:: 8/2004

»Wir können alles außer Hochdeutsch« …

… behaupten manche Baden-Württemberger – etwas verschämt – von sich und ihrem Land, und das insbesondere im technischen Bereich. Auf den ersten Blick scheint das auch so zu sein, denn das Verarbeitende Gewerbe hat in den vergangenen Jahrzehnten seine Position scheinbar ohne große Brüche gehalten. Tatsächlich gab es aber beträchtliche sektorale und regionale Strukturveränderungen.

In der »Gründerzeit« des späten 19. Jahrhunderts etablierten sich im Badischen wie im Württembergischen vor allem verarbeitende Industrien, wie die Textil-, Leder- und Bekleidungsindustrie. Die Rohstoffe stammten zu erheblichen Teilen aus den Ländern selbst oder sie wurden vor allem aus britischen Kolonien eingeführt, wie beispielsweise Baumwolle und Jute. Während dieser Industriealisierungsphase entwickelten sich zunächst langsam, dann immer dynamischer Metall verarbeitende Fabrikationen, in denen auch jene Maschinen entwickelt und produziert wurden, die zur Erzeugung der Konsumgüter erforderlich waren.

Das für den Südwesten typische »Facharbeitertum« und ein weit gehend calvinistisch-pietistisch geprägtes Unternehmertum waren die Wurzeln für die heute noch vorhandene Industrielandschaft. Nur finden wir heute kaum noch die ursprünglichen Industriezweige, stattdessen Hightech-Unternehmen und die in Deutschland größte Dichte von Patentanmeldungen.

Baden-Württemberg gehört heute zu den wohlhabendsten Ländern in Deutschland und zu den am stärksten industrialisierten Regionen Europas. Dies ist angesichts der Lage in Baden und in Württemberg zu Beginn des 19. Jahrhunderts verblüffend. Beide Staaten gehörten damals zu den sehr armen Ländern. Die Länder waren überwiegend von der Landwirtschaft geprägt, meist herrschte das Erbrecht der Realteilung vor, das nur kleine und unrentable Bauernhöfe erlaubte. Ergiebige Bodenschätze gab es kaum noch und die großen Verkehrs- und Handelsstraßen verliefen anderswo.

Während sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts an der Saar, an der Ruhr oder in Oberschlesien die Montanindustrie entwickelte, »veredelte« das Verarbeitende Gewerbe in Baden und Württemberg weit gehend land- und forstwirtschaftliche Produkte sowie Steine und Erden – Wollen, Felle, Därme, Federn, Hölzer, Stroh, Gräser, Nahrungsmittel sowie Tone, Lehm, Quarzsande (Schaubild 1). Diese verarbeitenden Branchen boten vor 125 Jahren noch drei Viertel aller »industriellen« Arbeitsplätze, heute nicht einmal ein Fünftel. Die führenden Plätze nahmen im Laufe der Zeit die Metall verarbeitenden, elektrotechnischen und chemischen Industrien und insbesondere der Fahrzeugbau ein. Ob ein derartiger statistischer Zeitvergleich, so schwer er herzustellen ist, zulässig ist, mag fraglich sein. Denn was hat Schriftenschneiderei und -setzerei mit dem heutigen Lichtsatz zu tun oder wer weiß noch, was Posamenten oder Balatawaren sind. Die Übersicht verdeutlicht beispielhaft für das Metall erzeugende und Metall verarbeitende Gewerbe, wie sich dieses selbst wandelte.

Der strukturelle Wandel ging mit einer anhaltenden und meist überdurchschnittlichen Innovationsfreude einher. Die ursprüngliche Armut, welche nur die Verarbeitung billiger und leicht erreichbarer Rohstoffe zuließ, der sprichwörtliche Erfindergeist sowie ein ausgeprägtes Gewinnstreben bei Schwaben und Badenern erlaubten den Regionen und deren Industrien eine fortwährende Anpassung an weltweite technologische und ökonomische Entwicklungen. Ein weiterer Vorteil lag und liegt in der räumlichen Nähe der Maschinen nutzenden Industriezweige zu denjenigen, die sie bauten: So konnte sich zum Beispiel die württembergische Wirk- und Strickwarenindustrie nur dank der Nähe zu den Nadelfabrikanten und dem spezifischen Textilmaschinenbau entwickeln – und umgekehrt. In ähnlicher Symbiose lebten und leben die Hersteller von Werkzeugmaschinen mit deren Nutzern oder die Produzenten von medizinischen Geräten mit den Universitäts- und Großkliniken. Vielfach werden von den entsprechenden Unternehmen nicht nur die Fabrikationsanlagen oder Maschinen, sondern auch die damit herstellbaren Produkte gefertigt, wie zum Beispiel Fräs- und Schleifmaschinen für spanabhebende Werkzeuge und die Bohrer und Fräser selbst.

Nicht selten beeinflussten oder bestimmten baden-württembergische Unternehmen die technologische Entwicklung, wie die Automobilherstellung, Teile des Maschinenbaus oder der Elektrotechnik und der Elektronik oder der Messtechnik. Eine wesentliche Wurzel solcher Innovation lag und liegt in den Technischen Hochschulen und Universitäten. Ein weiterer Grund war und ist der sprichwörtliche Erfinder- und Tüftlergeist im Südwesten.

