:: 7/2004

Wozu in die Zukunft schauen?

Wenn Statistiker den demografischen Kollaps voraussagen und dieser dann tatsächlich eintrifft, weil niemand korrigierend eingegriffen hatte, oder wenn sie voraussagen, dass im Jahr 2012 die Ausbildungskapazitäten knapp werden, weil im selben Jahr gleich zwei Abiturjahrgänge entlassen werden und infolgedessen die Universitäten überfüllt sind und die Lehrstellen ausgehen, weil niemand beizeiten vorbeugend reagiert hatte, so kann man diese Fehlentwicklungen nicht den Statistikern anlasten. Ursächlich für sie ist vielmehr, dass die wichtigen Zahlen nicht von den richtigen Leuten zur richtigen Zeit und am richtigen Platz zur Kenntnis genommen wurden und damit die erforderlichen Gegenmaßnahmen ausblieben. Kurz: »Es ist geschehen, weil nichts geschehen ist.«

Im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Gesetzen, die letztlich auch nichts anderes als Prognosen sind, haftet gesellschaftswissenschaftlichen Prognosen immer etwas Spekulatives an – sie lassen sich nicht durch Versuche verifizieren. Dazu kommt, dass die bei gesellschaftswissenschaftlichen Modellen und Prognosen üblichen nicht erklärbaren Reste, etwas voreilig auch Zufallsfehler genannt, Raum für weitere Hypothesen und für Handlungsalternativen zulassen. Durch ökonometrische Techniken wird seit Jahrzehnten versucht, Parameter für das wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Geschehen zu bestimmen. Damit sollen letztlich Instrumentarien geschaffen werden, die es erlauben, das künftige Geschehen wenigstens teilweise zu erkennen und vorbeugend zu beeinflussen.

Gute Rahmenbedingungen für amtliche Prognosen

Die Nachfrage nach Prognosen ist ungebrochen. Gerade in Zeiten politischer Orientierungsschwäche, bei unsicheren Zukunftsaussichten, bei fehlenden oder nicht allgemein akzeptierten Zielen und Werten verstärkt sich der Ruf nach vorausschauenden Analysen. Zudem verfügt die amtliche Statistik heute über eine größere Anzahl von Datenquellen, über mehr aufbereitete Daten, über mächtigere Rechenanlagen, leistungsfähigere Rechenprogramme und über mehr qualifiziertes Personal als in früheren Jahrzehnten.

Diese vorteilhaften Rahmenbedingungen gelten auch für viele andere Einrichtungen, für Hochschulinstitute, Consultingbüros, Ressorts, größere Kommunen und eine Vielzahl sonstiger Behörden mit wissenschaftlichen Aufgaben. Der Softwaremarkt bietet zudem leistungsfähige PC-Programme an, mit denen jeder Interessierte komplexe Berechnungen und damit auch Prognosen durchführen kann. Das hat zur Folge, dass an die Öffentlichkeit zu einem Sachverhalt zunehmend unterschiedliche Informationen von mehreren Institutionen gelangen – unterschiedlich, weil die Modellannahmen variieren, weil die Verfahren voneinander abweichen, weil manche Ergebnisse mehr aus einem (wissenschaftlichen) Spieltrieb heraus entstehen als aus dem behutsamen Umgang mit mächtigen Analysewerkzeugen. Aus der Sicht des Verfassers wird sich die Prognosetätigkeit in eine falsche Richtung entwickeln, wenn wenig qualifizierte Personen nach der Eingabe einiger Variablenwerte durch wenige Tastendrucke oder »Mausbewegungen« die erfassten Werte mit sehr sensitiven Methoden wie der Faktoren- oder der multiplen Regressionsanalyse bearbeiten, ohne über die Empfindlichkeit derartiger Verfahren Bescheid zu wissen. So suchte eine Architektin (!) beim Statistischen Landesamt vor Jahren Rat, wie sie die Konfidenzintervalle bei einer Prognose berechnen könne, da der Auftraggeber »irgend etwas mit Alpha* oder Beta* haben wolle«, ???-, und wenn man in entsprechenden Beiträgen das Wort »Algorhythmus« findet, spricht das für sich.

Die Vielzahl von Prognosen und deren zum Teil aggressive Vermarktung verunsichert jene, die mit den Ergebnissen umgehen müssen, und bringt letztlich die Prognosetätigkeit in Misskredit. Wie sich das auswirken kann, zeigen die vielen misslungenen Wahlprognosen der letzten Jahre – mag es im Nachhinein dafür Erklärungen geben, der Glaubwürdigkeit der prognostizierenden Wissenschaft dient diese Entwicklung in keinem Falle. Dies ist umso bedauerlicher, da es nicht einmal das Ziel der Prognostiker sein sollte, »Recht zu behalten« denn ....

