:: 7/2004

Gewinnt Südwestindustrie weiter an Boden?

Baden-Württemberg, gerühmt für seine landschaftlichen Reize, Gourmet-Tempel, das beste Opernhaus der Republik und die meisten Hoch-schulen, ist nach Nordrhein-Westfalen (NRW) das am stärksten industrialisierte Bundesland. Das Land ist stolz auf die Vielfalt und Stärke seines Verarbeitenden Gewerbes. Es scheint sogar, dass die baden-württembergische Indus-trie ihre Stellung innerhalb Deutschlands in den letzten Jahren weiter verbessern konnte. Die Verbesserung basiert allerdings fast aus-schließlich auf der Entwicklung des Fahrzeug-baus.

Ein Fünftel der industriellen Arbeitsplätze, aber nur ein Achtel der Bevölkerung

Baden-Württemberg stellt ein Fünftel aller industriellen Arbeitsplätze1 in Deutschland, aber nur ein Achtel der Bevölkerung (vgl. Tabelle 1). Nach der Zahl der Arbeitsplätze ist das Land in fünf der 15 industriellen Wirtschaftszweige sogar für die Bundesrepublik prägend (vgl. Tabelle 2). Dargestellt wird dies im Schaubild durch die Prägnanz, die den Anteil der in einer Branche Beschäftigten an allen in dieser Branche in Deutschland Beschäftigten wiedergibt. In erster Linie ist dies der Maschinenbau, gefolgt vom Fahrzeugbau und der »Herstellung von Büromaschinen, Datenverarbeitungsgeräten und -einrichtungen; Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik«. Diese Zweige bieten weit über die Hälfte der industriellen Arbeitsplätze in Baden-Württemberg. Fahrzeugbau und Maschinenbau spielen außerdem für den Arbeitsmarkt des Landes eine positive Rolle. Letztere schufen zwischen 1998 und 2003 gut 27 000 neue Arbeitsplätze, darunter über 23 000 allein im Fahrzeugbau. Die gesamte andere Industrie baute dagegen im selben Zeitraum über 56 000 Arbeitsplätze in Baden-Württemberg ab.

Einer positiven Entwicklung für den Arbeitsmarkt scheinen jedoch Grenzen gesetzt zu sein. Viele Unternehmen finden nur schwer qualifiziertes Fachpersonal. Die – schon fast vergessene – Green Card, Überstunden und mit 13 % der höchste ausländische Bevölkerungsanteil in einem Flächenstaat (9 % in Deutschland) sind äußere Anzeichen für aufkommende ökonomische, demografische und arbeitssoziale Probleme. Unternehmer aus den meisten Industriezweigen beklagen zudem das hohe Lohnniveau.

Letztlich führten die genannten Standortprobleme in jüngerer Zeit zu einer Verlagerung von Arbeitsplätzen zum Beispiel in die östlichen EU-Länder oder zu Betriebsaufgaben. In der Folge verlor das Land zwischen 1998 und 2003 fast 28 000 industrielle Arbeitsplätze.

Die zum Teil dramatische Entwicklung belegt – immer noch – die ehemals das Land prägende Textil- und Bekleidungsindustrie. Diese hat ihren Stellenwert für den heimischen Arbeitsmarkt verloren (vgl. Schaubild). Dargestellt wird dies durch die Dominanz, die den Anteil der in einer Branche Beschäftigten an allen Beschäftigten in Baden-Württemberg wiedergibt. 1950 fanden in den 32 000 Arbeitsstätten des Textil- und Bekleidungsgewerbes noch eine viertel Million Menschen eine Arbeit. In den Jahren 1998 bis 2003 wurden weitere 11 000 Arbeitsplätze abgebaut, sodass 2003 dort gerade noch 34 000 Menschen beschäftigt sind. Nicht verloren hat die Textil- und Bekleidungsindustrie ihre überregionale Bedeutung. Heute werden von vielen Betrieben Garne, Stoffe und Bekleidungsartikel zwar im »billigeren« Ausland hergestellt bzw. verarbeitet, Management und Marketing verblieben aber im Land. Statt Stricker, Wirker, Zuschneider und Näherinnen werden CAD-Designer, Controller, Informatiker, Produktmanager und Außenhandelsspezialisten benötigt. Ähnlich verhält es sich in vielen lohnintensiven Branchen.

Jüngere Entwicklung mit widersprüchlichen Tendenzen

Von 1998 bis einschließlich 2003 zeigten sich in der Bundesrepublik, in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg unterschiedliche Entwicklungen:

Der Erfolg auf den ausländischen Märkten schlägt sich in Baden-Württemberg in einem beeindruckenden Plus von 39 % nieder. Dieser Zuwachs war zehnmal so hoch wie jener auf dem deutschen Binnenmarkt. Beim Gesamtumsatz konnte das Land knapp mit der bundesweiten Entwicklung Schritt halten. Die Löhne und Gehälter stiegen um gut ein Zehntel und die Zahl der Betriebe und der industriellen Arbeitsplätze blieb in Baden-Württemberg fast konstant.

Ein Blick auf Nordrhein-Westfalen zeigt, dass der dortige Strukturwandel viel tiefere Einschnitte brachte; jeder zehnte industrielle Arbeitsplatz ging verloren, dafür nahm die Zahl der Betriebe zu. Die Löhne stagnierten mehr oder weniger. Insgesamt erreichte Nordrhein-Westfalen ein Umsatzwachstum, das nicht einmal halb so hoch war wie im bundesweiten Durchschnitt.

Schaffe, schaffe, spare…

Diese dem Land nachgesagten Eigenschaften scheinen ihren Stellenwert nicht verloren zu haben. Denn im nur kurzen Zeitraum von 1998 bis einschließlich 2003 haben sich bei einigen der obigen Indikatoren die Regionalanteile an der Bundesrepublik zum Teil beachtlich verschoben:

Bemerkenswert ist, dass der baden-württembergische Anteil an den insgesamt in Deutschland gezahlten Löhnen und Gehältern um 0,6 Prozentpunkte wuchs, während der Anteil an den Inlandsumsätzen um 0,6 Prozentpunkte sank. Vordergründig scheint es, dass die Konsum- und Investitionszurückhaltung kaum im Einklang mit den Löhnen und Gehältern stehen, die in der baden-württembergischen Industrie gezahlt werden. Tatsächlich ist es aber die erfolgreiche Weiterentwicklung zum Hochtechnologiestandort. Wie Eurostat jüngst feststellte, ist der Regierungsbezirk Stuttgart die mit Abstand führende Hightech-Region in Europa. In diesen Industriebereichen wird schlicht besser bezahlt.

1 … in Betrieben von Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes mit in der Regel mehr als 20 Beschäftigten.