:: 5/2005

»Euro gleich Teuro« – so falsch ist das gar nicht: Wahre, gemessene und wahrgenommene Inflation

Obwohl es statistisch widerlegt ist, hält sich seit der Einführung des Euro im breiteren Publikum die Meinung, der Übergang zur Einheitswährung habe zu übermäßigen Preiserhöhungen geführt. Der Autor des folgenden Beitrags legt dar, dass die Diskrepanz zwischen ausgewiesener und wahrgenommener Inflation daran liegt, dass herkömmliche Preisindizes der Art und Weise, wie Menschen Preisbewegungen wahrnehmen, nicht Rechnung tragen. Preisbewegungen bei Posten des täglichen Lebens fallen viel stärker auf als Veränderungen des statistischen Durchschnitts. Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg dankt Prof. Brachinger und der Neuen Züricher Zeitung.1 für die freundliche Nachdruckgenehmigung des folgenden Beitrags. Prof. Brachinger arbeitet zurzeit zusammen mit dem Statistischen Bundesamt an der Berechnung eines Indexes der wahrgenommenen Inflation für Deutschland.

Der Euro sei kein Teuro. Diese Legende sei wissenschaftlich längst widerlegt. So oder ähnlich konnte man es immer wieder lesen. Die jüngst publizierte Studie des Statistischen Bundesamts in Deutschland scheint diese Frage abschließend geklärt zu haben (vgl. die erste Zeile der Tabelle). Die Teuerung ist seit der Einführung des Euro weniger stark gestiegen als in den letzten beiden Jahren vor seiner Einführung. Roma locuta, causa finita. Ist damit diese Diskussion wirklich amtlich erledigt?

Die wahre Inflationsrate gibt es nicht

Das Teuro-Gefühl ist damit nicht aus der Welt geschafft. Der Widerspruch zwischen der amtlichen Aussage und der Wahrnehmung der Konsumenten bleibt. Lässt er sich auflösen? Rechnen die amtlichen Statistiker falsch? Oder täuschen sich die Konsumenten? Gibt es überhaupt einen Widerspruch? Wie hoch ist die wahre Inflation denn nun tatsächlich?

Wie hoch die allgemeine Teuerung in Deutschland ist, weiß keiner genau. Die wahre Inflationsrate gibt es nämlich gar nicht. Es gibt höchstens eine individuelle Wahrnehmung davon, wie sehr ein Einzelner von der Teuerung betroffen ist. Die in jüngerer Vergangenheit geführte Diskussion über die mit der Einführung des Euro verbundene Teuerung ist ein eklatanter Beleg dafür. Diese Wahrnehmung ist ein individuell wichtiges Phänomen, sie kann aber keine vernünftige Basis beispielsweise für Lohnverhandlungen sein. Lohnabschlüsse sind immer für Berufsgruppen gedacht, nicht für Einzelne. Auch als Indikator für die Geldwertstabilität zur Orientierung für die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wäre sie offenbar unbrauchbar.

Will man die allgemeine Teuerung messen, so stellt man zunächst fest, dass man gar nicht so genau weiß, was Teuerung eigentlich heißt. Die Entwicklung eines Verbraucherpreisindexes setzt eine begrifflich-konzeptionelle Vororientierung darüber voraus, was man unter Inflation und ihrer Veränderungsrate, der Inflationsrate, verstehen will. Diese Vororientierung ist vom Zweck bestimmt, der mit der Messung der Preisniveau-Veränderung verfolgt wird.

Geht es um Preise oder um Kosten?

In der Wirtschaftsstatistik gibt es eine lange und fortdauernde Diskussion darüber, ob im Rahmen der Inflationsmessung sowohl Preise als auch Verbrauchsmengen der Güter eines bestimmten durchschnittlichen Warenkorbs als variabel zu betrachten sind oder nur deren Preise. Durch letztere Auffassung ist das traditionelle Deutungsmuster der klassischen kontinentalen Wirtschaftsstatistik gekennzeichnet, durch erstere das Deutungsmuster der modernen Wirtschaftstheorie, das im angelsächsischen Raum favorisiert wird und heute in der Wirtschaftswissenschaft als Standard gilt.

