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Die Renaissance der großen Städte

Jahrzehntelang haben sich die großen Städte und Ballungsräume wirtschaftlich ungünstiger entwickelt als die übrigen Regionen Deutschlands. Gegen Mitte der 90er-Jahre ist hier aber ein Trendwechsel eingetreten. Von 1998 bis 2002 expandierte die Beschäftigung in den Großstädten deutlich stärker als im Durchschnitt des Landes. Mit Zuwachsraten zwischen 8 % und 10 % wiesen München, Köln und Frankfurt am Main mit Abstand die höchste Dynamik auf, während in der größten deutschen Stadt, Berlin, die Beschäftigung um 2 ½ % zurückging. Träger des städtischen Wachstums sind die überregionalen Dienstleistungen wie Finanz- und Beratungsdienste, Medien und Tourismus. Diese Branchen wachsen um ein Vielfaches schneller als die Wirtschaft insgesamt. Sie bevorzugen nach wie vor urbane Zentren als Standorte. Ihre Konzentration auf die großen Städte nimmt eher noch zu.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus dem Wochenbericht Nr. 26/2003 des DIW Berlin. Das Statistische Landesamt dankt dem DIW für die Abdruckgenehmigung.

Suburbanisation – Deurbanisation – Reurbanisation

Die Siedlungsstruktur und die räumliche Arbeitsteilung in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern sind historisch durch die Industrialisierung wesentlich geprägt worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Städte zunächst weiter an Gewicht gewonnen.1 Ihre Einwohner- und Beschäftigtenzahlen stiegen schneller als die der ländlichen Regionen und auch stärker als die der Umgebungen der Städte. Die Konzentration auf urbane Zonen

– Urbanisierung – wurde in den 60er-Jahren abgelöst von einer Tendenz zur räumlichen Streuung, vor allem innerhalb der Ballungsgebiete. Die zunehmende Randwanderung

– Suburbanisierung – hatte zur Folge, dass Einwohner- und Beschäftigtenzahlen in den Kernstädten schwächer stiegen als in deren Umgebung. Viele Stadtregionen (Kernstädte und jeweiliges Hinterland) erreichten aber immer noch höhere Zuwächse als die weniger verdichteten Gebiete.

Dies änderte sich auch in den 70er-Jahren. Das Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum schwächte sich allgemein deutlich ab. Die meisten großen Städte erlitten Einwohnerverluste, und auch die Stadtregionen verloren an Gewicht gegenüber den übrigen Gebieten. Für diesen Rückgang des Verstädterungsgrades wurden Begriffe wie »De-Urbanisierung« geprägt. In der wissenschaftlichen und der politischen Diskussion wurde diese Entwicklung vielfach für den Beginn eines säkularen Dekonzentrationsprozesses gehalten, in dessen Verlauf die großen Städte einen dramatischen Niedergang erleben würden.2 Auch wenn sich solche Erwartungen in der Folgezeit nicht bestätigten, gingen die Beschäftigungsanteile der Großstädte und Ballungsräume weiter zurück. In den 80er-Jahren kam es zwar vorübergehend zu einer Abschwächung der Dekonzentration, zu Beginn der 90er-Jahre verstärkte sich aber der räumliche Strukturwandel zulasten der urbanen Zentren wieder.3 In Deutschland (West) ist der Anteil der großen Ballungsräume an der Gesamtbeschäftigung von 1980 bis 1995 von 48,7 % auf 47,1 % gesunken. Der Anteil der Kernstädte ging dabei von 23,8 % auf 21,8 % zurück, während derjenige des Ballungsumlandes um 0,4 % stieg. Berücksichtigt man dagegen auch qualitative Aspekte wie Beschäftigtenstruktur und Einkommensniveau, so zeigen sich deutlich geringere Positionsverluste für die Städte.4

Deutliche Beschäftigungsgewinne der großen Städte

Eine grundlegende Veränderung in der Entwicklung der räumlichen Arbeitsteilung trat gegen Mitte der 90er-Jahre ein. Der über Jahrzehnte anhaltende Prozess der Dezentralisierung kam zum Stillstand, in den letzten Jahren hat er sich sogar in sein Gegenteil verkehrt. Von 1998 bis 2002 nahm die Beschäftigung in den großen Ballungsräumen deutlich stärker zu als in Deutschland insgesamt (Schaubild 1). Noch bemerkenswerter ist, dass die Kernstädte, die lange Zeit die eindeutigen Verlierer im räumlichen Strukturwandel waren, die günstigste Entwicklung aufwiesen.

