:: 10/2007

Kurze Beine – kurze Wege?

Kinderbetreuung außerhalb der Wohngemeinde

Erwerbstätigen Eltern und manchem Arbeitgeber erscheint es als nahe liegende Lösung: Wenn am Arbeitsort, nicht aber am Wohnort die erforderliche Kinderbetreuung existiert, warum das Kind nicht an den Arbeitsort mitnehmen und dort betreuen lassen? In der Praxis wird sich das in Baden-Württemberg aber nur in den seltensten Fällen realisieren lassen. Was steckt hinter diesem Problem?

Theoretisch können Kinder sowohl an ihrem Wohnort als auch in einer anderen Kommune, zum Beispiel am Arbeitsort der Eltern betreut werden. Die Betreuung von Kindern außerhalb der eigenen Wohnsitzgemeinde ist nach Landesrecht unterschiedlich geregelt. Im Folgenden wird aufgrund der unvollständigen Datenlage und der Unvergleichbarkeit der landesspezifischen Angaben auf quantitative Angaben verzichtet. Neben gesetzlich oder per Verordnung gewährten Wahlrechten sind die entscheidenden Faktoren für die Ausübung des Wahlrechtes dessen Akzeptanz innerhalb der kommunalen Verwaltung, kostendeckende Ausgleichszahlungen zwischen Wohnsitz- und Standortkommune und ein bedarfsgerechtes Angebot an institutioneller Kinderbetreuung.

Die Betreuung am Arbeitsort der Eltern, zum Beispiel in einem Betriebskindergarten, ist pädagogisch nicht unumstritten. Wohnortnähe, kurze Wege für kurze Beine, Zugehörigkeitsgefühl, der spätere gemeinsame Übergang in die Grundschule – all das sind Argumente für die Betreuung am Wohnort. Darüber hinaus wird von kommunaler Seite ins Feld geführt, dass ein Abweichen von der Wohnortregelung die Bedarfsplanung deutlich erschwert und zum Vorhalten und damit auch Vorfinanzieren von später nicht nachgefragten Plätzen führt.

Diesen Argumenten steht entgegen, dass Familien Betreuungsplätze am Arbeitsort nachfragen, weil es neben einem grundsätzlichen Mangel an Betreuungsplätzen für unter 3-Jährige und Ganztagsplätzen für Kindergarten- und Schulkinder ein Stadt-Land-Gefälle gibt, das insbesondere im ländlichen Raum in Westdeutschland zu einer starken – rechnerischen – Unterversorgung führt, wie das DJI (Deutsches Jugendinstitut) für die Kleinkindbetreuung feststellte.1 Zudem bestehen vielfältige (Pendler‑)Verflechtungen und insbesondere für sehr junge Kinder wird Betreuung in Arbeitsplatznähe gesucht, um bei Bedarf schnell zur Stelle zu sein.

Gesetzliches Wahlrecht bzw. »De facto«-Regelungen

Wie sieht die Gesetzeslage in den einzelnen Bundesländern aus? Die Ausführungsgesetze der Länder (i-Punkt) kennen zum Teil genauere Bestimmungen des Wahlrechts. Eine Recherche zeigt eine große Bandbreite auf. In neun Bundesländern (Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) wird den Familien per Landesgesetz ein Wahlrecht eingeräumt, das nicht an den Wohnort gebunden ist.

So zum Beispiel in Sachsen-Anhalt: Nach § 3 des Kinderförderungsgesetzes haben die Leistungsberechtigten »das Recht, im Rahmen freier Kapazitäten zwischen den verschiedenen Tageseinrichtungen am Ort ihres gewöhnlichen Aufenthaltes oder an einem anderen Ort zu wählen. (…)«.2 Berlin und Brandenburg haben durch Staatsvertrag zusätzlich Fälle geregelt, bei denen die Landesgrenze überschritten wird. Baden-Württemberg, Niedersachsen und Bremen regeln per Verordnung bzw. Empfehlung die Verpflichtung zur Leistung von Ausgleichszahlungen.3 Bremerhaven regelt den Sonderfall, dass der Arbeitgeber der Eltern den kommunalen Anteil trägt.4 Hamburg schließt mit Umlandgemeinden Betreuungsvereinbarungen per Einzelfallentscheidung ab und ermöglicht alternativ Selbstzahlerregelungen.5 Die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Saarland sind von der Betreuungsproblematik ortsfremder Kinder innerhalb von Landkreisen weniger betroffen, weil die Kommunen an der Finanzierung nur in ihrer Funktion als Einrichtungsträger oder im Falle kreisfreier Gemeinden als örtlicher Jugendhilfeträger beteiligt sind. Außerdem können in Nordrhein-Westfalen aufgrund der gruppen- bzw. einrichtungsbezogenen Förderung freie (bereits ausfinanzierte) Plätze ohne Mehrkosten vergeben werden.6 In Rheinland-Pfalz wurde eine Sonderregelung für Betriebskindergärten erlassen; das Land übernimmt einen Ausgleich.7