Welches dieser beiden konkreten Deutungsmuster vorzuziehen ist, hängt davon ab, ob man sich nur für die reine Preisentwicklung interessiert oder dafür, welche Kosten – also Preise mal Mengen – mit einem bestimmten Niveau der Lebenshaltung verbunden sind. Durch ein Deutungsmuster wird Teuerung als latente theoretische Größe definiert. Diese Größe kann aber empirisch nicht direkt erfasst werden, weil sie in der Realität so gar nicht zu finden ist. Dies wird sofort deutlich, wenn man sich überlegt, dass jeder Preisindex durch die Preise der verschiedenen Güter, die in einer Volkswirtschaft konsumiert werden, bestimmt sein muss.

Was ist aber der Preis eines Gutes wie etwa eines Pfundes Brot? Ein Pfund Brot kostet nicht überall im Lande gleich viel. Und eine weitere Frage stellt sich: Ist die Qualität dieses Pfundes Brot überall identisch? Welche Güter sollen schließlich in den durchschnittlichen Warenkorb aufgenommen werden? Bis zur Messung der Teuerung ist deshalb noch ein weiter Weg. Die Aufgabe der amtlichen Statistik besteht darin, für die latente theoretische Teuerung ersatzweise eine praktisch messbare Größe zu entwickeln.

Frage nach der Geldwertstabilität

Eine solche Größe stellt der Verbraucherpreisindex für Deutschland dar, wie er vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden berechnet wird. Er beruht auf dem traditionellen kontinentalen Deutungsmuster und misst die durchschnittliche reine Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen, die von einem hypothetischen privaten Haushalt zu Konsumzwecken gekauft werden. Die in die Berechnung eingehenden etwa 350 000 Preisbeobachtungen werden nach einem bestimmten Konzept, dem Index-Konzept von Laspeyres, verarbeitet.

Dieses Konzept ist dadurch gekennzeichnet, dass alle aktuellen Preise relativ zu den Preisen in einer Basisperiode betrachtet und entsprechend den Verbrauchsausgaben in der Basisperiode zu einem gewichteten arithmetischen Mittel zusammengefasst werden. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland stellt eine Konstruktion dar, deren Zweck vor allem in der Befriedigung eines öffentlichen Informationsproblems besteht, nämlich wie es um die Geldwertstabilität in Deutschland bestellt ist.

Der Verbraucherpreisindex ist mehr als eine bloße Abbildung empirischer Gegebenheiten. Seine Qualität besteht darin, dass er durch eine weit gehende Reduktion der komplexen ökonomischen Realität eine Quantifizierung von Inflation ermöglicht. Diese Quantifizierung hat sich wissenschaftlich gegenüber anderen möglichen Quantifizierungen durchgesetzt und in der wirtschaftspolitischen Praxis als fruchtbar und nützlich erwiesen. Diese Qualität wird dadurch gesichert, dass die einzelnen Schritte des Konstruktionsprozesses laufend einer kritischen methodischen Reflexion unterzogen werden.

Statistiker messen nicht das, was Menschen empfinden

Der Verbraucherpreisindex für Deutschland ist aber nicht der wahre Preisindex für die deutsche Volkswirtschaft, er ist es nicht einmal für ein einzelnes Individuum. Man kann zeigen, dass ein solcher Index gar nicht existiert. Der Verbraucherpreisindex kann daher auch nicht dazu herangezogen werden, um die individuelle Inflationswahrnehmung der Konsumenten zu widerlegen.

Ein bewährter praktischer Maßstab

Der Verbraucherpreisindex für Deutschland stellt ein statistisches Paradigma dar. Dieser Status kommt ihm zu, weil er in der Vergangenheit bei der Lösung bestimmter wirtschaftspolitischer Informationsprobleme immer wieder erfolgreich war. Weil ihm dieser Status zukommt, ist es nahe liegend, die Wahrnehmung des Euro als Teuro aus dem Blickwinkel dieses Paradigmas zu betrachten. Begreift man den Verbraucherpreisindex aber als Paradigma der Inflation, dann kann die Wahrnehmung »Euro gleich Teuro« nicht mehr einfach als falsch qualifiziert werden, sondern muss als Anomalie verstanden werden, die es zu erklären gilt.

