:: 3/2004

Selbsttötungen in Baden-Württemberg und im übrigen Bundesgebiet

Der Tod durch eigene Hand findet allgemein starke Beachtung. Für Baden-Württemberg ist wie für das Bundesgebiet ein Rückgang festzustellen, der durch relativ einheitliche Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern getragen wird. Unverändert bleibt die Tatsache bestehen, dass Männer sich eher umbringen als Frauen und dass die Selbsttötungsrate beider Geschlechter mit zunehmendem Alter steigt.

Die Selbsttötung, auch Suizid oder meist – fälschlicherweise – Selbstmord genannt, ist ein Phänomen, das nicht nur Medien und Öffentlichkeit beschäftigt, sondern – das zeigt eine Vielzahl von Anfragen, die sich Jahr für Jahr an das Statistische Landesamt Baden-Württemberg richten – Forschung und Lehre, Beratungsstellen und Polizei. Es scheint eine besondere Faszination davon auszugehen, dass Menschen, aus welchen Gründen auch immer, den Endpunkt ihres Lebens selbst bestimmen, wo doch der Mensch dem Wesen nach dazu neigt, sich auch unter widrigsten Bedingungen an sein Leben zu klammern.

Dabei muss die Zahl der Selbsttötungen aus statistischer Sicht und hier insbesondere unter dem Aspekt der Verteilung in der Todesursachenstatistik als eine Art »Grundlast« unserer Gesellschaft gesehen werden. Dies gilt auch für Gesellschaften, deren religiöse Überzeugungen oder Traditionen den selbst und bewusst herbeigeführten Tod verbieten. Damit ist jedoch nicht die steigende Zahl der so genannten Selbstmordattentäter gemeint, die auf eine jenseitige Verheißung hin handeln mögen, deren Handeln aber nicht im klassischen Sinne als Selbsttötung zu verstehen ist, sondern als Opfertod. Glücklicherweise tauchen derart motivierte Todesfälle in unserer Statistik bislang nicht auf.

Weniger Selbsttötungen

Im Bundesgebiet schieden im Jahr 20011 insgesamt 11 156 Menschen freiwillig aus dem Leben. Das waren 2 855 derartige Sterbefälle weniger als noch im Jahre 1991. Auch in Baden-Württemberg ging die Zahl der Selbsttötungen zwischen 1991 und 2001 zurück, und zwar um 216 auf 1 499 Fälle. Dieser Rückgang vollzog sich vor dem Hintergrund eines kontinuierlichen Bevölkerungszuwachses. Bezogen auf 100 000 Einwohner des Landes starben im Jahr 1991 durch eigene Hand 17,3, im Jahr 2001 dagegen noch 14,2 Personen (− 18 %) (Schaubild). Betrug der Rückgang hier zu Lande gut drei Personen, waren es im gesamten Bundesgebiet sogar vier Personen. Hier waren es statt der 17,5 Fälle im Jahre 1991 nur noch 13,5 im Jahre 2001 (− 23 %). Der Rückgang im Bundesgebiet insgesamt übertraf bereits Mitte der 90er-Jahre den Baden-Württembergs. Dieses Absinken der Suizidrate Deutschlands unter die von Baden-Württemberg hat konkrete Ursachen.

Neue Bundesländer beeinflussen Gesamtergebnis …

Betrachtet man die Raten der Selbsttötungen in den Bundesländern im Jahre 1991, fallen neben den traditionell hohen Werten der Stadtstaaten Hamburg und Bremen die zum Teil noch deutlich höheren Ergebnisse der neuen Bundesländer auf. Alle rangierten erheblich über dem Bundesdurchschnitt. Auf etwa dem Niveau der beiden Stadtstaaten bewegten sich nur Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, alle mit Raten zwischen 20,6 (Hamburg) und 22,4 (Bremen). Schon mit merklichem Abstand darüber lagen die Ziffern von Thüringen (25,1) und Sachsen-Anhalt (26,3). Dagegen riss das Ergebnis des Freistaates Sachsen mit einer Selbsttötungsrate von 30,4 richtiggehend aus.

