:: 4/2004

Die Freien Waldorfschulen in Baden-Württemberg

Im Jahr 1919 wurde auf Initiative des Zigarettenfabrikanten Molt die erste Freie Waldorfschule in Stuttgart gegründet. Heute sind die Freien Waldorfschulen weltweit verbreitet. Allein in Baden-Württemberg gibt es im Schuljahr 2003/04 46 Freie Waldorfschulen mit rund 21 500 Schülern. Damit ist ca. jeder vierte Schüler einer Privatschule ein »Waldorfschüler«. Allen Schulen gemeinsam ist die pädagogische Ausrichtung nach den anthroposophischen Vorstellungen Rudolf Steiners. An den Waldorfschulen können sämtliche Bildungsgänge vom Hauptschulabschluss über den Realschulabschluss bis hin zur allgemeinen Hochschulreife erworben werden.

Die Anfänge in der Waldorf-Astoria

Die Freien Waldorfschulen haben ihren Ursprung den kulturellen Bestrebungen des ehemaligen Besitzers der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, Emil Molt (1876 – 1936), zu verdanken. Molt war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bemüht, seine »Waldorfleute« zu geistiger Arbeit und zum Lernen auf bisher fremden Gebieten anzuregen. Dies geschah durch verschiedene Kurse und Vorträge (zum Beispiel zu Betriebs- und Wirtschaftsfragen) in den Arbeitssälen. Es handelte sich dabei also vorwiegend um eine erzieherische Maßnahme für Erwachsene. Da viele dieser Erwachsenen sich aber mit dem Lernen schwer taten und das Interesse an den Kursen nachließ, setzte Molt sein Augenmerk auf die Kinder seiner Arbeiter. Sein Ideal war es, »den Kindern den Aufstieg zu einer Allgemeinbildung zu ermöglichen, unabhängig vom Vermögen der Eltern«. Im April 1919 bat Molt dann nach einem Arbeitervortrag den Begründer der Anthroposophie, Dr. Rudolf Steiner (1861 – 1925), die Einrichtung und Leitung der Schule zu übernehmen. Dazu stellte Molt 100 000 Mark zur Verfügung. Der sozialdemokratische Kultusminister Heymann zeigte sich nach den Angaben Molts erfreut über die Pläne einer ersten Einheitsschule. Für 450 000 Mark erwarb Molt persönlich mit der Stuttgarter Uhlandshöhe (einem ehemaligen Café) ein geeignetes Schulgebäude. Am 7. September 1919 konnte die (erste) Waldorfschule mit 200 Schülern und 8 Klassen feierlich eröffnet werden. Die Lehrkräfte waren im ersten Jahr noch Angestellte der Waldorf-Astoria. Kernpunkte der neuen Pädagogik waren: Lebendig werdende Wissenschaft, lebendig werdende Religion, lebendig werdende Kunst.1 Früh schon wurde Molts Grundgedanke einer Schule für alle sozialen Schichten, die jedes Kind aufnehmen sollte, unabhängig von seiner Herkunft, Nationalität und Konfession, getrübt. »Die Zusammensetzung der Schulelternschaft wurde bald mehr von Mitgliedern der anthroposophischen Bewegung und des Bildungsbürgertums als von den ursprünglich angesprochenen Arbeiterinnen und Arbeitern geprägt.«2

Recht zur Gründung einer Waldorfschule und Anspruch auf staatliche Zuschüsse bereits im Grundgesetz verankert

Die rechtliche Grundlage für die Gründung einer Waldorf- und aller anderen Privatschulen schafft zum einen Artikel 7 (4) des Grundgesetzes, der das Recht zur Errichtung von privaten Schulen gewährleistet. Zum anderen gilt für die Privatschulen das Gesetz für die Schulen in freier Trägerschaft (Privatschulgesetz- PSchG); das den öffentlichen Schulen zugrunde liegende Schulgesetz findet für sie nur Anwendung, soweit dies ausdrücklich bestimmt ist.3 Aufgabe der Schulen in freier Trägerschaft ist es nach § 1 PSchG, »als Ersatz- oder Ergänzungsschulen das Schulwesen des Landes zu bereichern. Sie ergänzen das Angebot freier Schulwahl und fördern das Schulwesen durch besondere Inhalte und Formen der Erziehung und des Unterrichts.« Die Privatschulen – und somit auch die Freien Waldorfschulen – unterstehen der Aufsicht des Staates.