... wenn Prognostiker immer Recht behielten, schliefe die Gesellschaft

Es gibt gutmeinende Kollegen und böswillige Journalisten, die gerne und mit heimlicher Freude oder mit erhobenem Finger auf nicht eingetroffene Prognosen hinweisen. Status-quo-Prognosen, wie sie bevorzugt von der amtlichen Statistik erstellt werden, werden dabei besonders gerne kritisiert – zu Unrecht, sagen doch sie gerade »was geschieht, wenn nichts geschieht«. So hatten die statistischen Ämter schon in den frühen 70er-Jahren, als die Kinder der geburtenstarken Jahrgänge gerade zur Schule gingen, auf die zu erwartende Überalterung der Bevölkerung sowie – daraus abgeleitet – auf die Perioden der Schülerberge, der Lehrerschwemmen und des Lehrermangels hingewiesen. Die amtliche Statistik wäre wohl schon dadurch ihr Geld Wert, wenn es der Gesellschaft gelänge, Prognoseerkenntnisse so zu nutzen, dass ungewollte Ereignisse – wie Überangebote oder Defizite von Lehrern, nicht einträten – das heißt, die Prognosen sich nicht bewahrheiteten. Andererseits freut es jeden Prognostiker, wenn er »Recht hatte«. Es ist aber manchmal der Kummer der Kassandra, der Zeus zwar die Kraft der Weissagung gab, ihr die Gabe der Überzeugung aber versagte. Es ist daher müßig aufzuzeigen, wo langfristige Prognosen eingetroffen sind oder wo nicht. Die Frage müsste lauten, wo und ab wann haben Prognosen gewirkt und wo wurden sie ignoriert? So dauerte es fast 20 Jahre, bis die Politik sich des demografischen Wandels annahm und jetzt gesetzgeberisch zu reagieren versucht.

Prognosetätigkeit des Statistischen Amtes

Als die Planungseuphorie Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre einen Höhepunkt erreichte, erhielt das Statistische Landesamt im Jahr 1973 unter seinem Präsidenten Szameitat von der Landesregierung den Auftrag, die demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen für den Zeitraum von 1970 bis 1985 zusammenfassend, das heißt nach Möglichkeit in einem Modell, vorauszuschätzen. Den planenden Institutionen sollten systematische, umfassende, widerspruchsfreie und zwischen den verschiedenen Fachplanungen abgestimmte Daten und Instrumentarien an die Hand gegeben werden. Das Modell sollte darüber hinaus Teil des damals konzipierten Informationssystems für Baden-Württemberg werden. Im ersten »Statistischen und prognostischen Jahresbericht« von 1973 fanden die Bestrebungen einen Niederschlag mit Berechnungen zur voraussichtlichen Entwicklung der Bevölkerung sowie mit Vorausschätzungen der Schüler und Studierenden, der Erwerbspersonen, der wirtschaftlichen Entwicklung und mit einigen finanzwirtschaftlichen Eckwerten jeweils bis 1985. Zum angestrebten Prognosesystem, zur weiterführenden Verknüpfung der Prognoseteile und damit zum einheitlichen Modell ist es nicht gekommen. Im Jahr 2003 wurde der Bericht eingestellt.

Parallel zu den Arbeiten des Statistischen Landesamtes ließ die Landesregierung eine »Systemanalyse zur Landesentwicklung Baden-Württemberg« durch die Firmen Dornier System, Prognos und die Forstwissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg erstellen. Ziel war es insbesondere, regionale Entwicklungstendenzen rechtzeitig zu erkennen und ein Instrumentarium zur Vermeidung von Fehlentwicklungen bereitzuhalten. Auch das dort entwickelte System, an dem das Statistische Landesamt intensiv mitarbeitete, fand keine Fortsetzung im Sinne einer vorausschauenden Raumbeobachtung.

Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg verwendet trotz der fehlenden wissenschaftlichen und sprachlichen Abgrenzung (vgl. i-Punkt) bevorzugt den Begriff Vorausrechnung.

Auf die Frage »Warum Prognosen?« lässt sich kaum eine schlüssige Antwort geben. Es dürfte aber unwidersprochen bleiben, dass sie problematisieren, laufende Entwicklungen bewusster machen und in günstigen Fällen Handlungsbedarf anzeigen. Lösungen können von ihnen nicht erwartet werden.