:: 1/2008

Armut und Reichtum in Deutschland

Eine kritische Betrachtung der »Einkommensarmut«

Armut und Reichtum lassen sich mit dem Einkommen allein nicht hinreichend erfassen. Amartya Sens Ansatz1 der Verwirklichungschancen, den die Bundesregierung als neuen Orientierungsrahmen ihrer Armuts- und Reichtumsberichterstattung verwendet, stellt eine geeignete Alternative dar. Sie zeigt, dass der Umfang gesellschaftlicher Ungleichheiten das Ausmaß der Einkommensungleichheiten nicht selten übertrifft. Hierauf aufbauend lässt sich eine chancenorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik konzipieren.

Grundlage des hier veröffentlichten Beitrags ist ein Vortrag von Prof. Dr. Volkert im Rahmen des diesjährigen Statistischen Kolloquiums in Hohenheim.

Untersuchungen zum Thema Armut und Reichtum setzen eine Vorstellung darüber voraus, was unter Armut und Reichtum jeweils zu verstehen ist. So gibt es bis heute eine Reihe unterschiedlichster Armutsmaße und -definitionen. Sie stimmen meist darin überein, dass der Begriff der Armut »einen Mangel an etwas Wesentlichem« darstellen soll. Damit stellt sich aber die kontrovers diskutierte Grundsatzfrage, was als wesentlich für das Wohlergehen eines Menschen anzusehen ist.

Fragwürdige Einkommensarmutsmaße

Traditionelle Ökonomen unterstellen als Maßstab für das Wohlergehen den Nutzen. Allerdings ist der Nutzen als Maß einer solchen utilitaristischen Nutzenorientierung kaum mess- und vergleichbar. Als Alternative wird daher häufig das Einkommen herangezogen. Wird das Einkommen als wesentlicher Maßstab des Wohlergehens angesehen, so ist Armut (lediglich) als Einkommensarmut zu operationalisieren. Beispielsweise sind nach der Definition der Europäischen Union all jene Bürgerinnen und Bürger einem sogenannten »Einkommensarmutsrisiko« ausgesetzt, die über weniger als 60 % des Medianeinkommens2 verfügen. Folgende Gruppen sind hiervon entsprechend betroffen3:

Paare mit mindestens 3 Kindern:13,9 %
Kinder:15,0 %
Alleinerziehende:35,4 %
Migranten:24,0 %
Arbeitslose:40,9 %
Bevölkerung insgesamt:13,6 %

Allerdings sind solche einfachen Einkommensarmutsmaße sehr umstritten. So mangelt es beispielsweise dieser EU-Einkommensarmutsrisikoschwelle an wissenschaftlicher Fundierung, ist sie doch letztlich willkürlich gewählt. Fraglich ist ferner, ob ein Einkommensarmutsrisiko für alle EU-Mitgliedsstaaten mit demselben (60 %-)Anteil am Medianeinkommen identifiziert werden kann. So mögen in manchen Ländern mit sehr begrenzter sozialer Sicherung selbst mehr als 60 % des Medianeinkommens nicht einmal ausreichen, um alles für das eigene Wohlergehen Wesentliche gewährleisten zu können. In Ländern mit umfassenden Sozialleistungssystemen und sozialen Netzen kann dies dagegen bereits mit weniger als 60 % des Medianeinkommens gelingen. Zudem ist unklar, inwieweit Einkommensarmutsrisiken zu Einkommensarmut führen. Insofern mangelt es der Europäischen Union, und mit ihr auch Deutschland, aufgrund der alleinigen Verwendung eines Einkommensarmutsrisikomaßes an einem Indikator für die Einkommensarmut selbst. Grundsätzlicher stellt sich die Frage, inwieweit von Einkommensungleichheiten überhaupt auf Armut als einen Mangel an etwas Wesentlichem geschlossen werden kann.

