:: 11/2006

Gedanken zur Bildung von Indikatoren: Bildungsindikatoren

Die amtliche Statistik hatte – zu Unrecht – in der Vergangenheit den Ruf, in erster Linie »Zahlenfriedhöfe« zu produzieren. Für Fachleute waren diese zwar eine wertvolle Datenquelle, die breitere Öffentlichkeit fühlte sich von diesem Informationsangebot aber oft überfordert. Dies hat mit zum weitverbreiteten Eindruck beigetragen, dass mit Statistiken bei »geeigneter« Auswahl der Zahlen alles »bewiesen« werden kann. Um diesen Eindruck zu widerlegen, ist die Begleitung der Basisinformationen durch fundierte und allgemein verständliche Analysen auf Basis aussagekräftiger Indikatoren erforderlich. Auf diese Weise lassen sich aus zunächst abstrakten Zahlen wertvolle Informationen über Entwicklungen im Zeitablauf oder über regionale und internationale Vergleiche gewinnen. Ein Beispiel hierfür ist der Bildungsbericht 2006, bei dessen Erstellung die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder innerhalb des Konsortiums »Bildungsberichterstattung« als Partner wissenschaftlicher Institute beteiligt waren.1

Daten sammeln, analysieren und verständlich machen

Die Statistikgesetze von Bund und Ländern weisen der amtlichen Statistik die Aufgabe zu, laufend Daten über Massenerscheinungen zu erheben, zu sammeln, aufzubereiten, darzustellen und zu analysieren.2 Die amtliche Statistik gewinnt die statistischen Informationen unter Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter Einsatz der jeweils sachgerechten Methoden und Informationstechniken. Dabei gelten für sie die Grundsätze von Neutralität, Objektivität, wissenschaftlicher Unabhängigkeit und statistischer Geheimhaltung. Bereits in der gesetzlichen Aufgabenbeschreibung kommt damit zum Ausdruck, dass amtliche Statistik mehr sein muss als das »Sammeln von Zahlen«. Die amtliche Statistik soll vielmehr die erhobenen Daten auch nach wissenschaftlichen Grundsätzen analysieren und dabei ihre Fachkenntnisse und ihre Kenntnisse über die Qualität und Aussagekraft der Daten nutzen. »Analysieren« heißt im Prinzip nichts anderes als vergleichen. Nur die Einordnung der statistischen Ergebnisse in einen zeitlichen, regionalen oder sachlichen Zusammenhang erzeugt brauchbare Aussagen. Benötigt werden damit Vergleichsmaßstäbe, also Indikatoren. Das heißt quantifizierende Maßstäbe, die all-gemein akzeptiert werden und empirisch messbare Hilfsgrößen, die es ermöglichen, intransparente Abläufe zu verfolgen, indem sie anzeigen, ob bestimmte Zustände erreicht sind oder bereits verlassen wurden. Mithilfe von Indikatoren wird ein Indiz erzeugt und vor allem für die Politik Handlungsbedarf aufgezeigt oder der Erfolg politischen Handelns bestätigt.

Doch was sind »gute« und »aussagekräftige« Indikatoren? Immerhin behauptet die Journalistin Fides Krause-Brewer: »Mit Statistik kann man alles beweisen – auch das Gegenteil!« Man könne zum Beispiel sagen, dass »Norwegen fast viermal so reich sei wie Taiwan«, aber auch, dass »Taiwan elfmal reicher sei als Norwegen«. Denn: Einerseits ist Norwegens BIP je Einwohner mit ca. 43 000 US-Dollar annähernd viermal so hoch wie das von Taiwan, andererseits ist das BIP je km2 in Taiwan mit etwa 7 Mill. US-Dollar elfmal höher als das Norwegens. Will man Aussagen zum Wohlstand eines Landes machen, ist hier eindeutig der auf Einwohner bezogene Indikator gegenüber dem der Fläche vorzuziehen. Will man dagegen Aussagen zur Flächenproduktivität treffen, wäre der flächenbezogene Indikator heranzuziehen.

Qualitätskriterien für Indikatoren

Bei der Indikatorenbildung sind deshalb gewisse Qualitätsstandards zu berücksichtigen:

  • Indikatoren sind so zu bilden, dass sie eine möglichst hohe Aussagekraft für die konkrete Fragestellung besitzen und zur Versachlichung der Diskussion beitragen.
  • Indikatoren müssen allgemein akzeptiert sein. Sie müssen konsensfähig sein, da sie vor allem Übereinstimmung in der Bewertung eines Sachverhalts herbeiführen sollen, wie zum Beispiel in der Bewertung von Bildungssystemen.
  • Indikatoren müssen klar sein. Sie müssen eindeutig beschrieben werden, damit es Kunden ermöglicht wird, deren Aussagen zu bewerten.
  • Indikatoren müssen wiederholt berechnet werden können, damit Veränderungen nachvollzogen werden können und Erfolg oder Misserfolg von Maßnahmen erkennbar wird.