In den folgenden Jahren vollzog sich bei diesen Bundesländern ein Wandel, der sich auf das Bundesergebnis auswirkte. Bereits 1995 erreichten sowohl Brandenburg als auch Mecklenburg-Vorpommern Ergebnisse knapp unter dem Bundesdurchschnitt von 15,8 Fällen. Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen blieben dagegen deutlich darüber. Obwohl sich Sachsen ganz erheblich verbessern konnte (− 29 %), markierte es zusammen mit Sachsen-Anhalt mit einer Rate von jeweils 21,5 den Spitzenwert. Im Jahr 2001 etablierte sich Mecklenburg-Vorpommern recht deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, während Brandenburg seine günstige Position nicht zu behaupten vermochte. Sachsen-Anhalt verharrte trotz kräftigem Rückgang (− 37 %) ebenso wie Sachsen (− 40 %) weiterhin ein gutes Stück über dem inzwischen gesunkenen Bundesdurchschnitt, wobei Sachsen weiterhin mit der höchsten Rate aufwartete.

… aber nicht allein

Die beobachteten starken Rückgänge der Suizidraten der neuen Bundesländer waren nicht alleinige Ursache für den gesunkenen Bundesdurchschnitt. Vielmehr trugen auch die in den alten Ländern rückläufigen Raten zu diesem Ergebnis bei.

Sieht man von den Stadtstaaten einmal ab, waren hier in der Regel die Rückgänge weniger gravierend als in den neuen Ländern. Allerdings handelt es sich zum Teil doch um bevölkerungsreiche Länder, die das nun günstigere Ergebnis mitprägten. So konnte die mit 12,6 Fällen auf 100 000 der Bevölkerung bereits 1991 extrem niedrige Rate von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2001 auf 9,6 gesenkt werden (− 24 %). Kein anderes Bundesland hat bisher einen derart niedrigen Wert erreicht. Es konnte auch seinen Abstand gegenüber dem Saarland, das über die Vergleichsjahre hinweg auch mit recht niedrigen Ergebnissen aufwartete, vergrößern.

Gründe: Fehlanzeige

Die in der Nachwendezeit hohen Selbsttötungsraten in den neuen Bundesländern, die auch im Jahre 2001 noch mehrheitlich und zum Teil erheblich über dem Bundesdurchschnitt lagen, mögen zu mancherlei Mutmaßungen über Gründe und Hintergründe Anlass geben. Allerdings können die Ergebnisse der Todesursachenstatistik keinen Beitrag zur Klärung dieser Auffälligkeiten liefern.

Zieht man jedoch zum Vergleich Daten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert heran, fällt auf, dass – bei aller wegen des regional abweichenden Zuschnitts der damaligen Länder gebotenen Vorsicht – sich bestimmte Eigenarten über alle Zeitläufte hinweg erhalten haben. Sachsen hatte immer hohe Raten, und Westfalen wie das Rheinland scheinen so eine Art Insel der Glückseligen zu sein.2 Vermeintlich rasche Rückschlüsse erweisen sich also leicht als Trugschlüsse.

Aus der monokausalen Auswertung der Todesbescheinigungen allein lässt sich zum Beispiel auch nicht erklären, warum in Baden-Württemberg um die Mitte der 80er-Jahre die Suizidrate auf über 21 Fälle je 100 000 Einwohner anstieg, um danach bis 2001 auf den Wert von 14,2 zu sinken – wenn auch langfristig, so doch ein Rückgang von immerhin knapp 34 %.

Männer sind grundsätzlich gefährdeter

Im Gegensatz zu den – in den Ergebnissen der amtlichen Todesursachenstatistik fehlenden – Gründen dürfen anhand der Datenlage eindeutige Aussagen über die Rolle der Geschlechter im Hinblick auf den Freitod gemacht werden. So ist der Anteil der Männer an der absoluten Zahl der Selbsttötungen insgesamt immer höher als derjenige der Frauen. Eine Feststellung, die im Besonderen auf das doch aussagekräftigere Verhältnis der geschlechtsspezifischen Selbsttötungsraten zutrifft.

Mit Blick auf das zahlenmäßige Verhältnis der Suizidrate der Männer zu derjenigen der Frauen gibt es gegenüber dem Bundesdurchschnitt, der vom 2,4fachen (1991) über das 2,6- (1995) auf das 2,9fache (2001) gestiegen ist, in einzelnen Bundesländern doch auffallende Unterschiede. Zum Beispiel bewegte sich Baden-Württemberg, wenn auch nur leicht, um 0,1 über dem Bundeswert. Ganz ähnlich verhielt es sich in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Während Sachsen in allen drei Jahren mit 2,2 sowie 2,4 und 2,5 unter dem Bundesdurchschnitt blieb, lagen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit Werten über dem 3fachen kräftig darüber. Am deutlichsten traten die geschlechtsspezifischen Unterschiede in Mecklenburg-Vorpommern zu Tage, wo sich 1995 sogar 4,6-mal so viele Männer wie Frauen das Leben nahmen. Ansonsten liegen die Werte mit dem 3,1fachen etwa auf dem Niveau Brandenburgs (3- bis 3,4fach).

