:: 5/2006

Die Schulen besonderer Art drei Exoten in Baden-Württemberg

Immer wieder wird im Zusammenhang mit PISA und anderen Studien zur Beurteilung der Qualität im Bildungswesen eine Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem hin zu integrativen Konzepten gefordert. In Baden-Württemberg existieren neben den konventionellen Schularten zwar auch so genannte integrierte Schulformen wie die Freien Waldorfschulen, die schulartunabhängige Orientierungsstufe und die Schulen besonderer Art, allerdings ist deren Stellenwert im gesamten Bildungssystem relativ gering. So befinden sich unter den rund 4 200 allgemein bildenden Schulen im laufenden Schuljahr in Baden-Württemberg gerade einmal 47 Freie Waldorfschulen und 3 Schulen besonderer Art. Bei Letzteren handelt es sich um ehemalige Gesamtschulen in Heidelberg, Mannheim und Freiburg, die im Schuljahr 2005/06 von insgesamt fast 4 250 Schülern besucht werden, das sind 2,4 % mehr als im Vorjahr, aber nicht einmal halb so viele wie vor 20 Jahren.

Die Gesamtschule: Auslaufmodell oder bildungspolitischer Königsweg?

Im Rahmen von PISA und anderen Studien zur Beurteilung der Qualität im Bildungswesen wird immer wieder die Frage nach dem optimalen Schulsystem gestellt. Die Schlussfolgerungen und Antworten sind dabei – je nach gesellschaftlichem Lager und politischer Couleur – recht unterschiedlich. So forderte die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf ihrem Gesamtschultag 20051»eine Schule für alle«. Gewünscht wird eine Abkehr von »einer Pädagogik des Wegschickens« und vom (frühen) Wechsel der Schularten. So könne man Kinder mit schwieriger sozialer Herkunft erfolgreicher fördern und bessere Ergebnisse erzielen. Die baden-württembergische Handwerkskammer stellte auf derselben Veranstaltung ein Modell mit neun gemeinsamen Schuljahren vor. Die Grünen plädieren »für eine längere gemeinsame Grundschulzeit und für eine Integration verschiedener Bildungsgänge in einer Schule«,2 die baden-württembergische SPD fordert, »die Kinder endlich länger gemeinsam lernen zu lassen«.3 Die FDP ist laut ihrem Landesparteitag 20054 offen für »regionale Schulprojekte, die flexiblere Übergangszeitpunkte in weiterführende Schulen zum Gegenstand haben«.

In einer Stellungnahme zu den Länder-Ergebnissen von PISA 20035 lobt Kultusminister Rau dagegen die Schulen in Baden-Württemberg für ihr gutes Abschneiden. Die Gymnasien hätten sogar im internationalen Vergleich Spitzenwerte erreicht, die baden-württembergischen Schulen insgesamt erreichten im nationalen Vergleich jeweils Platz 3 in den Bereichen Problemlösungskompetenz, Naturwissenschaften, und Mathematik. Im Bereich Lesen kamen sie sogar auf den 2. Platz. Rau sieht die integrierten Gesamtschulen auf der »Verliererstraße« und als »Auslaufmodelle«. Eine Schulstrukturdebatte im Sinne einer Einheitsschule gehöre der Vergangenheit an.

Anteil der integrierten Schulformen mit 2 % sehr gering

Zu den allgemein bildenden Schulen zählen in Baden-Württemberg die Grundschulen, die weiterführenden Schularten Hauptschule, Realschule und Gymnasium sowie die Sonderschulen und die drei integrierten Schulformen Freie Waldorfschulen, »Schulen besonderer Art« und schulartunabhängige Orientierungsstufe. Außerdem kann noch der zweite Bildungsweg (Kollegs, Abendrealschulen und Abendgymnasien) zu den allgemein bildenden Schulen gerechnet werden. Von den integrierten Gesamtschulen (Schulen besonderer Art) zu unterscheiden sind die »kooperativen Gesamtschulen«. Sie stellen keine eigenständige Schulart dar; an diesen sind vielmehr verschiedene Schularten der Sekundarstufe I in einer gemeinsamen Schule mit einheitlicher Schulleitung untergebracht (zum Beispiel Verbundschulen).

Von der Grundstruktur her besitzt Baden-Württemberg (wie auch der Nachbar Bayern) ein dreigliedriges Schulsystem, das heißt, nach dem Besuch der Grundschule wählen die Eltern zwischen Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Diese Schularten dominieren sowohl bei der Anzahl der organisatorischen Einheiten als auch bei den Schülerzahlen (Tabelle 1). Die integrierten Schulformen » 47 private Freie Waldorfschulen, eine öffentliche schulart-unabhängige Orientierungsstufe in Konstanz und drei öffentliche «Schulen besonderer Art»in Heidelberg, Mannheim und Freiburg« machten 2004/05 zusammen nur 2 % der Gesamtschülerzahl aus.

