:: 8/2007

Vorausberechnung der Pflegebedürftigen und des Pflegepersonals für Baden-Württemberg bis 2030

Bevölkerungsvorausrechnungen zeigen, wie sich die Bevölkerung eines Gebietes unter bestimmten Annahmen in einem festgelegten Zeithorizont ändern kann. Mithilfe der Bevölkerungsvorausrechnung und bestimmter Annahmen aus anderen Statistiken kann aufgezeigt werden, wie sich heute bereits erkennbare Strukturen in der Zukunft präsentieren werden. Grundlage der Vorausrechnung der pflegebedürftigen Menschen bis zum Jahr 2030 in Baden-Württemberg – bzw. entsprechend dem kürzeren Horizont des Landespflegeplans in den Stadt- und Landkreisen des Landes bis zum Jahr 2020 – sind die 11. Bevölkerungsvorausrechnung für Baden-Württemberg von 2006, die regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung für die Stadt- und Landkreise von Februar 2007 sowie die Ergebnisse der Pflegestatistik von Dezember 2005. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird voraussichtlich allein als Folge der Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur in den bis 2030 verbleibenden Jahren um rund 54 % zunehmen. Dabei bleibt allerdings die Möglichkeit unberücksichtigt, dass die prognostizierte Verlängerung der Lebenserwartung unter Umständen auch zu einer Veränderung des Pflegerisikos führen wird. Weiter ist zu bedenken, dass der derzeit mit 45 % noch recht hohe Anteil von Pflegegeldempfängern, also der Menschen, die zu Hause durch Angehörige gepflegt werden, vor allem als Folge der Veränderungen in den Familienstrukturen deutlich zurückgehen könnte und stattdessen professionelle Einrichtungen diese Aufgabe übernehmen müssten.

Zahl der 60-Jährigen und Älteren wird um 46 % ansteigen

In der Vergangenheit wurde eine stetige Zunahme der Lebenserwartung beobachtet. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird; allerdings wird die Zahl der Einwohner trotzdem nur noch leicht ansteigen. Bereits ab 2011 wird die Zahl der Gestorbenen jene der Geborenen übersteigen, die Bevölkerungszahl wird demnach sinken und zwar bis 2030 auf rund 10,5 Mill. Aufgrund dieser Annahmen wird der Anteil der Bevölkerung mit 60 und mehr Lebensjahren wahrscheinlich um knapp 46 % zunehmen. Die höchsten Zuwächse mit über 140 % sind bei den 90-Jährigen und Älteren zu erwarten. Im Jahr 2030 wird die Zahl älterer Menschen mit 60 und mehr Lebensjahren etwa 3,7 Mill. betragen. In dieser Altersgruppe dominieren die Frauen. 2005 betrug ihr Anteil an der weiblichen Bevölkerung insgesamt 26 %, er wird bis 2030 auf fast 37 % zunehmen. Der Anteil der Männer dieser Altersklasse an der männlichen Bevölkerung nimmt im gleichen Zeitraum von knapp 21 % auf über 33 % zu.

Der Schwerpunkt der Pflegebedürftigkeit liegt naturgemäß bei den höheren Altersklassen. 2005 waren mehr als die Hälfte (55 %) der Pflegebedürftigen 80 Jahre und älter. Bis zum Jahr 2030 wird dieser Anteil voraussichtlich weiter auf rund 65 % ansteigen. Sehr deutlich zeigt sich der Zusammenhang zwischen Alter und Pflegerisiko bei den Pflegehäufigkeiten, die als Prozentanteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung in der jeweiligen Altersklasse berechnet werden. Während von den unter 60-Jährigen nur ca. 0,5 % pflegebedürftig sind, verdoppelt sich dieser Anteil für die Älteren jeweils in Fünfjahresschritten. Von den 90-Jährigen und älteren Baden-Württembergern muss bereits mehr als jeder Zweite gepflegt werden.

Die Lebenserwartung der weiblichen Bevölkerung ist in Baden-Württemberg um knapp 6 Jahre höher als die der Männer. Dies wirkt sich in den Besetzungszahlen der höheren, pflegerelevanten Altersgruppen deutlich aus. Fast genau zwei Drittel der pflegebedürftigen Personen sind Frauen, obwohl der Anteil der weiblichen Bevölkerung in Baden-Württemberg nur knapp über 50 % beträgt. Auffällig ist auch die insgesamt höhere Pflegebedürftigkeit der Frauen. Zum Jahresende 2005 lag die Pflegehäufigkeit der Frauen, also die Zahl der Leistungsempfänger bezogen auf die Bevölkerung, bei rund 2,7 %, während die der Männer nur 1,4 % betrug. Bis zur Altersklasse der 70- bis 74-Jährigen ist die Pflegehäufigkeit bei der männlichen Bevölkerung stets höher als bei der weiblichen. So sind zum Beispiel in dieser Altersklasse von 1 000 Männern 42 pflegebedürftig, bei den Frauen nur 39. Die Pflegehäufigkeit der Männer liegt ab dem 75. Lebensjahr stets niedriger als die der Frauen, wobei die Unterschiede mit zunehmendem Alter immer größer werden. In der Altersklasse der über 90-Jährigen waren von 1 000 gleichaltrigen Frauen 584 pflegebedürftig, bei den Männern dagegen nur 352 .

