:: 9/2007

Verbraucherinsolvenzen 2006 in den kreisfreien Städten und Landkreisen Deutschlands

Die jüngste Zunahme der Zahl der Verbraucherinsolvenzen von 36 % in Baden-Württemberg und 34 % bundesweit und binnen Jahresfrist ist sicherlich ein Zeichen für eine wachsende Anzahl sozialer Problemlagen, aber noch mehr auch ein Indikator dafür, dass das Instrument der Verbraucherinsolvenz zunehmend bekannt und genutzt wird. Es gibt zahlreiche Hinweise für die bundesweite Zunahme von Armut und sozialen Problemlagen.1 Die Zunahme vollzieht sich inzwischen allerdings stetiger und nicht mit den extremen Veränderungsraten wie in den ersten Jahren nach der Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens. Die vorliegende Analyse basiert auf den Arbeiten von Christian Blume und Lothar Eichhorn vom Niedersächsischen Landesamt2 für Statistik.

Das Verbraucherinsolvenzverfahren – ein Überblick

Das Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren wurde im Januar 1999 eingeführt. Es dient dazu, die Schulden zahlungsunfähiger Privatpersonen abzubauen und ihnen eine Perspektive zu bieten nach einigen Jahren wieder mit einem ausgeglichenen Konto zu leben. Voraussetzung für die Verbraucherinsolvenz ist, dass der Schuldner vorher ernsthaft versucht hat, außergerichtlich die Angelegenheit zu klären. Falls der außergerichtliche Schuldenbereinigungsversuch nicht zu einer Einigung mit den Gläubigern führt, wird das Insolvenzverfahren eingeleitet. Das noch vorhandene Vermögen des Schuldners wird verwertet und unter den Gläubigern gleichmäßig verteilt. Das Restschuldbefreiungsverfahren schließt sich an das Verbraucherinsolvenzverfahren an, wenn kein Gläubiger die Versagung der Restschuldbefreiung beantragt. In der darauf folgenden sogenannten Wohlverhaltensphase wird der pfändbare Teil des Einkommens aus dem Verdienst oder den Bezügen von anderen Stellen eingezogen und durch einen Treuhänder auf die Gläubiger verteilt. Besonders wichtig ist, dass der Schuldner sich bemühen muss, gegebenenfalls eine Arbeit zu suchen, und alle seine wirtschaftlichen und persönlichen Veränderungen offen zu legen. Wenn die Restschuldbefreiung nicht vorzeitig versagt wird und auch nach Ablauf der Wohlverhaltensphase keine Restschuldversagungsgründe vorliegen, kann das Insolvenzgericht durch Gerichtsbeschluss die Befreiung des Schuldners von seiner Restschuld erklären. Die Gläubiger können eventuell weniger erhalten als ihnen eigentlich zusteht, aber oftmals lassen sie sich auf das Restschuldbefreiungsverfahren ein, da sie so die Aussicht haben überhaupt etwas zu erhalten. Am 1. Dezember 2001 wurde die Insolvenzordnung reformiert, und diese Novellierung schränkt die zeitliche Vergleichbarkeit ein. Von diesem Zeitpunkt an müssen Kleingewerbetreibende ein Regelinsolvenzverfahren und nicht mehr das vereinfachte Verfahren der Verbraucherinsolvenz durchlaufen. Insofern ist eine volle Vergleichbarkeit der Daten erst ab 2002 gegeben. Auch für ehemals selbstständig Tätige kann ab diesem Zeitpunkt ein vereinfachtes Verfahren in Betracht kommen; die Daten über ehemals Selbstständige sind aber in den im Folgenden dargestellten Zahlen über Verbraucherinsolvenzen nicht enthalten.

Zickzack bei der Verfahrenseinführung

In der Tabelle 1 wird deutlich, dass es im Insolvenzgeschehen einen drastischen Anfangsschub gab, der sich im Laufe der Jahre abschwächte. Der größte Sprung im Jahre 2000 lässt sich auf die Einführung dieses Verfahrens zurückführen, das dann erst im Laufe der Jahre bekannter und häufiger genutzt wurde. Erkennbar ist einerseits eine permanente Steigerung der Zahl der Verbraucherinsolvenzen, andererseits aber auch eine laufende Abschwächung der Zuwachsraten. Die Veränderungsraten in der Spaghettigrafik des Schaubilds 1 verdeutlichen diese unstetige Einführung und Inanspruchnahme des Verbraucherinsolvenzverfahrens in den Bundesländern. Betroffene, Justiz und Beratung scheinen die Verfahren mehr und mehr »in den Griff zu bekommen«.