Das Grundgesetz verpflichtet die Länder, die wirtschaftliche Existenzfähigkeit der genehmigten und anerkannten Ersatzschulen in ihrer Gesamtheit zu sichern und Zuschüsse zu gewähren. Die Bezuschussung der Schulen in freier Trägerschaft erfolgt entsprechend § 18 PSchG. Beispielsweise haben die Freien Waldorfschulen für das Jahr 2002 pro Schüler Zuschüsse in folgender Höhe erhalten:4

Klassen 1 bis 42 013,98 Euro
Klassen 5 bis 123 962,51 Euro
Klasse 134 100,56 Euro

Die restlichen Beträge zur tatsächlichen Kostendeckung müssen durch das Erheben von Schulgeldern und eventuell durch Spenden aufgebracht werden. Dabei beschränkt das Grundgesetz in Art. 7 (4) die Freien Waldorfschulen – wie alle Schulen in freier Trägerschaft – aber darauf, die Schulgelder nur in

sozial verträglichem Ausmaß festzusetzen, sodass »eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird«. Laut Internet-Information der Waldorfschule Uhlandshöhe5 werden die monatlichen Elternbeiträge »stets abhängig vom Einkommen in Absprache mit den Eltern festgelegt, um einen Schulbesuch nicht aus finanziellen Gründen scheitern zu lassen«. Als Regelsätze sind für 2002/03 dort monatliche Elternbeiträge in Höhe von Euro 204 (1 Schüler), Euro 316 (2 Schüler) bzw. Euro 413 (3 Schüler) genannt.

Zahl der Waldorfschüler in den letzten 20 Jahren um zwei Drittel gestiegen

Keine der Waldorfschulen in Deutschland hat den Nationalsozialismus überlebt. Im Mai 1951 gab es in Württemberg-Hohenzollern zwei Waldorfschulen mit insgesamt 112 Schülern, in Baden 1 Schule mit 355 Schülern und in Württemberg-Baden 6 Schulen mit 2 950 Schülern. Bundesweit wurden 12 Schulen mit 4 708 Schülern statistisch erfasst. Im Mai 1960 wurden in Baden-Württemberg bereits 3 992 Waldorfschüler gemeldet. 10 Jahre später hatte sich die Zahl der Waldorfschüler um ein Drittel erhöht. Seit dem Anfang der 60er-Jahre können die baden-württembergischen Waldorfschulen jedes Jahr eine steigende Schülerzahl aufweisen. Dies war selbst in den 80er-Jahren so, als viele andere Privatschulen (vor allem die Gymnasien) mit rückläufigen Schülerzahlen zu kämpfen hatten. In den letzten 20 Jahren konnten die Freien Waldorfschulen ihre Schülerzahlen um fast zwei Drittel (64 %) steigern. Die anderen Schulen in freier Trägerschaft (Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen sowie Gymnasien) haben im selben Zeitraum nur um 37 % zugelegt. Demgegenüber ist die Anzahl der Schüler an den öffentlichen allgemein bildenden Schulen in den letzten 20 Jahren nur um 6 % gestiegen.6 Heute (Schuljahr 2003/04) besuchen 21 529 Schüler eine der 46 Freien Waldorfschulen7 in Baden-Württemberg. Damit ist ca. jeder vierte »Privatschüler« auf einer Waldorfschule (vor 10 Jahren lag dieser Anteil noch bei 28 %, vor 5 Jahren bei 27 %) (Schaubild 1). Der Anteil der Waldorfschüler an den Schülern insgesamt (öffentliche und private allgemein bildende Schulen) liegt freilich nur bei 1,6 %. Bundesweit gab es im Schuljahr 2002/03 rund 72 000 Waldorfschüler bei ca. 9,7 Mill. Schülern insgesamt an allgemein bildenden Schulen (ohne 2. Bildungsweg).

Jahrgangsklassen ohne Noten und Sitzenbleiben sind Grundelemente der Waldorfpädagogik

Wenn auch der Anteil der Waldorfschüler an den insgesamt an Privatschulen unterrichteten Schülern tendenziell in den letzten 10 Jahren leicht rückläufig ist, signalisiert die jährlich steigende Schülerzahl doch ein weit verbreitetes Interesse an der pädagogischen Methodik Rudolf Steiners. Zu den Grundelementen der Waldorfpädagogik gehören:

  • Gesamtschulprinzip
  • Jahrgangsklassen ohne Noten und Sitzenbleiben (in der Regel Prinzip der Klassengemeinschaft bis zum Ende der 12. Klasse, in der Unter- und Mittelstufe Zeugnisse in Form einer ausführlichen schriftlichen Beurteilung)
  • Klassenlehrerprinzip (möglichst der gleiche Lehrer von Klasse 1 bis 12)
  • Epochenunterricht (Blockunterricht)
  • Im Allgemeinen ab der 1. Klasse 2 Fremdsprachen
  • Betonung des handwerklichen und künstlerischen Unterrichts
  • Entwicklung von Individualität und Teamfähigkeit.

»Unverrückbares Charakteristikum aller Waldorfschulen und Grundlage für ihre pädagogische Methodik ist letztlich die Anthroposophie mit ihren Vorstellungen vom Wesen des Menschen und seiner Entwicklung…«8

Geringer Ausländeranteil und große Klassenstärken in Klasse 1 bis 4

Die Mädchen halten an den Waldorfschulen einen bemerkenswert konstanten Anteil von 52 % über die letzten 10 Jahre hinweg. Ausländische Schüler gibt es dagegen an den Freien Waldorfschulen, wie an den Privatschulen überhaupt, nur sehr wenige. Ihr Anteil ist im Schuljahr 2003/04 mit lediglich 3,2 % genauso niedrig wie im Vorjahr. Dagegen belief sich der Ausländeranteil an öffentlichen allgemein bildenden Schulen im vergangenen Schuljahr auf 13,1 %, an den privaten auf 4,6 %. Die durchschnittliche Klassenstärke an einer Waldorfschule liegt im aktuellen Schuljahr ebenso wie im Vorjahr bei 23,1 Schülern pro Klasse (Tabelle). Die ersten vier Klassenstufen mit im Schnitt 30,4 Schülern im Schuljahr 2003/04 (Schuljahr 2002/03: 33,8) erscheinen dagegen vergleichsweise hoch. So betrug die durchschnittliche Klassengröße an den öffentlichen Grundschulen im Schuljahr 2002/03 nur 22,0, an den privaten 22,4 Schüler pro Klasse.