Ein wesentlicher Grund für diesen geschlechtsspezifischen Unterschied ist wohl, dass Frauen nach dem Tod des durchschnittlich älteren Partners häufig alleine leben und deshalb im Falle ihrer eigenen Pflegebedürftigkeit stärker auf professionelle Pflege angewiesen sind als Männer, die im Fall ihrer Pflegebedürftigkeit traditionell von ihren jüngeren Partnerinnen gepflegt werden (können). Männer werden im Fall eines plötzlich auftretenden Pflegebedarfs zum Beispiel nach einem Krankenhausaufenthalt zumindest vorübergehend von ihrer Partnerin gepflegt, während Frauen in der gleichen Situation viel schneller in eine stationäre Einrichtung eingewiesen werden.

Ergebnisse der Status-quo-Modellrechnung

Nach der Status-quo-Modellrechnung (i-Punkt) werden wir 2030 voraussichtlich rund 348 000 Pflegebedürftige haben. Gegenüber 2005 wäre dies eine Zunahme von 54 %, wobei der Anstieg je nach der Pflegeart unterschiedlich ausfällt. Die Zahl der ambulant Gepflegten würde um 66 % und die Zahl der stationär Untergebrachten um 65 % ansteigen. Der Anstieg der Zahl der Pflegegeldempfänger läge dagegen mit 41 % deutlich darunter.

Es ist zu vermuten, dass ein Anwachsen der Zahl der Pflegegeldempfänger in der prognostizierten Höhe überzeichnet ist. Die absehbare weitere Veränderung der Familienstrukturen dürfte dazu führen, dass die Pflege allein durch Angehörige immer weniger gewährleistet werden kann. Stärkere Frauenerwerbstätigkeit und die Notwendigkeit der beruflichen Mobilität des Einzelnen führt vermehrt dazu, dass der Wohnort der pflegebedürftigen Eltern und der Lebensmittelpunkt der Kinder räumlich auseinanderfallen, wodurch das private Pflegepotenzial abnimmt. Außerdem werden die rückläufigen Geburtenzahlen sowie wachsende Scheidungsraten die Zahl der möglichen Pflegepersonen im familiären Umfeld sinken lassen.

Nach den Ergebnissen der Modellrechnung wird die Zahl der pflegebedürftigen Männer stärker steigen als die der pflegebedürftigen Frauen. Bis 2030 errechnet sich – verglichen mit den Ergebnissen der Pflegestatistik 2005 – für die weibliche Bevölkerung ein Zuwachs an Pflegebedürftigen um 47 %. Die Zahl der männlichen Pflegebedürftigen stiege nach dieser Berechnung bis 2030 sogar um 70 %. Der hohe prozentuale Zuwachs bei den männlichen Pflegebedürftigen erklärt sich daraus, dass bei der männlichen Bevölkerung die Altersjahrgänge der über 75-Jährigen mit hohem Pflegerisiko aufgrund der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs nur schwach besetzt sind. Bis zum Jahr 2030 wächst jedoch eine Generation in diese Altersgruppe hinein, die den Krieg nicht mehr erlebt hat.

Pflegerisiko: Ab- oder Zunahme?