Länderklischees werden kaum bedient

Für eine einigermaßen gesicherte Datenbasis werden für das Schaubild 2 langfristige Durchschnitte verwendet. Die stereotypen Bilder »schwacher Osten und starker Westen« oder »dualistische Stadtstaaten« werden nicht geboten, das einzige Klischee, das auf den ersten Blick bestätigt wird, findet sich in den wohlhabenderen südlichen Bundesländern Hessen, Baden-Württemberg und Bayern, für das sich die niedrigsten Quoten ergaben. Auch die folgenden aktuellsten Daten zur Insolvenzquote (Ins.Qu) und Arbeitslosenquote (Al. Qu) aus dem Jahr 2006 bestätigen das klischeefreie Bild.

Da es den Menschen im Süden finanziell nicht doppelt so gut geht wie im Norden, muss es andere Gründe für die Diskrepanzen geben. Eine Untersuchung der Bundesregierung3 aus dem Jahr 2005 belegt, dass Gebiete mit einer mangelhaften oder gar ungenügenden Betreuungsqualität auch die wenigsten Verfahren melden. Nach Lechner und Backert gilt »kurz und gut: Stadtluft macht frei, Entschuldung findet eher im Norden statt und eine hinreichende Dichte von Schuldnerberatern erleichtert die Eröffnung von Verbraucherinsolvenzverfahren.«

Regionale Verteilung der Verbraucherinsolvenzen 2006

Die Zahlen der Verbraucherinsolvenzen liegen bundesweit für kreisfreie Städte und Landkreise vor. Damit werden sie zu einem regionalisierbaren Indikator sowohl für die Ausprägung sozialer Problemlagen als auch für die Effektivität und den Umfang der Verfahrensabwicklungen.4 Die bundesweit 92 310 Verbraucherinsolvenzen des Jahres 2006 und darunter 8 809 in Baden-Württemberg sind in der thematischen Karte kreisweise auf die Einwohnerzahl5 bezogen, um die Ergebnisse der unterschiedlich großen Städte und Landkreise zu standardisieren und so miteinander vergleichbar zu machen. Aus Gründen der Anschaulichkeit wurde die Zahl der Verbraucherinsolvenzen auf 10 000 Einwohner bezogen.

Die Werte der einzelnen Kreise streuen von minimal 1,8 (Landkreis Riesa-Großenhain, Sachsen) bis maximal 57,3 (kreisfreie Stadt Pirmasens, Rheinland-Pfalz). Welche regionalen Grundstrukturen sind erkennbar und wie kommt die große Spannweite der Verteilung – der höchste Wert liegt fast 32-mal so hoch wie der niedrigste – zustande?

  • Die Verbraucherinsolvenzhäufigkeit ist im Allgemeinen in den kreisfreien Städten deutlich höher als in den Landkreisen. Vier kreisfreie Städte – Pirmasens (57,3), Delmenhorst (44,6), Bremen (36,2) und Wilhelmshaven (34,6) – liegen bundesweit an der Spitze der Verteilung. Klar erkennbar sind auch die kreisfreien Städte in Bayern und Rheinland-Pfalz, die sich durch höhere Insolvenzhäufigkeiten deutlich von ihrem ländlichen Umland abheben.
  • Durchschnittliche oder niedrige Insolvenzhäufigkeiten finden sich häufig in vergleichsweise dünn besiedelten Landkreisen. Hier gilt es nach Lechner und Backert vor allem in den südlichen bevölkerungsreichen Flächenländern Lücken bei der Betreuung von Überschuldeten zu schließen.
  • Insgesamt ist ein Süd-Nord-Gefälle erkennbar. Die weitaus meisten Gebiete mit sehr geringen Insolvenzhäufigkeiten (unter 5 pro 10 000 Einwohner) befinden sich im südlichen Teil der Republik. Dies ist nicht wirklich überraschend, denn der südliche Teil Deutschlands weist seit langer Zeit deutlich bessere Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten als der Norden, Osten und Westen auf.

Verbraucherinsolvenzhäufigkeit und Arbeitslosigkeit

Bundesweit ist zu vermuten, dass zumindest Teile des Insolvenzgeschehens von der Arbeitslosigkeit beeinflusst wird, denn diese scheint – neben familiären Problemen – die wichtigste Ursache für Armut und problematische Lebenslagen zu sein. Schaubild 3 zeigt den Zusammenhang der Arbeitslosenquote des Jahres 2005 mit der Insolvenzhäufigkeit des Jahres 2006. Der Zusammenhang ist nicht so deutlich, wie man vermuten könnte. Das liegt daran, dass es für die Überschuldung eines privaten Haushaltes auch andere Gründe als Arbeitslosigkeit geben kann. Zu nennen sind zum Beispiel Ehescheidung, Krankheit, unwirtschaftliches Verhalten, zu geringe Verdienste, sowie Kinderreichtum und dadurch ausgelöster Ausfall eines Verdieners. Auch ist es möglich, dass man sich in bestimmten Regionen an eine relativ hohe Arbeitslosigkeit und geringe Verdienste »gewöhnt« hat – die Überschuldung tritt ja oft dann ein, wenn völlig unverhofft die Einkommensquelle zum Beispiel durch Entlassung versiegt.