Der Umgang mit den Wünschen der Eltern

Neben der gesetzlichen Gewährung eines Wahlrechts sind die Voraussetzungen zur Ausübung bedeutsam. Ein globales Wahlrecht bieten Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen. Allerdings haben sich in Schleswig-Holstein auf dem Klageweg innerhalb der letzten 10 Jahre zwei Kriteriengruppen für einen Anspruch auf die Ausübung des Wahlrechts herausgebildet. Gerichte beschieden insbesondere in Fällen besonderer inhaltlicher/pädagogischer Konzepte und bei Bedarf nach bestimmten Betreuungszeiten die Anliegen der Eltern positiv.8 Ähnliche direkte oder indirekte Kriterien für die Anerkennung einer auswärtigen Betreuung kennen auch die Gesetze bzw. Verordnungen aus Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und der Staatsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg.

Damit das Wahlrecht kein Papiertiger bleibt, sind die Möglichkeiten der Kommunen das Ansinnen abzuweisen, entscheidend. In Baden-Württemberg müsste eine Wohnortkommune laut den Hinweisen zur KiTaGVO zwar nachweisen, dass sie für das Kind einen Ganztagsplatz bereitstellen kann, dessen Betreuungszeiten die Arbeitszeit und die Fahrzeit der Eltern abdecken, allerdings existiert nur ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. In Bayern ist die Kommune zu einer stufenweisen Prüfung verpflichtet; sieht sie in ihrer Bedarfsplanung aber zukünftig eine Bedarfsdeckung vor, können Eltern zum jetzigen Zeitpunkt zum Beispiel auf einen 6‑Stundenplatz verwiesen werden, auch wenn sie einen Ganztagsplatz nachgefragt haben. Allerdings scheint es in der Praxis ein Entgegenkommen der Gemeinden zu geben und erste Gerichtsentscheide9 stärken das Wahlrecht der Eltern, indem sie den Ermessens- und Beurteilungsspielraum der Kommunen begrenzen.10

In Schleswig-Holstein können Kommunen, die den nachgefragten institutionellen Betreuungsplatz nicht zur Verfügung stellen können, Eltern als Alternative Tagespflegeplätze anbieten, unabhängig von den damit für die Eltern verbundenen Kosten, die teilweise die zwei- oder dreifache Höhe der Kosten für einen Krippen- oder Kindergartenplatz betragen können. Neben der vorgeschriebenen Beachtung von Mehrkosten nach SGB VIII §5 (2) bei der Abwägung, besteht zum Beispiel nach dem bayerischen Landesgesetz die Möglichkeit, Mehrkosten auf die Eltern umzulegen.11 Darüber hinaus ist in einigen Gesetzestexten ausdrücklich vorgeschrieben, dass die Kommunen über das Wahlrecht beraten müssen, zum Beispiel in Brandenburg und Schleswig-Holstein.

Akzeptanz, bedarfsgerechtes Angebot und Ausgleichsbeträge

Das ist der Maßnahmenmix, der sich bei einer Recherche auf Landesebene für Bundesländer, die eine kommunale Finanzierungsbeteiligung vorsehen, als förderlich herausstellt. Die geringsten Probleme mit der Betreuung ortsfremder Kinder sind feststellbar, wenn ein Landesgesetz ein globales Wahlrecht einräumt und dieses auf kommunaler Ebene allgemein akzeptiert ist, sodass nicht der Klageweg beschritten wird. Über Einflüsse auf die Akzeptanz kann an dieser Stelle nur spekuliert werden, die allgemeinen Einstellungen zur außerhäuslichen Kinderbetreuung, zur wohnortnahen Betreuung und zu Pendlerverflechtungen mögen Einfluss haben.

Damit das Wahlrecht mit Leben gefüllt werden kann, ist ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot erforderlich oder wie es von einer Mitarbeiterin des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales formuliert wurde, ein Wahlrecht funktioniert nur bei einem ausreichend großen Angebot.12 So wird dann auch in den drei westdeutschen Flächenländern Bayern, Hessen und Schleswig-Holstein der Umgang mit dem Wahlrecht deutlich konfliktträchtiger als von den ostdeutschen beschrieben. Eine flächendeckend deutlich bessere Versorgung mit Kinderbetreuungsangeboten, wie in Ostdeutschland, scheint nicht zur Folge zu haben, dass die Kinder durchweg an ihrem Wohnort betreut werden, also kann das Problem auch im Hinblick auf die eingangs erwähnten pädagogischen Bedenken, anders als vielleicht vermutet, nicht durch eine Bedarfsdeckung gelöst werden.