Hier einige wenige Beispiele, die badischem und schwäbischem Geist entsprangen:

1817baut der badische Forstmeister Karl Drais das erste Fahrrad.
1833erfindet der Ludwigsburger Drogist Kammerer die »Schwefelhölzchen«.
1846erfindet Christian Fridrich Schönbaum aus Metzingen die Schießbaumwolle.
1861beginnt der Mannheimer Juwelier Friedrich Engelhorn mit der Fabrikation von Anilinfarben.
1885bauen Daimler und Maybach die ersten Automobile.
1885konstruiert Carl Benz den Benzinmotor.
1900erhebt sich in Friedrichshafen das erste Luftschiff des Grafen Zeppelin.
1902erfindet Robert Bosch den elektrischen Magnetzünder, die Zündkerze.
1929startet Dorniers zwölfmotoriges Flugschiff Do X zum ersten Mal.
1932erfindet der schwäbische Apotheker August Fischer den ersten Kunstharzkleber der Welt, »UHU Alleskleber«.
1935entwickelt Ferdinand Porsche den Volkswagen.
1939entwickelt der Grunbacher Schwabe Ernst Heinrich Heinkel u.a. die ersten Düsenflugzeuge.
1957stellt Felix Wankel den ersten Kreiskolbenmotor »DKM 54« vor.
1967startet die DO 31, der erste Senkrechtstarter mit Düsenantrieb.

Die Liste der Erfinder ließe sich fast beliebig fortsetzen: Fischer-Dübel mit heute 6 000 Schutzrechten, Dr. Heins Pustefix, Hohner Mundharmonikas, Kaisers Fliegenfänger, Steif-Tiere, Trumpf-Lasergeräte …

Die oben erwähnte Vernetzung von Produktion und Innovation sowie Erfindung und Entwicklung lassen sich hier nicht näher darstellen. Einen deutlichen Hinweis für den »Erfindungswillen« geben indes die jährlichen Berichte des Deutschen Patent- und Markenamtes. So kamen beispielsweise von den 51 513 inländischen Patentanmeldungen des Jahres 2002 genau 12 822 aus Baden-Württemberg. Mit 121 je 100 000 Einwohner erreichte das Land den Spitzenplatz, gefolgt von Bayern mit 115 – bundesweit lag der Wert bei 62 Anmeldungen je 100 000 Einwohner.

In den Bundesländern ist das Anmeldevolumen fast extrem unterschiedlich, wie Schaubild 2 und folgende Tabelle zeigen:

Baden-Württemberg12 822
Bayern14 144
Berlin1 146
Brandenburg367
Bremen150
Hamburg1 213
Hessen4 133
Mecklenburg-Vorpommern190
Niedersachsen2 959
Nordrhein-Westfalen9 025
Rheinland-Pfalz2 459
Saarland340
Sachsen848
Sachsen-Anhalt361
Schleswig-Holstein629
Thüringen727

Die »BioRegio Rhein-Neckar« und das »Biovalley Oberrhein« belegen einen neuen technologischen Entwicklungstrend, dem baden-württembergische Unternehmen mit Elan folgen. Biotechnologie und Life Sciences werden unter anderen Innovationsmotoren für das neue Jahrhundert werden. Die Biotechnologie wird als Querschnittstechnologie die Entwicklung vieler Bereiche maßgeblich beeinflussen. Dazu gehören unter anderem die Human- und Veterinärmedizin, die Land- und Ernährungswirtschaft, Umweltschutz und Pharmaproduktion.

Auf den ersten Blick mag dieses Innovationspotenzial, das im Land steckt, hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft Baden-Württembergs optimistisch stimmen. Ob allerdings der Abbau von Forschungs- und Entwicklungspotenzial in den 90er-Jahren im Rahmen der damaligen Verschlankungsmanie so schnell wieder wettgemacht werden kann, bleibt offen. Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft und Professor für Biologie an der Universität Konstanz, beklagte 1997 in einem SPIEGEL-Gespräch: »Wer schlank werden möchte, sollte doch nicht gerade am Gehirnvolumen abnehmen«.1 Heute wird zum Beispiel der Mangel an Ingenieuren, insbesondere Elektronikingenieuren, beklagt. Viele für Forschung und Entwicklung Verantwortliche bemühen sich – nach PISA mehr denn je –, den strategischen Fehler zu korrigieren.

Innerhalb von fast drei Jahrzehnten haben die Regionen des Landes im Verarbeitenden Gewerbe und im Baugewerbe fast eine halbe Million sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren (siehe Tabelle). Bemerkenswert ist, dass früher strukturschwache Gebiete ihr Gewicht vergrößern konnten. Die Region Heilbronn-Franken hat zudem als einzige in Baden-Württemberg ein Plus von 1 000 Arbeitsplätzen geschaffen; die Gebiete um Heilbronn zeigen sich besonders dynamisch. Altindustrialisierte Gebiete im Rhein-Neckar-Gebiet, am Albtrauf und in Stuttgart haben demgegenüber fast 300 000 Arbeitsplätze im Produzierenden Gewerbe verloren. Allerdings wurde vor allem in den Oberzentren der Verlust zu erheblichen Teilen durch Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich ausgeglichen.

1 Der Spiegel, 4/1997, Seite 177 ff.