Wenn diese Standards eingehalten werden, kann Fides Krause-Brewer widerlegt werden. Dann kann man nicht auch noch das Gegenteil des eben Bewiesenen beweisen. Auch wenn die amtliche Statistik bei der Indikatorenbildung möglicherweise das vertraute Terrain verlässt, ist diese Form der Datenauswertung unverzichtbar. Der Wert der Statistik erweist sich in ihrem Gebrauch – möglichst durch eine Vielzahl von Menschen. Wen interessiert schon, wie viele Lehrerinnen und Lehrer Berlin oder Baden-Württemberg beschäftigen? Ganz anders die Frage nach der Schüler-Lehrer-Relation in den einzelnen Bundesländern. Um diesen Indikator aber berechnen zu können, werden qualitativ hochwertige, aktuelle Daten über Lehrer und Schüler benötigt. Amtliche Daten sind also wie Baustoffe. In Baustoffen kann man nicht wohnen, aber ohne Baustoffe kann man kein Wohnhaus errichten. Aufgrund der starken Nachfrage und dank der immer stärkeren Kundenorientierung der amtlichen Statistik betätigen wir uns immer mehr auch als Bauunternehmer und Architekt.

Indikatorgestützte Analyse im Bildungswesen

Früher hieß es, wir brauchen nicht Daten, sondern Informationen. Jetzt sind wir nochmals einen Schritt weiter, was John Naisbitt, ein US-amerikanischer Zukunftsforscher auf den Punkt bringt, indem er sagt: »Wir ertrinken in Informationen, aber uns dürstet nach Wissen«.

Die Globalisierung und die Möglichkeiten der weltweiten Information und Kommunikation, führen zu einem immer anspruchsvolleren Wettbewerb. Wesenszug des Wettbewerbs ist das Benchmarking. Seit sich Hochschulen im Wettbewerb um Ressourcen befinden, hat das Benchmarking der Hochschulen Hochkonjunktur. Das Gleiche werden wir bald mit einzelnen Schulen erleben. Die amtliche Statistik will dazu nicht nur einen Beitrag in Form valider Grunddaten leisten, sondern sich auch an der Qualitätsdiskussion um die geeigneten Indikatoren beteiligen. Als »Datenproduzent« kennen wir die Stärken und Schwächen »unserer« Daten und können beurteilen, ob tatsächlich Gleiches mit Gleichem verglichen wird.

Ein gelungenes Beispiel für diese Neuorientierung der amtlichen Statistik ist der nationale Bildungsbericht 2006.3 Er ist für die amtliche Statistik eine großartige Erfahrung gewesen – auch wegen der sehr engen und konstruktiven Zusammenarbeit mit den Bildungswissenschaftlern im Konsortium »Bildungsberichterstattung«.4 Im Folgenden werden einige ausgewählte Indikatoren aus dem Bildungsbericht vorgestellt, die die Umsetzung der oben genannten Grundsätze verdeutlichen sollen.

Wie durchlässig ist das Schulsystem?

Die Tabelle enthält Angaben zur Herkunft der Schülerinnen und Schüler der öffentlichen Gymnasien in Baden-Württemberg im Schuljahr 2005/06. Damit enthält sie wertvolle Informationen über die Zahl der Versetzten, der Wiederholer, der Schulartwechsler oder auch der Zugänge aus anderen Ländern. Aber um diese Informationen zu erhalten, muss sich der Leser eingehend und lange mit dieser Tabelle auseinandersetzen. Für eine konkrete Fragestellung, wie zum Beispiel nach den Chancen oder Risiken, von einer Schulart in eine andere »auf- oder abzusteigen«, ist diese Tabelle allein noch nicht ausreichend aussagekräftig. Hier müssten noch die vergleichbaren Tabellen anderer Schularten und auch der privaten Schulen herangezogen werden.

Die Antwort auf diese Frage zeigt Schaubild 1. Der Indikator veranschaulicht die Auf- und Abwärtsmobilität zwischen den Schularten in den Klassenstufen 7 bis 9, wobei zwischen West- und Ostdeutschland unterschieden wird.5 Hier werden die gravierenden Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland deutlich. Im Westen sind »Aufstiege« in nennenswertem Umfang nur zwischen der Hauptschule und der Realschule zu verzeichnen. Insgesamt überwiegen die »Abstiege« mehr als deutlich. Im Osten sind immerhin knapp ein Drittel der Schulartwechsel »Aufstiege« zwischen der Schulart mit mehreren Bildungsgängen und dem Gymnasium. »Abstiege« sind insgesamt sehr viel seltener als im Westen. Um diesen Indikator zu generieren sind selbstverständlich Basisdaten wie die vorhin genannten erforderlich. Aber erst die Aufbereitung zu einem aussagekräftigen Indikator öffnet einer breiteren Öffentlichkeit den Zugang zu diesen Informationen.

