überdurchschnittlich gut sind. In städtischen Gebieten mit der relativ besseren Infrastruktur und vergleichsweise gutem öffentlichen Nahverkehrssystem besuchen vielleicht auch »Grenzkandidaten« Realschulen oder Gymnasien.6

Bei einem Vergleich zwischen den 9 Stadt- und den 35 Landkreisen Baden-Württembergs kommt man vereinfachend zu dem Ergebnis, dass in allen 9 Stadtkreisen die Nichtversetzten-Quoten an Realschulen über dem Landesdurchschnitt liegen und die Ränge 1 bis 6 (mit den anteilsmäßig meisten Nichtversetzten) von Stadtkreisen besetzt werden. Für die Gymnasien ist zwar keine derart eindeutige Aussage möglich, dennoch liegen 6 der 9 Stadtkreise über dem entsprechenden landesweiten Durchschnitt, und immerhin die vier ersten Plätze sind nur von Stadtkreisen belegt.

Zwar schwanken die Nichtversetzten-Quoten erwartungsgemäß von Jahr zu Jahr auf regionaler Ebene, aber ein Vergleich mit dem Vorjahr (Nichtversetzte 2001) zeigt, dass die Quoten an den Realschulen in 35 der 44 Kreise entweder gleich hoch oder höher waren. An den Gymnasien sind die Nichtversetzten-Quoten im Jahr 2001 in 24 Kreisen gleich hoch oder höher gewesen als im Jahr 2002. Damit schneiden zwar mit 20 Kreisen relativ viele auf den ersten Blick »besser« ab als im Jahr 2002, bei näherer Betrachtung erweisen sich diese Abweichungen in den meisten Fällen aber als vergleichsweise gering.7

1 Antrag Norbert Zeller u. a. SPD, Individuelle Förderung anstelle von Klassenwiederholungen, Landtags-Drucksache 13/2351.

2 Die im Weiteren verwendeten Daten umfassen – wenn nicht anders erwähnt – sowohl die öffentlichen wie die privaten Schulen.

3 Der theoretisch evtl. mögliche Fall, dass Schüler an der einen Schulart zwar nicht versetzt werden, dann aber auf eine andere Schulart wechseln und dort doch in die nächst- höhere Klassenstufe aufsteigen, ist hier also nicht berücksichtigt.

4 Ein Teil der Versetzten kann durchaus die Klasse auf freiwilliger Basis wiederholen.

5 Anzahl der Schüler, die tatsächlich auf ein Gymnasium gewechselt sind, im Verhältnis zur Anzahl der Schüler in Klassenstufe 4 nach Abschluss der Aufnahmeverfahren.

6 Allerdings ist der Zusammenhang Übergänger – Nichtversetzte z. B. im Kreis Rastatt gegenläufig: Rastatt hat trotz einer leicht überdurchschnittlichen Übergangsquote (33,9 % im Schnitt der Jahre 1996 bis 2002) an den Gymnasien die niedrigste Nichtversetzten-Quote des Landes. Für eine genauere Analyse müssten die Nichtversetzten-Quoten nach Klassenstufen den für diese Klassenstufen jeweils geltenden Übergangsquoten anhand von Individualdatensätzen für alle Kreise unter Einbeziehung der Grundschulempfehlung gegenübergestellt werden. Individualdatensätze werden aber in der amtlichen Schulstatistik bislang nicht erhoben.

7 In 8 Fällen (40 %) beträgt die Abweichung der Quoten lediglich 0,1 oder 0,2 Prozentpunkte, in 7 Fällen (35 %) 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte und nur in 5 Fällen (25 %) zwischen 0,6 und 0,9 Prozentpunkte.