Das Laspeyres’sche Konzept eines Preisindexes ist dadurch gekennzeichnet, dass Abweichungen der aktuellen Preise von den Basispreisen symmetrisch behandelt werden: Eine Preiserhöhung von einem Euro wird ebenso behandelt wie eine Preissenkung von einem Euro. Die relativen Preise, also die Quotienten aus aktuellem und Vergleichspreis, werden entsprechend durchschnittlichen Verbrauchsausgaben in der Basisperiode zu einem gewichteten arithmetischen Mittel zusammengefasst. Beides ist im Hinblick auf den Zweck des Verbraucherpreisindexes der einzig sinnvolle Ansatz, da hier faktische Preisveränderungen gemäß ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung erfasst werden sollen.

Der Mensch ist komplizierter

Den einzelnen Konsumenten interessiert aber vor allem das Ausmaß, in dem er in seinem täglichen Einkaufsverhalten von der Inflation betroffen ist. Seit den bahnbrechenden wissenschaftlichen Arbeiten von Kahneman und Tversky weiß man, dass die Wahrnehmung ökonomischer Situationen davon abhängt, in welcher Form sie sich präsentieren; das so genannte Framing spielt eine wichtige Rolle. Mit der Teuerung wird der Konsument im Moment des Kaufaktes konfrontiert. Je häufiger er Käufe von Gütern tätigt, die signifikant teurer geworden sind, umso stärker wird er die Teuerung wahrnehmen. Preissenkungen bei selten gekauften Gütern oder bei Gütern ohne expliziten Kaufvorgang, deren Preise einmal im Monat abgebucht werden wie etwa einer Mietwohnung, wird er kaum wahrnehmen.

Die Prospect-Theory, für die Kahneman den Nobelpreis erhalten hat, lehrt, dass ökonomische Sachverhalte jeweils relativ zu einem Referenzpunkt betrachtet werden und dass Verluste deutlich stärker bewertet werden als Gewinne in gleicher Höhe; die Konsumenten haben eine ausgeprägte Aversion gegen Verluste. Es ist bekannt, dass die Konsumenten Preisveränderungen asymmetrisch wahrnehmen und deshalb auf Preiserhöhungen wesentlich empfindlicher reagieren als auf Preissenkungen.

Was noch kein Amt versucht hat

Man kann also davon ausgehen, dass der Preis des Gutes beim letzten Kaufakt oder ein Durchschnitt der Preise bei den letzten Kaufakten dem Konsumenten als Referenzpunkt dienen und dass Preiserhöhungen dann schmerzhafter wahrgenommen werden als – im umgekehrten Fall – Preissenkungen als etwas Erfreuliches (vgl. Schaubild). Ein weiterer bekannter Effekt ist schließlich der Isolationseffekt: Kaufakte werden isoliert betrachtet; das bedeutet, dass Preiserhöhungen und Preissenkungen nicht gegeneinander verrechnet werden, wie dies beim Verbraucherpreisindex der Fall ist. Das Framing der Kaufakte, die Preisasymmetrie und der Isolationseffekt müssen berücksichtigt werden, wenn die wahrgenommene Inflation angemessen quantifiziert werden soll. Dies hat noch kein statistisches Amt versucht, aber es ist prinzipiell möglich. Dazu sind die einzelnen Preisveränderungen zunächst entsprechend der Verlust-Aversion der Konsumenten – aus anderen Zusammenhängen weiß man, dass Verluste etwa 2- bis 2,5-mal intensiver wahrgenommen werden als Gewinne – zu transformieren. Anschließend sind die relativen Preise entsprechend der Häufigkeit, mit der der Konsument die einzelnen Güter kauft, zu gewichten. Diese Daten könnten aus einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe geschätzt werden.