Für die Ermittlung des zukünftigen Pflegebedarfs wurde nach der Status-quo-Modellrechnung angenommen, dass sich die Pflegewahrscheinlichkeiten in der Zukunft nicht verändern. Aus den vorliegenden Ergebnissen der vergangenen 4 Erhebungen können zwar noch keine längerfristigen Entwicklungen abgeleitet werden. Erste Tendenzen deuten sich jedoch bei der Gegenüberstellung der Pflegewahrscheinlichkeiten der Erhebungen von 1999 bis 2005 bereits an. Danach sind die Pflegehäufigkeiten im betrachteten Zeitraum je nach Altersklasse, Geschlecht und Pflegeart zwar unterschiedlich, insgesamt aber um etwa 2 bis 3 % gesunken. Auch die Tatsache, dass die Lebenserwartung weiter zunehmen wird, weist in diese Richtung. Zum Zusammenhang zwischen längerer Lebenserwartung und dem Pflegerisiko werden zwei Thesen diskutiert. Die Komprimierungsthese geht davon aus, dass eine höhere Lebensdauer zum Hinausschieben der »kranken« Jahre führt; das heißt im Verhältnis zu den »gesunden« Jahren verkürzen sich die »Pflege«-Jahre. Demgegenüber geht die Expansionsthese davon aus, dass die gewonnenen Lebensjahre vollständig bzw. überwiegend in Demenz und Pflegebedürftigkeit verbracht werden müssen, der »krank« verbrachte Anteil an Lebenszeit also steigt. Die vorliegenden Ergebnisse in Baden-Württemberg unterstützen schwach die Komprimierungsthese. Wie groß der Anteil der gesunden Jahre an den hinzugewonnenen Jahren insgesamt sein wird, kann derzeit kaum abgeschätzt werden. Gegen ein spürbares Absinken der Pflegewahrscheinlichkeiten spricht allerdings, dass wir in Baden-Württemberg bereits die bundesweit niedrigsten Pflegequoten haben.

Nach den Ergebnissen der angepassten Modellrechnung mit leicht sinkenden Pflegewahrscheinlichkeiten würde bei anhaltender Entwicklung des Trends bis 2030 der auf 54 % angenommene Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen sich auf ca. 44 % verringern. Gegenüber der Status-quo-Vorausrechnung würde sich dann die Zahl der Pflegebedürftigen um rund 22 000 verringern (Schaubild 3). Auch wenn die hinter diesen Berechnungen stehenden Überlegungen doch sehr theoretisch sind, so verdeutlichen sie die Empfindlichkeit der Ergebnisse bereits auf leichte Veränderungen des Pflegerisikos.

Vorausrechnung auf Kreisebene

Die Planung von Infrastruktureinrichtungen zur Versorgung der Pflegebedürftigen in der Zukunft erfolgt laut Landespflegegesetz Baden-Württemberg in gemeinsamer Verantwortung des Landes sowie der Stadt- und Landkreise. Anhand der im Februar veröffentlichten kleinräumigen Bevölkerungsvorausrechnung und den Ergebnissen der Pflegestatistik 2005 nach Kreisen wurde der Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen in den Kreisen bis 2030 berechnet, soweit er durch die demografische Entwicklung bestimmt ist. In der Pflegestatistik erfolgt die regionale Zuordnung der Pflegebedürftigen in den stationären wie auch bei den ambulanten Einrichtungen nach dem Sitz der Einrichtung. Dadurch kann in der Betrachtung nach Kreisen sowohl die Anzahl der Gepflegten wie auch das Angebot an ambulanten Pflegedienstleistungen nicht mehr kreisgenau dargestellt werden. Ambulante Dienste versorgen über die Kreisgrenzen hinweg auch Pflegebedürftige in den Nachbarkreisen und ein entsprechendes Angebot stationärer Einrichtungen wird auch von Pflegebedürftigen aus den Nachbarkreisen in Anspruch genommen. Ein für die Statistik nicht quantifizierbarer Teil der beträchtlichen Unterschiede zwischen den Kreisen ist auf diese Umzugs- und Grenzeffekte zurückzuführen. Angesichts dieser Unterschiede der Pflegewahrscheinlichkeiten in den einzelnen Kreisen ist es fragwürdig, kreisscharf verlässliche Angaben über die Zahl der Gepflegten nach der Pflegeart zu berechnen. Sinnvoller könnte es sein, nicht einzelne Kreise isoliert zu betrachten, sondern angrenzende Kreise oder Regionen als Ganzes bei Planungen zu berücksichtigen. Andererseits ist zu bedenken, dass die jetzt bestehenden strukturellen Unterschiede zwischen den Kreisen auch mittelfristig noch Auswirkungen haben werden. Angesichts der methodischen Probleme müssen mehr oder weniger große Unsicherheiten für die Vorausrechnung auf Kreisebene in Kauf genommen werden. Daher wird auf die getrennte Darstellung des möglichen Zuwachses von Pflegebedürftigen nach Pflegegeldempfängern, von ambulanten Einrichtungen Versorgten sowie von stationär versorgten Personen verzichtet.