Beiden Geschlechtern ist allerdings gemein, dass jeweils in Bezug auf die männliche wie weibliche Bevölkerung mit zunehmendem Alter die Selbsttötungsrate ansteigt. Während sich die Rate der Männer auf Bundesebene im Jahre 2001 in den Altersgruppen zwischen 35 und unter 70 Jahren relativ stabil zwischen 21 und 28 je 100 000 Männer gleichen Alters hin und her bewegt, steigt sie danach rapide an, um in der Altersklasse von 85 bis unter 90 Jahren mit einer Rate von 99 ihren Höhepunkt zu erreichen (Tabelle). In der offenen Ausgangsaltersgruppe der über 90-Jährigen und Älteren sinkt die Rate wieder leicht ab.

Auch bei den Frauen ist – wenn auch auf einem sehr viel niedrigeren Niveau – ein ähnlicher Verlauf zu beobachten. Hier sind es ebenfalls die mittleren Altersgruppen, in denen relativ stabile Raten zwischen 3,9 bis 10,1 Suizidfälle auf 100 000 Fälle gleichen Alters auftreten. Ab der Altersgruppe 70 bis unter 75 Jahre steigt die Rate dann an, bis sie in der Altersgruppe der 85- bis unter 90-Jährigen die 25er-Marke erreicht.

Zum Vergleich herangezogen, ergaben die Werte Baden-Württembergs ein sehr ähnliches Bild. Allerdings bricht bei den Männern der Zuwachs nicht in der vorletzten Altersgruppe ab. In der offenen Ausgangsaltersgruppe der 90-Jährigen und Älteren wird mit einer Rate von 94,1 der höchste Wert erreicht. Bei den Frauen ist dagegen der Anstieg von den mittleren Altersgruppen an etwas flacher als im Bund.

Dieser Vergleich kann nur eine Momentaufnahme wiedergeben. Ein längerer Zeitvergleich für Baden-Württemberg allein zeigt, dass zwar die Zunahme der Sterberate durch Suizid mit steigendem Alter einer Gesetzmäßigkeit unterliegt, dass aber die Ausprägungen durchaus unterschiedlich stark ausfallen und besonders in den obersten Altergruppen heftigen Schwankungen ausgesetzt sein können.

Oft wird höhere Suizidrate vermutet

Bei manchen telefonischen Auskünften zu Anfragen bezüglich der Selbsttötungszahlen Baden-Württembergs vermeint man am anderen Ende der Leitung so etwas wie Überraschung auszumachen. Es wurde eine viel größere Fallzahl erwartet. Vor allem die niedrigen Raten bei Kindern und Jugendlichen scheinen zu verwundern, sind dies doch die Fälle, die häufig spektakulär durch die Presse gehen.

Dabei ist es doch höchst erfreulich, dass sich relativ wenige junge Menschen dazu entschließen, aus dem Leben zu scheiden und diesen Entschluss auch in die Tat umsetzen. Es ist ebenso erfreulich, dass bundesweit die Suizidrate sinkt und dass die neuen Bundesländer, so sie es noch nicht wie Mecklenburg-Vorpommern geschafft haben, den Bundesdurchschnitt sogar zu unterschreiten, doch auf einem guten Weg sind, sich ihm mit der Zeit anzunähern. Nichts zu ändern scheint sich dagegen bei der geschlechts- und altersspezifischen Suizidsterblichkeit, wenngleich geringe regionale Unterschiede zu beobachten sind.

1 Daten für Baden-Württemberg liegen bis 2002 vor. Der Rückgang der Selbsttötungen bestätigte sich hier auch für dieses Berichtsjahr. Auf Bundesebene waren zum Redaktionsschluss noch keine Ergebnisse für 2002 verfügbar.

2 Vgl. hierzu Cornelius, Ivar: Wandlungen der regionalen und sozialen Differenzierung des Suizids unter dem Einfluss wirtschaftlicher Bedingungen, in: Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Heft 6, Wiesbaden 1978.