Die großen Städte dürften zwar besonders vom übersteigerten Boom der »New Economy« profitiert haben; darauf deutet zumindest die Beschäftigungsexpansion in den Jahren 2000 und 2002 hin. Dies allein kann aber die Posi-tionsverbesserung der Städte nicht erklären, denn im Jahre 2002, als in der Internetwirtschaft längst Ernüchterung eingekehrt war, stellten sich die alten räumlichen Entwicklungsmuster nicht einfach wieder ein. Der Beschäftigungsrückgang im Jahre 2002 gegenüber 2001 war in manchen großen Städten zwar stärker als in deren Umland, er war aber für die Städte insgesamt deutlich schwächer als in den übrigen Gebieten des Landes.

  • Von einem »New Urban Revival«5 zu sprechen mag angesichts der kurzen Beobachtungsperiode und der Beschränkung auf den Indikator Beschäftigung verfrüht erscheinen. Die hier präsentierten Daten liefern aber Hinweise darauf, dass die urbanen Zentren Deutschlands im Begriff sind, ihre Stellung in der räumlichen Arbeitsteilung zu stabilisieren und auszubauen. Allerdings gibt es dabei sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Städten. Es lassen sich drei Gruppen von Städten mit mehr als 500 000 Einwohnern bilden (Schaubild 2): In Hamburg, Düsseldorf, Köln, Frankfurt am Main, Stuttgart und München hat die Beschäftigung von 1998 bis 2002 stark expandiert. Aus der Gruppe heben sich Köln, Frankfurt und München als die mit Abstand dynamischsten Zentren noch einmal heraus.
  • Bremen sowie die drei Ruhrgebietsstädte Dortmund, Essen und Duisburg lagen mit ihrer Beschäftigungsentwicklung in der Nähe des nationalen Durchschnitt.6
  • Berlin ist die einzige Deutsche Großstadt, in der die Beschäftigung von 1998 bis 2002 deutlich zurückging.

Überregionale Dienstleistungen prägen städtisches Wachstum

Angesichts des veränderten räumlichen Entwicklungstrends stellen sich vor allem zwei Fragen:

  • Welche generellen ökonomischen Veränderungen können die Renaissance der großen Städte erklären?
  • Welche spezifischen Faktoren sind dafür verantwortlich, dass gerade die mit Abstand größte deutsche Stadt, Berlin, nicht an diesem Prozess teilnimmt?

Die aktuellen Wachstumsprozesse der Großstädte, nicht nur in Deutschland, lassen sich insbesondere durch einen Bezug zur »Theorie der Exportbasis« veranschaulichen.7 Nach diesem schon in den 50er-Jahren entwickelten Ansatz wird die ökonomische Bedeutung einer Stadt oder Region durch ihre Fähigkeit bestimmt, überregionale Nachfrage an sich zu binden.8 Je stärker der regionale Exportüberschuss steigt, umso größer ist das regionale Wachstum.

Traditionell wird die regionale Exportbasis mit der Warenproduktion gleichgesetzt. Damit wird unterstellt, dass Waren (materielle Güter) vorwiegend überregional abgesetzt werden, während Dienstleistungen für den lokalen Bedarf erbracht werden. Der historische Urbanisierungsprozess wie auch der Bedeutungsverlust der großen Städte seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Rückgang der in den Städten konzentrierten industriellen Massenproduktion sprechen auch wesentlich für die Industrie als Erklärungsfaktor der regionalen Strukturveränderungen.

Für die gegenwärtige Renaissance der Großstädte können allerdings Veränderungsprozesse in der Industrie kaum herangezogen werden. Die direkte ökonomische Bedeutung der Warenproduktion nimmt in allen großen Städten weiter ab. Die Gründe für den Trendbruch in den regionalen Entwicklungsmustern liegen vielmehr in der Ausweitung und der Diversifizierung der städtischen Exportbasis. Immer mehr werden auch Dienstleistungen überregional gehandelt. Das gilt auf der einen Seite für große Teile des Finanzsektors sowie die primär auf den Vorleistungsbedarf anderer Unternehmen ausgerichteten Beratungsdienstleistungen. Aber auch bei bestimmten auf die Endnachfrage der Haushalte bezogenen Dienstleistungen kann eine zunehmend überregionale Ausrichtung festgestellt werden. Hierzu zählen der Mediensektor sowie im Zusammenhang mit dem Tourismus weite Teile des Kulturbereichs und des Gastgewerbes.9 Insbesondere im Finanzbereich und im Mediensektor sind auch internetgestützte Geschäftsmodelle Motoren der neuen überregionalen Orientierung.