Die rechtliche Grundlage für die drei verbliebenen integrierten Gesamtschulen als Schulen besonderer Art in Baden-Württemberg findet sich in den Schlussvorschriften des Schulgesetzes.6 Dort heißt es in § 107 (1): »Die Staudinger-Gesamtschule Freiburg im Breisgau, die Internationale Gesamtschule Heidelberg und die Integrierte Gesamtschule Mannheim-Herzogenried können in den Klassen 5 bis 10 als Schulen besonderer Art ohne Gliederung nach Schularten geführt werden. Der Unterricht kann in Klassen und Kursen stattfinden, die nach der Leistungsfähigkeit der Schüler gebildet werden. Die Schulen führen nach der Klasse 9 zum Hauptschulabschluss und nach der Klasse 10 zum Realschulabschluss oder zur Berechtigung zum Übergang in die Oberstufe oder in die Jahrgangsstufe 11 des Gymnasiums.«

In der Praxis nur in den ersten Jahren gemeinsamer Unterricht

Praktisch sind in der Internationalen Gesamtschule Mannheim-Herzogenried (IGMH) in den Klassenstufen 5 bis 7 die drei Regelschulen Hauptschule, Realschule und Gymnasium organisatorisch eng miteinander verbunden und treten als eigenständige Schularten nicht in Erscheinung. In Klassenstufe 5 werden die Schüler anfangs noch gemeinsam unterrichtet, allmählich jedoch werden entsprechend der unterschiedlichen Begabungen und Lerngewohnheiten in den Kernfächern Deutsch, Englisch und Mathematik so genannte Niveaukurse gebildet. Dabei entspricht der A-Kurs den Anforderungen des Gymnasiums, der B-Kurs denen der Realschule und der C‑Kurs denen der Hauptschule. Zusätzlicher notenfreier Förderunterricht in den Kernfächern und die Möglichkeit, die Niveaukurse zu wechseln, soll Über- oder Unterforderung vermeiden und Leistungsschwankungen berücksichtigen. Ab dem 8. Schuljahr werden dann schulartbezogene Klassen gebildet, an denen die gleichen Abschlüsse wie an Regelschulen erzielt werden können. Ähnlich gibt es an der Inter-nationalen Gesamtschule Heidelberg (IGH) eine zweijährige Orientierungsstufe in Klasse 5 und 6, in denen die Schüler gemeinsam unterrichtet werden; ab Klasse 7 werden die Schüler dann in die Züge A, B und C eingeteilt, welche den Regelschulen Gymnasium, Realschule bzw. Hauptschule entsprechen. Auch nach dem Schulkonzept der Staudinger-Gesamtschule in Freiburg werden die Schüler in Klasse 5 und 6 gemeinsam unterrichtet.7

Im Schuljahr 1980/81 mit 11 500 Schülern Spitzenwert erreicht

Sowohl die Anzahl der Gesamtschulen als auch deren Schülerzahl haben sich nach einem gewissen »Boom« Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre auf ein in den letzten 15 Jahren relativ stabiles Niveau gesenkt. 1970 existierten zwei Gesamtschulen in Baden-Württemberg mit 501 Schülern in 16 Klassen. Fast zehn Jahre lang ist die Schülerzahl aufgrund der eingeführten Mo-dell- und Versuchsschulen8 beständig nach oben geklettert bis zu ihrem Höchststand im Schuljahr 1980/81: 11 464 Schüler in 413 Klassen besuchten damals eine der sieben Gesamtschulen im Land. Allerdings war auch bei diesem Spitzenwert der Anteil der Schüler an Gesamtschulen an den Schülern aller allgemein bildenden Schulen mit 0,8 % relativ gering. Seit 1980 ist mit dem Auslaufen der Versuchsphase ein abnehmender Trend bei den Schülerzahlen der Gesamtschulen zu verzeichnen, der erst im laufenden Schuljahr nach fast 25 Jahren zum ersten Mal gestoppt wurde. Dennoch ist die Zahl der Schüler an den drei derzeit noch existierenden Schulen besonderer Art mit 4 247 nicht einmal halb so groß wie vor 20 Jahren, ihr Anteil an den Schülern insgesamt liegt bei ca. 0,3 % (Schaubild).

Seit 1988 werden an den Schulen besonderer Art nur die Klassenstufen 5 bis 13 angeboten, wobei die Klassenstufen 11 bis 13 der Oberstufe dann zum Bildungsgang Gymnasium gehören. Im Gegensatz zu den Freien Waldorfschulen, die bereits mit der 1. Klassenstufe beginnen und deren Schülerzahlen seit Beginn der 70er-Jahre ununterbrochen angestiegen sind, kann eine Schule besonderer Art also erst nach dem Grundschulalter besucht werden.