Fast die Hälfte der Abgänger verlassen die Waldorfschule mit Abitur

Die an einer Waldorfschule erzielbaren Abschlüsse reichen vom Hauptschulabschluss bis hin zur allgemeinen Hochschulreife. Im Sommer 2003 haben 3,5 % der Abgänger die Waldorfschule ohne Abschluss verlassen, 6,9 % mit dem Hauptschulabschluss und 26,6 % mit dem Realschulabschluss. Die Fachhochschulreife erlangten 17,6 %, die allgemeine Hochschulreife 45,5 % der Abgänger (Schaubild 2). Allerdings werden einige dieser Abschlüsse häufig später erreicht als an anderen Schularten: Von den Abgängern mit Hauptschulabschluss verließen 42 % die Waldorfschule nach Beendigung der 10. Klasse, 26 % erst nach dem Besuch der 11. Klasse . Selbst nach 12-jährigem Schulbesuch wird der Hauptschulabschluss nicht »automatisch« anerkannt, sondern nur nach bestandener Prüfung. Der Realschulabschluss wird in Baden-Württemberg meist erst nach der 12. Klassenstufe erreicht, wobei dies mit der zentralen Abschlussprüfung des Landes zusammenhängt. Dass fast zwei Drittel (65 %) der Abgänger die Fach- oder Hochschulreife erzielen, mag vielleicht doch auch am höheren Bildungsniveau / beruflichen Status der Waldorfeltern mit den entsprechenden Erwartungen an die Abschlüsse ihrer Kinder liegen.9

Insgesamt präsentieren sich die Freien Waldorfschulen in Baden-Württemberg als alternative pädagogische und durchaus gleichwertige Ergänzung des staatlichen Schulsystems. Viele Grundelemente der Waldorfpädagogik finden sich inzwischen auch an anderen Schularten: Förderung der Teamarbeit, fächerübergreifender Unterricht, Verzicht auf Notengebung in den unteren Klassenstufen, Fremdsprache ab der 1. Klasse. Allerdings kann die oft zitierte Aufnahmegarantie für jedes Kind – unabhängig vom Einkommen der Eltern – nur so lange funktionieren, wie »besser gestellte« Eltern bereit sind, dies solidarisch zu finanzieren.

1 Vgl. Molt, Emil: Von der Gründung der freien Waldorfschule, August – September 1919, Privatdruck, 1938.

2 Kleinau-Metzler, Doris (Hg.): Die Zukunft der Waldorfschule, Reinbek 2000, S. 10 (Zitierweise: Die Zukunft der Waldorfschule).

3 Gesetz für die Schulen in freier Trägerschaft (Privatschulgesetz – PSchG) in der Fassung vom 1. Januar 1990 (GBl. S. 105), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 25. Juli 2000 (GBl. S. 534); Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) in der Fassung vom 1. August 1983 (GBl. S. 397; K.u.U. S. 584), zuletzt geändert durch: Änderungsgesetz vom 11. Dezember 2002 (GBl. S. 476); vgl. zu Gesetzesgrundlage und Finanzierung: Schwarz-Jung, Silvia: Privatschulen in Baden-Württemberg – Die bessere Alternative?, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl, Heft 3/2003, S. 99 f.

4 Vgl. Landtag von Baden-Württemberg, Drucksache 13/1188 vom 16. Juli 2002.

5 Vgl. Homepage der Waldorfschule Uhlandshöhe, Stuttgart: www.uhlandshoehe.de; die Freie Waldorfschule Heidelberg strebt laut Homepage (www.waldorfschule-hd.de) einen Mittelwert von 200 Euro pro Schüler und Monat an, wobei diese auch hier mit den Eltern in vertraulichen Gesprächen vereinbart werden.

6 Alle Angaben ohne 2. Bildungsweg. Bei der Berechnung der Schülerzahlentwicklung wurden für das Jahr 2003/04 bei allen Schularten außer den Waldorfschulen vor-läufige Werte verwendet.

7 Als Freie Waldorfschulen werden hier die Einheits- bzw. Gesamtschulen gezählt; Sonderschulen, die auf anthroposophischer Grundlage arbeiten, sind nicht berücksichtigt.

8 Kleinau-Metzler, D.: Die Zukunft der Waldorfschule, S. 13.

9 Kleinau-Metzler, D.: Die Zukunft der Waldorfschule, S. 53.