Aber das ist nicht alles. Einige Daten deuten darauf hin, dass das rechtliche Institut der Verbraucherinsolvenz noch nicht überall gleichermaßen angenommen und bekannt ist. Vielleicht ist dies auch darauf zurückzuführen, dass die Schuldnerberatungsstellen, zum Beispiel aufgrund von Personalmangel, nicht überall in gleicher Qualität arbeiten und nur reduzierte Öffnungszeiten anbieten können. Es gibt eine ganze Reihe von Regionen, in denen niedrige Verbraucherinsolvenzhäufigkeiten trotz sehr hoher Arbeitslosenquoten von mehr als 20 % auftreten. Das ist zum Beispiel in einigen sächsischen Landkreisen rund um Dresden der Fall.

Aus Sicht einer regionalen Armutsforschung kann dennoch Folgendes festgehalten werden: Hohe regionale Häufigkeiten von Verbraucherinsolvenzen gehen häufig mit einer im Bundesvergleich überdurchschnittlichen Arbeitslosenquote einher. Unter den 37 Regionen mit sehr hohen Verbraucherinsolvenzhäufigkeiten gibt es nur vier, deren Arbeitslosenquote leicht unter dem seinerzeitigen Bundesdurchschnitt von 11,7 % liegt. Umgekehrt deutet eine niedrige Häufigkeit der Verbraucherinsolvenzen entweder darauf hin, dass die wirtschaftlichen- und erwerbs- Chancen relativ gut sind oder, dass das Instrument der Verbraucherinsolvenz noch nicht »angekommen« ist. Wie oben erwähnt, deuten auch die hohen jährlichen Zuwachsraten auf die Tatsache hin, dass die durch die Verbraucherinsolvenz ergebenen Möglichkeiten zur Entschuldung von Jahr zu Jahr bekannter werden und das vollzieht bzw. vollzog sich in den Regionen Deutschlands unterschiedlich schnell.

Oben – Pirmasens, Delmenhorst
Unten – Riesa-Großenhain, Sächsische Schweiz und Olpe

Die extremen Wertepaare Insolvenzhäufigkeit und Arbeitslosenquote scheinen hier für eine exemplarische Betrachtung geeignet. Bundesweit wird die Rangskala von den kreisfreien Städten Pirmasens mit 57 und Delmenhorst mit 45 Verfahren je 10 000 Einwohner angeführt. Was gibt es für Gemeinsamkeiten zwischen Pirmasens und Delmenhorst? Beides sind Industriestädte, deren »mittlere Technologie« im weltweiten Wettbewerb nicht mehr standhalten konnte.

Pirmasens ist oder besser war Deutschlands »Schuhstadt«, das Zentrum der deutschen Schuhindustrie. Bis zu 30 000 Arbeitsplätze hatte Pirmasens in dieser Branche. Etwa seit 1970 wurden Schuhfabriken geschlossen oder ins Ausland verlagert, sodass nur noch Nischenproduktionen überlebten. Dazu kam in Pirmasens der Abzug des US-Militärs, der noch einmal den Abzug von etwa 10 000 Menschen und den Verlust von etwa 4 000 Arbeitsplätzen bedeutete. Die Arbeitslosenquote betrug 2006 im Jahresdurchschnitt 17,6 %.

Delmenhorst wurde groß und erlebte einen starken Zuzug von Arbeitskräften mit der Kork-, Jute-, Textil- und Linoleumindustrie. Die kleine »Ackerbürgerstadt« vor den Toren Bremens wuchs so von ca. 2 000 Einwohnern bis auf fast 80 000 an. 1981 aber musste die »Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei«, der bei weitem größte Arbeitgeber des Ortes, nach fast 100 Jahren schließen. 2006 hatte Delmenhorst eine Arbeitslosenquote von 17,4 %.

Beide Städte weisen heute hohe Arbeitslosenquoten auf; an die Stelle der weggefallenen industriellen Arbeitsplätze sind zu wenig Jobs im Dienstleistungsgewerbe getreten, und beide Städte haben eine Ballung sozialer Problemlagen und eine rückläufige Bevölkerungszahl.