Ungleichheiten, Gerechtigkeit und hohe Einkommen

Solche grundlegenden Fragen lassen sich nur mit ethischen Überlegungen beantworten. Sie geben zugleich Hinweise auf die Notwendigkeit und Funktionen einer Reichtumsanalyse. So sind Ungleichheiten im Allgemeinen und Einkommensungleichheit im Besonderen zu rechtfertigen, wenn sie, etwa Rawls4 Differenzprinzip entsprechend, den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. In welchem Maß Ungleichheiten als Leistungsanreize erforderlich sind, um die am wenigsten Begünstigten so gut wie möglich zu stellen, hängt vor allem von den Möglichkeiten und Reaktionen der Wohlhabenden ab. Insofern lässt sich die Frage der sozialen Gerechtigkeit, die auch im Zentrum der deutschen Armutsberichterstattung steht, nur unter Einbeziehung des Reichtums beantworten. Hinzu kommt, dass gesellschaftspolitische Ungerechtigkeiten die soziale Stabilität gefährden können, sodass auch in dieser Hinsicht eine Armuts- und Reichtumsanalyse sinnvoll ist. Nicht zuletzt lassen sich Armutsursachen und Möglichkeiten zur Armutsvermeidung und -überwindung präziser einschätzen, wenn Situation und Potenziale wohlhabender Personen bekannt sind. All dies mag Anlass dafür gewesen sein, dass die Bundesregierung für Deutschland im Jahr 2001 nicht nur eine Armuts-, sondern auch eine Reichtumsberichterstattung eingeführt hat.

Nach dieser Reichtumsberichterstattung haben in Deutschland 0,01 % der Bevölkerung ein Einkommen von mehr als einer Million Euro pro Jahr und verfügen über 2,4 % des Gesamteinkommens. 5,9 % der Bevölkerung in Deutschland beziehen mindestens das Doppelte des Medianeinkommens und damit über 22,7 % des Gesamteinkommens. Jedoch werfen solche Einkommensreichtumsmaße erneut die Grundsatzfrage auf, ob das Einkommen allein entscheidend für das menschliche Wohlergehen ist – oder ob hierbei auch gesellschaftliche Aspekte eine Rolle spielen.

John Rawls5 hat in seiner Theorie der Gerechtigkeit als Fairness Wohlergehen als eine umfassende Ausstattung mit sogenannten »Grundgütern« charakterisiert. Zu diesen Grundgütern gehören – über Einkommen und Besitz hinausgehend – Grundrechte und Grundfreiheiten, Freizügigkeit und freie Berufswahl, berufliche Befugnisse und Vorrechte sowie die Selbstachtung (Selbstwertgefühl, Vertrauen in die Realisierbarkeit eigener Lebenspläne). So hängt das Wohlergehen eines Menschen bei gegebenem Einkommen auch davon ab, ob er in eine Gesellschaft integriert ist oder ausgegrenzt wird. Menschliches Wohlergehen lässt sich somit nur schwerlich allein mit dem Einkommen und ohne die Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedingungen charakterisieren. Aufbauend auf Rawls hat der Ökonomienobelpreisträger Amartya Sen ferner die Bedeutung der sogenannten »personellen Umwandlungsfaktoren« für das menschliche Wohlergehen betont. Zu ihnen gehören unter anderem Gesundheit, Bildung sowie das Alter und Geschlecht. Beispielsweise ist für das Wohlergehen eines Menschen, bei gleichem Einkommen und gleichen gesellschaftlichen Bedingungen, dessen individuelle Gesundheit maßgeblich dafür, inwieweit Einkommen und Vermögen in eigenes Wohlergehen umgewandelt werden können. Einkommen und Vermögen, gesellschaftlich bedingte Chancen sowie personelle Umwandlungsfaktoren stellen nach Amartya Sens sogenanntem Capability-Ansatz wesentliche Bestimmungsfaktoren der menschlichen Verwirklichungschancen dar.

Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen

Verwirklichungschancen sind »Möglichkeiten oder umfassende Fähigkeiten« (»Capabilities«) von Menschen, ein Leben führen zu können für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht infrage stellt6. Armut stellt dementsprechend einen Mangel, Reichtum ein sehr hohes Maß an Verwirklichungschancen dar. Die Bundesregierung hat in ihrem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht7 Amartya Sens Konzept der Verwirklichungschancen als Orientierungslinie für die weitere Berichterstattung angekündigt. Damit stellt sich aber zugleich die Frage nach den wesentlichen Bestimmungsfaktoren dieser Verwirklichungschancen.

