:: 1/2007

»Gesunde« und »kranke« Alterspyramiden

Die grafische Darstellung der Altersstruktur einer Bevölkerung wurde bisher als Bevölkerungspyramide bezeichnet. Diese Form ergab sich dadurch, dass die jüngsten Altersjahrgänge die meisten Vertreter stellten und die Bevölkerung mit wachsendem Alter kontinuierlich abnahm. Geschichte, wirtschaftliche und soziale Situationen einer Gesellschaft spiegeln sich jedoch in der Form der »Pyramide« wider, die dann oftmals diese Bezeichnung nicht mehr verdient. Wie »gesund« oder »krank« sind nun solche verformten Bevölkerungspyramiden?

»Gesunde« Alterspyramiden sind scheinbar langweilige, mehr oder weniger symmetrische Dreiecke. In Wirklichkeit spiegeln sie eher eine kranke Bevölkerung wieder, in der Menschen dauerhaft vorzeitig sterben, wie später gezeigt wird.

In den angeblich »kranken« Alterspyramiden erkennt man die Geschichte und den gesellschaftlichen Wandel. Diese Pyramiden sind weder krank noch gesund, sie sind nur deutlicher, denn vieles schlägt sich im Bild der Pyramiden nieder. Sie werden schmaler, wenn alle Altersgruppen eines Gebiets von einem Unglück betroffen werden. Sie fransen aus, wenn nur bestimmte Jahrgänge in Kriegen sterben oder auswandern. Sie beulen aus, wenn erst die Männer in ein Gebiet zuziehen und später ihre Frauen und Kinder nachholen. Sie verengen sich zu Wespentaillen, wenn Menschen in Kriegen oder Krisenzeiten nicht mehr wissen, was die nähere Zukunft bringen wird. Sie verjüngen sich, wenn die Geburtenzahlen stetig und über einen längeren Zeitraum abnehmen und sie werden dickbäuchiger, wenn der Geburtentrend sich wieder umkehrt.

Auf den ersten Blick haben solche deformierten Pyramiden etwas Fatalistisches an sich, sie bilden nur die Vergangenheit ab. Dass dem nicht so ist oder nicht so sein muss, zeigt zum Beispiel ein Vorteil von Alterspyramiden: Sie erlauben ziemlich sicher zu zeigen, »was geschieht, wenn nichts geschieht«. Wenn der Mensch erkennt, wohin die Reise geht, kann er vielleicht vom Zug abspringen, wenn ihm das Ziel nicht passt. Dadurch wird er den Zug aber nicht aufhalten. Der Mensch kann auch steuern, er kann bremsen und beschleunigen. Das eine Land kann um Menschen werben, das andere die Grenzen dicht machen, den Zuzug kontrollieren oder den Fortzug unterbinden. Familien können gefördert werden oder nicht, in Bildung kann investiert werden oder nicht.

Und für alles, was die Bevölkerung vermehrt oder in Bewegung hält, gab und gibt es treffende und weniger treffende Bezeichnungen: Für die Wanderung zum Beispiel Völkerwanderung, Flüchtlingstreck, Vertreibung, Boatpeople; für die Behinderung der Wanderung: zum Beispiel Grenzzäune, Eiserner Vorhang, Mauer; für behördliche Maßnahmen zum Beispiel: Greencard, Rückkehrhilfe, Anwerbestopp, Schengen; für Änderung des Geburtenverhaltens: zum Beispiel Pillenknick, Geburtenkontrolle, Ein-Kind-Familie, Kleinkindbetreuung, Tagesmütter, Ganztagsschulen, Kindergeld, Familienleistungsausgleich.

Mit nostalgischer Sehnsucht werden die »gesunden« Pyramiden (Schaubild 1) einer scheinbar fortpflanzungsunwilligen, egoistischen und egozentrischen Generation vor Augen gehalten. Vor einem Jahrhundert war angeblich alles noch in bester Ordnung. Die vermeintliche Ordnung sah so aus: Ein Viertel aller Kinder erreichte damals nicht einmal das 5. Lebensjahr – schlimmer noch, jedes fünfte Kind erlebte nicht einmal den ersten Geburtstag (Schaubild 2).

Älter als 55 Jahre wurde gerade einmal die Hälfte der Männer; die andere Hälfte war entweder bereits als Baby oder in jungen Jahren an Schwindsucht, Lungenentzündung oder an falscher Ernährung, körperlicher Erschöpfung oder an Seuchen und Epidemien gestorben.