Falls nach Landesrecht eine kommunale Finanzierungsbeteiligung vorgesehen ist, ist die Festlegung kostendeckender Ausgleichsbeträge (i-Punkt) das A und O, ansonsten entsteht auch bei grundsätzlicher Akzeptanz des Elternwunsches Konfliktstoff.13 Ausgleichsbeiträge sind dann kostendeckend, wenn sie den Gegenwert des ausfallenden kommunalen Finanzierungsanteils ersetzen. Nur so besteht für ortsfremde Kinder überhaupt die Chance auf eine Aufnahme. Andererseits dürfen die Wohnsitzkommunen nicht stärker als durch ein vergleichbares eigenes Angebot belastet werden. Auch zur Begrenzung des Abrechnungsaufwandes kann die Lösung nur in pauschalierten Beträgen liegen. Für deren Berechnung ist eine detaillierte Kenntnis der Kosten unterschiedlicher Angebotsformen erforderlich. Ansonsten bleibt als Stellschraube zur Schließung der Deckungslücke nur der Elternbeitrag. Beispielsweise erhebt die Stadt Gotha in Thü-ringen für ortsfremde Kinder einen Gastkinderbeitrag, obwohl sich das dortige Kultusministerium gegen die Erhebung von zusätzlichen Beiträgen ausgesprochen hat.14 Unvermeidbar erscheint der hohe Verwaltungsaufwand für die Abrechnung von Ausgleichsbeträgen, der insbesondere für Oberzentren Zahlungsvorgänge mit einer Vielzahl von Umlandgemeinden zur Folge haben kann.15

Da umfassende Wahlmöglichkeiten zu einem vermehrten Wettbewerb und Ausdifferenzierungen von Einrichtungsprofilen, Neugründungen in größeren und Schließungen in kleineren Kommunen führen können,16 ist eine Regelung für den Standorterhalt kleiner Einrichtungen im ländlichen Raum zu erwägen.

Die Trennlinie zwischen den Landesregelungen mit und ohne Wahlmöglichkeit verläuft nicht entlang der Objekt- oder Subjektfinanzierungsform (i-Punkt Seite 18). Subjektfinanzierte Systeme sind den objektfinanzierten in dieser Frage nicht eindeutig überlegen. Auch in Bayern im einzigen Flächenland, das auf eine Subjektfinanzierung umgestellt hat, zeigen sich die Akzeptanz des Elternwunsches, die Knüpfung an Kriterien und die Ausgleichszahlungen als die entscheidenden Komponenten.

Die Betreuung ortsfremder Kinder am Arbeitsort der Eltern ist ein Standortfaktor, mag man sich im Lokalen Bündnis für Familie in Weil am Rhein gedacht haben, denn dort hat der Beitritt von Unternehmen zum Lokalen Bündnis mindestens eine ganz praktische und sehr vorteilhafte Auswirkung. Auch auswärtige Mitarbeiterkinder können in Weil am Rhein den Kindergarten besuchen, eine Vereinbarung zwischen Stadt und Unternehmen macht es möglich.

1 Siehe Bien, Walter/Rauschenbach, Thomas/Riedel, Birgit: Wer betreut Deutschlands Kinder? DJI-Betreuungsstudie, München 2007, S. 11f.

2 Gesetz zur Förderung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege des Landes Sachsen-Anhalt (Kinderförderungsgesetz – KiFöG) vom 5. März 2003 (GVBl. LSA 2003 S. 48). Stand: 12. November 2004.

3 Aussagen zur Situation in Bremen sind nur bedingt möglich, da sich nur die Stadt Bremerhaven, nicht aber die Hansestadt Bremen zum Vorgang geäußert hat.

4 Telefonische Auskunft des Jugendamtes der Stadt Bremerhaven vom 16. April 2007.

5 Telefonische Auskunft der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz der Hansestadt Hamburg vom 15. März 2007.

6 Telefonische Auskunft des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen vom 6. März 2007.

7 §10 (4) Kita.

8 Telefonische Auskunft des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes Schleswig-Holstein vom 7. März 2007.

9 BayVGH vom 23. August 2006, Aktenzeichen 12CE06.1468.

10 Telefonische Auskunft des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen vom 5. März 2007.

11 §23 (4)2 BayKiBiG.

12 Telefonische Auskunft des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales vom 14. März 2007.

13 Telefonische Auskunft des Ministeriums für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt vom 14. März 2007.

14 www.bessere-familienpolitik.de: Pressemitteilung vom 4.5. 2007 und Gebührensatzung über die Benutzung der Kindertageseinrichtungen in kommunaler Trägerschaft der Stadt Gotha (11. Juli 2007, PDF).

15 Telefonische Auskunft des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales vom 14. März 2007.

16 Telefonische Auskunft des Thüringer Kultusministeriums vom 23. Februar 2007.