Unter jenen 10 Stadt- und Landkreisen mit den höchsten relativen Verfahrenszahlen stellten Lechner und Backert für 6 Kreise – darunter Pirmasens – eine »sehr gute« und für Delmenhorst eine »befriedigende« Betreuungsqualität fest. Für 2 Kreise, darunter Wilhelmshaven attestierten sie allerdings eine ausreichende und für Neunkirchen sogar eine ungenügende Betreuung.

Am Ende der Skala, auf den vermeintlich günstigsten Plätzen mit nur 2 Insolvenzverfahren je 10 000 Einwohner, liegen die beiden sächsischen Kreise Riesa-Großenhain mit einer Arbeitslosenquote von 19,7 % und der Landkreis Sächsische Schweiz mit 17,4 %, sowie der Kreis Olpe im Sauerland mit vergleichsweise günstigen 7,8 % Arbeitslosen. Nach Lechner und Backert war 2005 die Betreuungsqualität im Landkreis Olpe mangelhaft und im Landkreis Sächsische Schweiz sogar »ungenügend«.

Uneinheitliches Bild in Baden-Württemberg

Für Baden-Württemberg ergibt sich auch kein eindeutiges Bild. Kreise mit Universitäten, altindustrialisierte Kreise, dienstleistungsorientierte und vom Fremdenverkehr geprägte Gebiete, Kreise mit einer hohen oder niedrigeren Kaufkraft finden sich im oberen wie im unteren Teil der Rangskala. Das Gleiche gilt für schwäbische, fränkische, kurpfälzische, vorderösterreichische und badische Kreise. Es bleibt die Vermutung, dass das Instrument der Verbraucherinsolvenzverfahren derzeit weniger von räumlichen als von administrativen Gegebenheiten beeinflusst wird. Arbeitslosigkeit ist individuell auch in Baden-Württemberg eine Ursache für Verbraucherinsolvenzen, regional lässt sich dies aber kaum belegen. Es gibt Kreise mit vergleichsweise hoher Arbeitslosigkeit wie in Stuttgart oder Heidelberg und gleichzeitig geringer Insolvenzhäufigkeit und umgekehrt Kreise mit hoher Insolvenzhäufigkeit und geringen Arbeitslosigkeitsquoten wie Ludwigsburg oder Emmendingen (Schaubild 6); dennoch ist auch in Baden-Württemberg grundsätzlich ein Zusammenhang zwischen der Situation auf dem Arbeitsmarkt und der Häufigkeit der Verbraucherinsolvenzen feststellbar.

Verschwommene räumliche Muster scheinen sich seit Jahren zum Charakteristikum Baden-Württembergs zu entwickeln. Was für die Insolvenzen gilt, gilt auch für demografische Kennziffern oder für Wohlstands- und Wirtschaftsindikatoren. Die früher noch erkennbaren strukturschwachen, industrialisierten oder dynamischen Gebiete lassen sich heute kaum noch eindeutig ausmachen.

1 Vgl. Eichhorn, Lothar/Huter, Jessica/Kandziora, Lara/Soyka, Dirk: Niedersächsischer Armuts- und Reichtumsbericht 2006, in: Statistische Monatshefte Niedersachsen 12/2006, S. 621 ff.

2 Blume, Christian/Eichhorn, Lothar: Verbraucherinsolvenzen 2006 in den kreisfreien Städten und Landkreisen Deutschlands, in: Statistische Monatshefte Niedersachsen 4/2007, S. 192 ff.

3 Vgl. Lechner, Götz/Backert, Wolfram: Dynamik des Verbraucherinsolvenzverfahrens. Regionale Disparitäten und aktivierende Wirkungen, in: Materialen zur Familienpolitik, Heft 21/2005.

4 Die Analyse basiert auf der Vorarbeit zahlreicher Institutionen: Die regionalen Daten über die Verbraucherinsolvenzen 2006 wurden bei den Statistischen Landesämtern erfragt, die Zeitreihe seit 1999 stellte das Statistische Bundesamt zur Verfügung. Die Daten über Arbeitslose und über die Einwohnerzahlen wurden der regionalstatistischen Bund-Länder-Datenbank »Statistik regional« entnommen. Die darin enthaltenen Daten über die regionalen Arbeitslosenquoten stammen von der Bundesagentur für Arbeit.

5 Einwohner am 31. Dezember 2004; aktuellere Kreisdaten standen deutschlandweit noch nicht zur Verfügung. Die Aussagekraft der Karte ist dadurch nicht beeinträchtigt.