Grundsätzlich lassen sich »Individuelle Potenziale« von »Instrumentellen Freiheiten« (Synonym: »gesellschaftlich bedingte Chancen«) unterscheiden. Individuelle Potenziale umfassen wesentliche Faktoren, die in jede Gesellschaft mitgenommen werden können (oder müssen), etwa eigenes Einkommen, eigene Güter sowie die personellen Umwandlungsfaktoren. Innerhalb der instrumentellen Freiheiten sind über die sozialen Chancen (Zugang zu Bildungs- und Gesundheitssystem, zu angemessenem Wohnraum, sozialen Netzen etc.) hinaus vor allem die ökonomischen Chancen (Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zu Kapital), sozialer Schutz (Schutz vor Notlagen und Kriminalität sowie Gewalt), ökologischer Schutz sowie politische Chancen wesentlich. So hängt es von den politischen Rechten und Chancen ab, inwieweit die Armutsbevölkerung ihre Belange in politischen Entscheidungen artikulieren kann oder von politischen Eliten dominiert wird. Damit diese formalen gesellschaftlich bedingten Chancen tatsächlich in Anspruch genommen werden können, bedarf es hinreichender Transparenzgarantien. So lassen sich all diese Chancen nur nutzen, wenn sie den Berechtigten bekannt und verständlich sind und nicht durch korrupte oder bürokratische Verfahren eingeschränkt werden.

Dimensionen der Ungleichheit

Neuere Untersuchungen zu den wesentlichen Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen dokumentieren sehr deutlich die Notwendigkeit eines solchen mehrdimensionalen Maßes zur Bestimmung menschlichen Wohlergehens. So zeigt Schaubild 18 zunächst nur einen relativ geringen Unterschied in der Einkommens- und Vermögensarmut von Frauen und Männern in Deutschland9. Sehr viel mehr Frauen mangelt es dagegen an Verwirklichungschancen hinsichtlich der Bildung, wobei diese Ungleichheiten vorwiegend auf Bildungsdefizite von älteren Frauen zurückzuführen sind. Nach wie vor sehr ausgeprägt sind dagegen die Unterschiede der politischen Chancen, die hier als politische Beteiligung gemessen werden sowie der ökonomischen Chancen. Der deutliche Unterschied in den ökonomischen Chancen von Frauen ergibt sich daraus, dass sie häufiger zu Niedriglöhnen arbeiten oder, auch aufgrund von Teilzeit, trotz Erwerbstätigkeit keine Einkommen erreichen, die über die Einkommensarmutsrisikoschwelle hinausgehen. Ein umfassendes Konzept der Verwirklichungschancen zeigt das Ausmaß von Armut und Ungleichheiten somit präziser, da nicht-finanzielle Ungleichheiten oft ausgeprägter sind als die gemessenen Einkommensungleichheiten.

Vor allem Bildungsunterschiede sind eine wesentliche Ursache der unterschiedlichen Betroffenheit von Armut als Mangel an Verwirklichungschancen10. Es ist daher besonders problematisch, dass in Deutschland von 100 Kindern aus sozial »niedrigen« Herkunftsgruppen nur 36 hochschulführende Schulen erreichen und von diesen 36 Kindern nur 11 am Ende tatsächlich einen Hochschulzugang erlangen. Schließlich kommen von 100 Kindern aus sozial »hohen« Herkunftsgruppen 85 auf hochschulführende Schulen und von diesen 85 Kindern erhalten 81 auch einen Hochschulzugang11.

Darüber hinaus wird die Notwendigkeit eines solchen mehrdimensionalen Ansatzes auch bei einer Analyse des Reichtums an Verwirklichungschancen deutlich. So scheinen auch hier zwischen Frauen und Männern keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich des Einkommens- und Vermögensreichtums zu bestehen12. Schaubild 2 zeigt dagegen deutlichere Unterschiede in den Bereichen der ökonomischen und politischen Chancen, der Bildung sowie der sozialen Chancen und Gesundheit.

Noch erheblichere Unterschiede zeigen Elitestudien für den Zugang zu Spitzenpositionen in der deutschen Wirtschaft. So ist die Chance, in den Vorstand eines deutschen Unternehmens berufen zu werden – bei sonst gleichen Voraussetzungen, etwa hinsichtlich der Bildung – bei Männern zehnmal höher als bei Frauen. Jedoch zeigt Hartmann13 ferner, dass auch die Chance auf einen Vorstandsposten in Spitzenunternehmen der deutschen Wirtschaft – erneut unter sonst gleichen Voraussetzungen – bei Bewerbern aus dem Großbürgertum zweieinhalb mal höher ist als bei einer Herkunft aus der Arbeiterklasse oder den Mittelschichten.