Ein weiterer Indikator, der aus den in der Tabelle dargestellten Basisdaten erstellt werden kann, sind die Wiederholerquoten.6 In Schaubild 2 ist bei einem Blick auf die drei jeweils obersten Balkenbündel erkennbar, dass diese sich bei einer Durchschnittsbetrachtung in West- und Ostdeutschland kaum voneinander unterscheiden. Am höchsten ist das Risiko des Wiederholens mit etwa 3,6 % in der Sekundarstufe I (Klassenstufen 5 bis 10). In der Sekundarstufe II (Klassenstufen 11 bis 12/13) beträgt es rund 3 %. Am geringsten ist das Risiko in der Primarstufe (Klassenstufen 1 bis 4) mit 1,4 %.

Betrachtet man die Länderergebnisse fällt dagegen ein breites Spektrum unterschiedlicher Muster auf. Auffällig ist, dass die Spanne der Wiederholerquoten in der Sekundarstufe I von 2,3 % in Baden-Württemberg bis 6 % in Bayern reicht. Der Indikator gibt somit Anstöße, den Ursachen dieser Gegebenheiten näher auf den Grund zu gehen.

Wie präsentiert sich Deutschland im internationalen Vergleich?

Schaubild 3 zeigt die Entwicklung der Studienanfängerzahlen in Deutschland in den letzten 25 Jahren. Man sieht zum einen die grundsätzlich steigende Tendenz und zum anderen, dass ein großer Teil dieses Anstiegs auf die deutliche Zunahme der Zahl weiblicher Studienanfänger zurückzuführen ist. Die Zahl der männlichen Erstsemester wies in den 90er-Jahren dagegen eine eher rückläufige Tendenz auf. Lassen sich nun durch eine geeignete Indikatordarstellung zusätzliche Informationen gewinnen?

In Schaubild 4 werden nicht die absoluten Zahlen der Studienanfänger dargestellt, sondern die Studienanfängerquoten.7 Das heißt, die Zahl der Studienanfänger eines Altersjahrgangs wird auf die Bevölkerungszahl dieses Altersjahrgangs bezogen und anschließend werden diese Ergebnisse über alle Altersjahrgänge zur Studienanfängerquote aufsummiert.

Durch die Verwendung von Quoten anstatt der Absolutzahlen lassen sich nun internationale Vergleiche anstellen. Deutschland liegt hier auf einem mit der Schweiz oder Frankreich vergleichbaren Niveau, weist aber deutlich niedrigere Studienanfängerquoten auf als die USA, Finnland oder Schweden. Auch wenn internationale Vergleiche im Bildungswesen nicht ohne genauere Kenntnisse der Hintergründe angestellt werden dürfen, liefern diese Werte Ansatzpunkte für weitergehende Analysen.

Grundangebot an Informationen und verständliche Analyse

Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, welchen Zusatznutzen die im Bildungsbericht gewählten Indikatoren haben. Der Zugang zu den voll-ständigen Basisdaten – ohne die kein Indikator berechnet werden könnte – ist selbstverständlich wichtig, um weitergehenden Informationsbedarf abzudecken und die Indikatorgenerierung nachvollziehbar darzustellen. Aus diesem Grund besitzt der Bildungsbericht 2006 auch einen umfangreichen Tabellenanhang, der in der Internetfassung8 noch um weitere Informationen ergänzt wird, die in der Druckversion aufgrund des beschränkten Umfangs nicht mehr berücksichtigt werden konnten.

Die amtliche Statistik sieht sich nach wie vor in der Pflicht, zuverlässig, objektiv und neutral dieses Grundangebot an Information zur Verfügung zu stellen. Allerdings sehen wir es zunehmend auch als eine zentrale Aufgabe an, diese Informationen zu analysieren und in geeigneter und verständlicher Weise einer breiteren Öffentlichkeit nahe zu bringen.

1 Der Beitrag ist die gekürzte Fassung einer Rede der Präsidentin des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg, Frau Dr. Gisela Meister-Scheufelen auf der Fachtagung »Bildung in Deutschland« am 4. Juli 2006 in Berlin.

2 So zum Beispiel § 1 des baden-württembergischen Landesstatistikgesetzes (LStatG) vom 24. April 1991 (GBl. S. 215), geändert durch Gesetze vom 7. Februar 1994 (GBl. S. 92) und vom 14. Dezember 2004 (GBl. S. 884).

3 Konsortium Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2006. (Zitierweise: Bildung in Deutschland).

4 Mitglieder des Konsortiums Bildungsberichterstattung sind das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt (Federführung), das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI) in München, die Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) in Hannover, das Soziologische Forschungsinstitut e.V. an der Universität Göttingen (SOFI), das Statistische Bundesamt und die Statistischen Ämter der Länder.

5 Vgl. Bildung in Deutschland, S. 51 f.

6 Vgl. Bildung in Deutschland, S. 54 f.

7 Vgl. Bildung in Deutschland, S. 105 f.

8 Kompletten Bericht als Pdf-Datei herunterladen: Bildung in Deutschland