Das weibliche Geschlecht war damals schon das überlebensfähigere. Deren Säuglingssterblichkeit war etwas geringer als bei den Jungen. Und insgesamt war die Lebenswartung der neugeborenen Mädchen etwa 5 Jahre höher als die der Männer. Dennoch starben 15 von 100 Frauen im gebärfähigen Alter, viele von ihnen im Kindbett. Nachdem der Mediziner Semmelweis, »Retter der Mütter«, die Kontaktinfektion als Ursache für das Kindbettfieber erkannte, sank die Sterblichkeit erheblich.

Aber auch damals wurden die Menschen bemerkenswert alt, wenn sie die ersten Lebensjahre wohlbehalten überstanden hatten. Die Hälfte der überlebenden Mädchen wäre etwa 70 Jahre, die Hälfte der überlebenden Jungen etwa 67 Jahre alt geworden. Das 90. Lebensjahr hatten in Baden‑Württemberg im Jahr 1900 allerdings nur 262 Männer und 374 Frauen erreicht.

Im Laufe eines Jahrhunderts haben sich die Verhältnisse in Deutschland und den einzelnen Bundesländern zu mehr oder weniger bizarren Bildern geändert. Die »kranken« oder deformierten Pyramiden, die eher einer Morchel gleichen (Schaubild 3), zeigen, wann und wenn Medizin und Hygiene Erfolge hatten oder, wenn Kriege viele Opfer verlangten oder, wenn eine Gesellschaft aus welchen Gründen auch immer weniger Kinder haben will oder sich wieder mehr Nachwuchs wünscht. Ohne Kenntnis der Sterblichkeit sagen sie allerdings nur wenig über die Bestandserhaltung der Bevölkerung aus; und die Sterblichkeit hat sich in höhere Altersgruppen verschoben, zum Beispiel in Baden‑Württemberg.

Die Kindersterblichkeit ist sehr gering geworden (Schaubild 4) und die statistische Wahrscheinlichkeit das 80. oder gar das 90. Lebensjahr zu erreichen, hat stark zugenommen. In Deutschland fällt zum Beispiel auf, dass in den neuen Bundesländern sowohl weniger Männer als auch Frauen das Alter von 90 Jahren erreichen werden als in den alten Bundesländern.

Von 100 heute geborenen Babys werden 99 mindestens 20 Jahre alt werden. Die Hälfte der Männer wird älter als 76 Jahre und die Hälfte der Frauen älter als 80 Jahre werden. Etwa jeder achte Mann und jede vierte Frau würden sogar das 90. Lebensjahr erreichen.

Die Zukunft kann auch anders aussehen. Die Sterbetafeln1 des Deutschen Reiches für das frühe 20. Jahrhundert waren dank der medizinischen und hygienischen Entwicklung schnell überholt. Einen positiven Einfluss auf die tatsächliche Altersstruktur und auf die Sterbetafeln übte die Senkung der Kindersterblichkeit aus und negativ wirkten die Kriegsopfer der Weltkriege.

Dank der hohen Lebenserwartung und der niedrigen Geburtenrate wird sich die Pyramide über eine Morchel zu einer Birne entwickeln (Schaubild 5). Wollte man im Laufe der nächsten Jahrzehnte wenigstens eine mehr oder weniger den Bestand erhaltende Form erreichen, müssten die Geburtenraten ab sofort jährlich um zwei Kinder je 100 Frauen steigen. Im Jahr 2050 brächten 100 Frauen dann etwa 220 Kinder zur Welt. Aber selbst dann hätte Baden‑Württemberg noch auf Jahre hinaus ein Geburtendefizit zu erwarten.

Soweit zu »kranken« und »gesunden« Alterspyramiden, wie sie im »Demographischen Wandel« beschrieben sind. Die Herausforderung an die Gesellschaft besteht nicht darin, die Alterspyramiden zu optimieren. Das geht nicht, da Geschehenes nicht ungeschehen gemacht und Versäumtes nicht nachgeholt werden kann. Die Herausforderung besteht im allseitigen Erkennen und Akzeptieren der Situation und darauf aufbauend zu reagieren.

1 Am Rande und doch bemerkenswert ist: Im deutschsprachigen Raum spricht man von Sterbetafel, im angelsächsischen von Lebenstafel, Life Table.