Die Entwicklung der integrierten, schulartunabhängigen Orientierungsstufen erreichte ihren Höchstwert 1976 mit 5 223 Schülern an 13 Schulen im Land. Heute führt nur noch eine Schule in Konstanz diese schulartunabhängige Orientierungsstufe mit 428 Schülern im laufenden Schuljahr.

Die Abschlüsse reichen vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur

Im aktuellen Schuljahr (2005/06) besuchen insgesamt 4 247 Kinder und Jugendliche in Baden-Württemberg eine Schule besonderer Art, 2 047 Mädchen und 2 200 Jungen. Die meisten Fünftklässler (41 %) waren zum aktuellen Schuljahr mit der Grundschulempfehlung »Realschule« an eine der drei Schulen besonderer Art gekommen, 30 % mit einer Empfehlung für die Hauptschule und 28 % mit einer Empfehlung, die auch den Besuch eines Gymnasiums er-möglicht hätte. 131 Schüler (70 männliche und 61 weibliche) hatten am Ende des Schuljahres 2004/05 das Klassenziel nicht erreicht und waren nicht versetzt worden bzw. wurden auf Probe versetzt. 698 ausländische Schüler, darunter allein 274 mit türkischer Nationalität, besuchen im laufenden Schuljahr eine der drei Schulen besonderer Art; damit ist der Ausländeranteil mit 16,4 % relativ hoch (zum Vergleich: 2004/05 lag der Ausländeranteil an den öffentlichen und privaten Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien bei 10,8 %). Hier spielt sicher die städtische Lage der Schulen besonderer Art eine Rolle, beispielsweise hatte 2004/05 in der Stadt Mannheim jeder vierte Schüler einer allgemein bildenden Schule eine ausländische Nationalität.

Von den Abgängern des vergangenen Schuljahres erzielten an den drei Schulen besonderer Art

keinen Abschluss0,6%
Hauptschulabschluss34,6%
Realschulabschluss37,7%
Hochschulreife27,1%

Gesamtschulen sind in den Bundesländern sehr unterschiedlich vertreten

Bildung ist Ländersache und daher von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geregelt. Verschiedene Schulsysteme bestehen nebeneinander. So haben Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen ein dreigliedriges Schulsystem mit nur wenigen Gesamtschulen. In den Schulsystemen von Berlin, Hamburg und Brandenburg sind Gesamtschulen relativ stark verbreitet. In Brandenburg geht sogar mehr als jeder vierte Schüler auf eine Gesamtschule. Dies war 2004/05 bundesweit der höchste Anteil, gefolgt von Hamburg mit 17,6 % und Berlin mit 13,5 %. In Nordrhein-Westfalen, Hessen und im Saarland liegen die Anteile immerhin noch zwischen 9 und 10 %. In Baden-Württemberg gab es im Schuljahr 2004/05 drei, in Bayern zwei und in Sachsen gar keine dieser integrierten Schulen (Tabelle 2).

Dennoch haben auch im baden-württembergischen Bildungswesen die integrativen Schulformen seit vielen Jahren ihren Platz neben dem »normalen« gegliederten Schulsystem behaupten können. Die Bestandsgarantie im Schulgesetz sichert die verbliebenen Gesamtschulen, sodass sie in den Großstädten Heidelberg, Mannheim und Freiburg immer noch eine Alternative zum gegliederten Schulsystem bieten.

1 Dieser fand am 18./19. Februar 2005 in Bühl bei Freiburg statt. Vgl. Pressemitteilung der GEW vom Februar 2005.

2 Vgl. Homepage von Bündnis 90/Die GRÜNEN in Baden-Württemberg: www.gruene-bw.de, Stand 16. Januar 2006.

3 Vgl. Pressemitteilung der SPD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg vom 03. November 2005.

4 Vgl. Beschluss des 98. ordentlichen Landesparteitages der FDP/DVP Baden-Württemberg vom 18. Juni 2005 in Baden-Baden.

5 Vgl. Meldung des Kultusministeriums Baden-Württemberg im Landesportal Baden-Württemberg vom 03. November 2005 (www.baden-wuerttemberg.de).

6 Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) in der Fassung vom 1. August 1983 (GBl. S. 397; K.u.U. S. 584) zuletzt geändert durch Änderungsgesetz vom 11. Oktober 2005 (GBl. S. 669).

7 Vgl. Homepages der IMGH (www.igmh.ma.schule-bw.de), der IGH (www.igh-hd.de), und der Staudinger-Gesamtschule (www.staudi.fr.schule-bw.de), jeweils Stand 16. Januar 2006.

8 Für eine ausführliche Beschreibung siehe Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Modelle und Versuche für die Bildungsreform, Oktober 1973.