Fazit

Die derzeitigen Einkommensarmutsmaße Deutschlands und der EU sind methodisch höchst fraglich und in ihrem Aussagegehalt »close to meaningless14«. Dies gilt ebenso für die noch gängigen deutschen Einkommensreichtumsmaße. Sie weisen nicht allein eine Reihe technischer Mängel auf, sondern verkennen, dass menschliches Wohlergehen nicht mit dem Einkommen allein erfasst werden kann. Die Bundesregierung hat mit der Neuorientierung ihrer Armuts- und Reichtumsberichterstattung an Amartya Sens Konzept der Verwirklichungschancen einen Ansatz gewählt, der eine angemessen weite Sichtweise zugrunde legt15. Dabei zeigt sich, dass Einkommensungleichheiten das gesamte Spektrum und Ausmaß der Armut sowie des Reichtums nur unzureichend wiedergeben.

Der Ansatz der Verwirklichungschancen eignet sich sehr gut als Grundlage einer chancenorientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik, die auch bedarfsgerechte Hilfe in Notlagen umfasst. Dabei erweisen sich Bildungschancen empirisch als bedeutendste Bestimmungsgrößen für alle weiteren Elemente der Verwirklichungschancen. Daraus folgt, dass der Zugang zu Bildung von größter Bedeutung ist, um Armut zu überwinden und gesellschaftliche Aufstiegschancen zu eröffnen. Darüber hinausgehend verweist der Ansatz allgemein auf jene Bereiche, in denen die Verbesserung gesellschaftlich bedingter Chancen eine höhere Wirksamkeit verspricht als eine reine Einkommensumverteilung.

1 Arndt, C./Volkert, J.: Amartya Sens Capability-Approach – ein neues Konzept der deutschen Armuts- und Reichtumsberichterstattung, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, No. 1/2006. (Zitierweise: Capability-Approach).

2 Das Medianeinkommen sagt aus, dass die Hälfte der Einkommensbezieher mehr und die andere Hälfte weniger als den angegebenen Wert beziehen.

3 Datenquelle: Bundesregierung; Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht. Drucksache 15/5015, Berlin 2005. 100 % sind alle Personen in der jeweiligen Gruppe.

4 Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 4. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988. (Zitierweise: Gerechtigkeit)

5 Rawls, J.: Gerechtigkeit.

6 Sen, A.: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Hanser Verlag, München, Wien 2000; S. 19.

7 Bundesregierung: Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht. Drucksache 15/5015, Berlin 2005.

8 Eine vollständige Liste der Indikatoren, mit denen die einzelnen Dimensionen erfasst wurden ebenso wie eine Diskussion über deren Aussagefähigkeit und Grenzen finden sich in Arndt/Volkert, Capability-Approach.

9 Die geringen Unterschiede in der Einkommensarmut von Männern und Frauen sind vor allem eine Ursache des Haushaltskonzepts. Schließlich werden die Haushaltseinkommen bei Mehrpersonenhaushalten in der Regel lediglich über Äquivalenzziffern verrechnet, wobei unterstellt wird, dass Männer und Frauen über die jeweils gleichen Anteile verfügen.

10 Arndt, C./Volkert, J.: A Capability Approach for Official German Poverty and Wealth Reports: Conceptual Background and First Empirical Results, IAW-Discussion Paper No. 27, 2007.

11 Vgl. Bundesregierung, Armut und Reichtum, S. 95. Schneider hat gezeigt, dass die unterschiedlichen Bildungs-chancen nicht auf unterschiedliche Einkommen, sondern auf unterschiedliche Bildung der Elternhäuser zurückzuführen sind. Schneider,T.: Der Einfluss des Einkommens der Eltern auf die Schulwahl. DIW Discussion Papers. 446; 2004.

12 Schließlich werden auch hier die Haushaltseinkommen herangezogen, ohne zu berücksichtigen, wer die Einkommen erzielt oder wem die Vermögen gehören.

13 Hartmann, M.: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/Main: Campus 2002; S. 202–204.

14 Gordon, D.: Measuring absolute and overall poverty, in D. Gordon and P. Townsend (Eds.), Breadline Europe, The Policy Press, Bristol 2000.

15 Sens Capability-Ansatz weist deutliche Parallelen zum Lebenslagen-Ansatz auf, mit dessen Analysen er ohne große Schwierigkeiten vereinbar ist. Spezielle Vorteile von Sens Ansatz im Vergleich zum Lebenslagen-Ansatz sind die stringente Verbindung seiner ethischen Grundlagen mit der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Umsetzung, die fundiertere Berücksichtigung der Bedeutung politischer Chancen und vor allem der erheblich größere internationale Bekanntheitsgrad (Arndt/Volkert 2006).