Die Beschäftigungsentwicklung in den letzten Jahren zeigt ein insgesamt hohes Entwicklungstempo in den Bereichen Finanzen, Beratung, Tourismus und Medien. Von 1998 bis 2002 nahm die Beschäftigung bei diesen überregionalen Dienstleistungen in Deutschland um 15 % zu – die Gesamtbeschäftigung dagegen nur um 1,3 %.

Von diesem Strukturwandel haben vor allem die Städte profitiert, in denen diese Sektoren am stärksten vertreten sind, zum Beispiel München, Köln und Frankfurt. Auch Hamburg, Düsseldorf und Stuttgart besitzen im Vergleich zu den übrigen Großstädten deutlich höhere Beschäftigtenanteile der überregionalen Dienstleistungen und weisen deshalb eine günstigere Beschäftigungsentwicklung auf.

In der Gesamtheit nimmt die räumliche Konzentration überregional orientierter Dienstleistungen auf die besonders wachstumsstarken Großstädte noch weiter zu. München, Frankfurt, Stuttgart, Köln, Düsseldorf und Hamburg konnten ihre Beschäftigung in der Summe überregionaler Dienstleistungen von 1998 bis 2002 um gut 20 % ausweiten (Tabelle). Im nationalen Durchschnitt und in den anderen Großstädten lagen die Zuwachsraten dagegen um ein Viertel niedriger. Der Wachstumserfolg der meisten großen deutschen Städte in den letzten Jahren ist wesentlich auf die herausragende Stellung und hohe Dynamik bei der Entwicklung überregionaler Dienstleistungen zurückzuführen. Das großstädtische Milieu mit seinen vielfältigen Kontakt- und Austauschmöglichkeiten bietet offensichtlich besonders günstige Bedingungen für die Unternehmen in diesen Branchen. Berlin als die mit Abstand größte deutsche Stadt fällt allerdings gegenüber den westdeutschen Wachstumszentren in der Dynamik der überregionalen Dienstleistungen deutlich zurück. Mit einem Zuwachs von knapp 15 % bezogen auf die Beschäftigung 1998 wird hier gerade einmal die Wachstumsrate für Deutschland insgesamt erreicht.

1 Boustedt, D.: Die Entwicklung deutscher Stadtregionen, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, Heft 2/1966, S. 179-202.

2 Vgl. z. B. Hall, P.G/Hay, D.G.: Growth Centres in the European Urban System, London 1980.

3 Zur Entwicklung in Deutschland vgl. Irmen, E./Blach, A.: Räumlicher Strukturwandel. Konzentration, Dekonzentration, Dispersion, in: Informationen zur Raumordnung, Heft 7/8, 1994, S. 445 ff. – Bade, F.-J./Niebuhr, A.: Zur Stabilität des räumlichen Strukturwandels, in: Jahrbuch für Regionalwissenschaft, Nr. 19, 1999, S. 131 ff.

4 Vgl. z. B.: Zur wirtschaftlichen Entwicklung in westdeutschen Ballungsräumen. Bearb.: Geppert, Kurt, in: Wochenbericht des DIW Berlin, Nr. 42/1996. – Haas, A./Möller, J.: Qualifizierungstrends und regionale Disparitäten, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Heft 2/2002, S. 139 ff.

5 Dieser Begriff wurde ursprünglich für die zwischen-zeitliche wirtschaftliche Erholung der Städte der USA in den 80er-Jahren geprägt; vgl. Frey, W.H.: The New Urban Revival in the United States, in: Urban Studies; Heft 4/5, 1993, S. 741 - 774.

6 Hannover wäre nach den bis zum Jahre 2001 vor-liegenden Daten in diese Gruppe der weniger dynamischen Städte einzuordnen.

7 Vgl. Buck, N./Gordon, I./Hall, P./Harloe, M./Klein-man, M.: Working Capital: Life und Labour in Contemporary London, London 2002.

8 Vgl. Andrews, R.B.: Mechanics of Urban Economic Base: Historical Development of the Base Concept, in: Land Economics, Vol. 29, 1953, S. 100.

9 Vgl. Gornig, M./von Einem, E.: Charakteristika einer dienstleistungs-orientierten Exportbasis, in: Bullinger, H.-J./Stille, F. (Hrsg.): Dienstleistungs-headquarter Deutschland. Wiesbaden 2000, S. 49 - 73.