Große Unterschiede bei der Zahl der Pflegebedürftigen nach Kreisen

Zum Jahresende 2005 gab es große Unterschiede bezüglich des Anteils der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung in den einzelnen Kreisen. Die Spanne reichte von 16 bis 32 Pflegebedürftigen bezogen auf 1 000 der Bevölkerung. Die niedrigsten Werte wiesen die Landkreise Tübingen, Ludwigsburg und Böblingen mit je 13 Pflegebedürftigen auf, die höchste Quote erreichte der Neckar-Odenwald-Kreis (32 Pflegebedürftige), gefolgt von den Stadtkreisen Pforzheim und Baden-Baden mit je 31 Pflegebedürftigen. Aufgrund der Unterschiede im Altersaufbau ihrer Bevölkerungen kann generell davon ausgegangen werden, dass die Pflegequoten in den Stadtkreisen im Durchschnitt etwas höher sind als in den Landkreisen.

Bei den Vorausrechnungsergebnissen für die Kreise werden allein die Auswirkungen der demografischen Entwicklung dargestellt. Daher werden die Pflegehäufigkeiten konstant gehalten. Wie bei der Vorausrechnung für das Land wird unterstellt, dass das in den jeweiligen Kreisen in der jüngsten Erhebung festgestellte Pflegerisiko sich im Vorausrechnungszeitraum nicht verändert. Die errechneten Zuwächse in den Stadtkreisen liegen durchweg sehr deutlich unter dem Landesergebnis. Die geringsten Zuwächse bis 2020 ergeben sich für die Stadtkreise Stuttgart (+ 10 %), Heidelberg und Mannheim (je + 15 %). Mit Ausnahme von Baden-Baden weisen auch die anderen Stadtkreise Zuwachsraten von 16 bis 18 % auf. Die höchsten Zuwächse bis 2020 sind in den Landkreisen Heilbronn (+ 62 %), Böblingen (+ 53 %) sowie im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald (+ 50 %) zu erwarten.

Dieses zunächst überraschende Ergebnis ergibt sich nach Dominé und Schwarck1 aus der Beobachtung, dass in Kreisen bzw. Kommunen, deren Bevölkerung heute im Schnitt jünger ist, die Verschiebungen in den Altersgruppen dynamischer verlaufen. Die Gründe liegen in einer überdurchschnittlichen Abnahme der Geburtenüberschüsse, da überdurchschnittlich viele junge Menschen in ein höheres Alter »hineinwachsen«. Kommunen, in denen die Entwicklung derartig verläuft, stehen vor besonderen Herausforderungen. Am stärksten steigt das Durchschnittsalter in den Landkreisen Heilbronn, Tübingen und Biberach. In Kreisen, die bereits heute ein überdurchschnittliches Alter zeigen, wird der Alterungsprozess dagegen langsamer ablaufen. Dies trifft auf die meisten Stadtkreise Baden-Württembergs zu.

Folgen für den Bedarf an Personal in Pflegeeinrichtungen

Für die Versorgung der rund 125 000 Personen, die zum Jahresende 2005 von den Pflegeheimen und ambulanten Diensten in Baden-Württemberg betreut wurden, beschäftigten die Träger der Einrichtungen rund 92 500 Menschen als Voll- oder Teilzeitkräfte. Der Anteil der Frauen am Personal insgesamt betrug 85 %. Während von den Frauen fast 60 % in Teilzeit beschäftigt waren, traf dies bei den Männern lediglich auf 25 % zu. Ausgehend von der Zahl der hochgerechneten Pflegebedürftigen, die von ambulanten und stationären Einrichtungen versorgt werden, kann auf den möglichen zukünftigen Bedarf an Pflegekräften geschlossen werden. Diese Modellrechnung baut darauf, dass sich die Verteilung der Pflegebedürftigen nach der Pflegeart nicht wesentlich ändert. Dann würde sich bis 2030 der Bedarf an Pflegekräften und sonstigem Pflegepersonal um 65 % erhöhen und läge bei rund 153 000 Personen.

Nicht unproblematisch an dieser Berechnung ist allerdings der Anteil der Pflegegeldempfänger, also der Menschen, die zu Hause von ihren Angehörigen, Nachbarn oder Freunden gepflegt werden. Bedingt durch die sich ändernden gesellschaftlichen Bedingungen müssen wir davon ausgehen, dass das häusliche Pflegepotenzial weiter abnimmt, weil das dazu notwendige private Pflegepersonal (Partner/-innen, Töchter, Schwiegertöchter) immer seltener zur Verfügung stehen wird. Dadurch wird die professionelle Pflege stärker zunehmen und damit auch der hierfür notwendige Personalbedarf. Die unter Status-quo-Bedingungen vorausberechnete Zahl des professionellen Pflegepersonals ist deshalb als Mindestanzahl zu verstehen. Weitere Einflussfaktoren wie mögliche Veränderungen in den altersspezifischen Pflegerisiken, in der Bewertung von Pflegebedürftigkeit (Pflegestufen) oder in der Angebotsstruktur von professionellen Pflegeleistungen sind in diese Modellrechnungen nicht eingeflossen.