Besonders empfindlich bei Alltagsgütern

Die gemessene wahrgenommene Inflation wird dann besonders stark vom Verbraucherpreisindex abweichen, wenn sich vor allem häufig gekaufte und bar bezahlte Güter des täglichen Konsums überproportional verteuern. Diese Güter gehen nämlich mit einem besonders hohen Gewicht in die wahrgenommene Inflation ein. Überdies wird eine 10%ige Preiserhöhung bei einer Verlust-Aversion von 2 als 20%ige Preiserhöhung wahrgenommen. Man kann zeigen, dass bei einer Verlust-Aversion von 2 jede Preissteigerungsrate genau doppelt so hoch wahrgenommen wird, wie sie in die Berechnung des gängigen Verbraucherpreisindexes eingeht.

Wenn – wie in den Monaten seit der Einführung des Euro – die wahrgenommene Inflation vom Verbraucherpreisindex abweicht, bedeutet dies aber natürlich nicht, dass der Verbraucherpreisindex infrage steht. Sein paradigmatischer Status bleibt davon völlig unberührt. Er zielt unabhängig von individuellen Wahrnehmungen und Betroffenheiten auf etwas ganz anderes. Es bleibt dem Einzelnen überlassen, ob er das amtliche Inflationskonzept als Rationalitätsstandard akzeptiert und im Fall einer Diskrepanz zwischen seiner Wahrnehmung und der amtlich ausgewiesenen Inflation seine Wahrnehmung korrigiert oder nicht.

Wahrgenommene Inflation kann grundsätzlich ebenso quantifiziert werden wie die allgemeine Geldentwertung. Ziel dieses Inflationsindikators ist dann die Quantifizierung des Ausmaßes, in dem ein Individuum bei seinen täglichen Einkäufen von der Inflation betroffen ist. Nur wenn die gemessene wahrgenommene Inflation und die Wahrnehmung auseinander klaffen, gibt es einen Konflikt. Dann ist das Verfahren zur Messung der wahrgenommenen Inflation in geeigneter Weise zu korrigieren.

Preissteigerungen an heiklen Stellen

Ist der Euro nun ein Teuro oder nicht? Er ist es nicht im Sinne des amtlichen Paradigmas. Das zeigen die Studien des Bundesamtes. Mit der Einführung des Euro ging aber eine vergleichsweise hohe Teuerung einher, wenn man die Wahrnehmung der Konsumenten als Faktum ernst nimmt. Alle vorliegenden Informationen deuten darauf hin, dass seit der Einführung des Euro die Preise gerade von Gütern oder Dienstleistungen, die häufig gekauft werden, wie etwa Restaurantbesuche oder Autowäsche (vgl. Tabelle), überproportional gestiegen sind. Eine angemessene Quantifizierung der individuellen Wahrnehmung dieser Situation würde sicher eine vergleichsweise hohe Teuerung ausweisen.

Folgt daraus aber unmittelbar, dass der Euro ein Teuro ist? Die wahrgenommene Teuerung ist nicht allein durch die Einführung des Euro bedingt. Sie ist auch bedingt durch den erheblichen Preisauftrieb bei den Leistungen für die Gesundheitspflege (+ 20,1 %) und den Tabakwaren (+ 29,2 %). In beiden Fällen sind jedoch Maßnahmen des Gesetzgebers – Gesundheitsreform und Tabaksteuer-Erhöhungen – für diese Preisentwicklung ausschlaggebend und nicht die Währungsumstellung. Der Euro könnte im Sinne der wahrgenommenen Teuerung erst dann wirklich als Teuro bezeichnet werden, wenn die wahrgenommene Teuerung auch nach Bereinigung um Preisänderungseffekte, die nicht durch die Währungsumstellung, sondern durch die Marktlage bedingt waren, noch signifikant höher liegt, als sie es vor der Einführung des Euro war. Dazu müsste aber erst einmal die wahrgenommene Inflation gemessen werden.

1 Der Beitrag ist erschienen in: Neue Züricher Zeitung, Nr.224, Samstag/Sonntag, 25./26. September 2004, unter Themen und Thesen der Wirtschaft.