:: 5/2008

Lebenserwartung und Leibrente

Zu den großen Errungenschaften unserer Zivilisation zählt der Zugewinn an Langlebigkeit der Menschen. Immer mehr Menschen erreichen heutzutage ein hohes Alter. Die maximal zu erwartende Lebensdauer veränderte sich nur unwesentlich. Erst allmählich beginnt sich die Gesellschaft auf die längere Lebensdauer des modernen Menschen einzustellen. Lange Zeit haben die Experten der Deutschen Aktuarsvereinigung die Langlebigkeit der Deutschen zu gering angesetzt. Der Beitrag beruht auf Veröffentlichungen des Bayerischen Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung.1

Die längere Lebenszeit ist einerseits erfreulich, hat aber andererseits auch ihren Preis, und so kommt dem Kapitalbedarf im Alter ein bedeutender Stellenwert zu. Es überrascht daher nicht, dass die Altersvorsorge zu den drängenden Problemen gezählt wird. Die gebräuchlichste Form der privaten Rentenversicherung ist die Leibrente (Lebensrente), die bis zum Lebensende des Versicherten bezahlt wird. Lebenserwartung und Leibrente – eine Alliteration? Lebenserwartung wird zum Schlüsselbegriff unserer Zeit.

Die Höhe einer Leibrente prägen die mittlere Lebenserwartung und der Zinsfuß. Der Abschluss eines Geschäfts auf Leibrentenbasis mag manchem als eine Wette vorkommen. Gewiss kommt dabei die Spekulation mit ins Spiel, da man nicht weiß, wie lange die Zahlungsverpflichtung besteht. Bei dieser Art von Geschäften spielt die fernere mittlere Lebensdauer eine wichtige Rolle. Die steigende Lebenserwartung führt zu einer zeitlich länger anhaltenden Zahlungsverpflichtung. Daher müssen die zu vereinbarenden Rentenzahlungen angemessen bewertet sein. Für die Leibrentengeschäfte sind Versicherungsbarwerte erforderlich. Sie gewinnt man anhand der Absterbeordnung einer Sterbetafel (Überlebende im Alter x).

1785 erstmals Berechnungen des Versicherungsbarwertes durch Tetens

Die Berechnung der Versicherungsbarwerte für Leibrenten wurde in Deutschland erstmals 1785 von Johann Nicolaus Tetens (1736–1807) durchgeführt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass 200 Jahre vor Tetens schon Simon Stevin (1548–1620) diskontierte Zahlen vorlegte. Während Stevin für seine Berechnungen den Betrag von 10 Mill. wählte, verwendete Tetens die Anzahl der Überlebenden nach der Absterbeordnung von Peter Süßmilch (1707–1767). Den Berechnungen von Stevin und Tetens liegt jeweils der Diskontierungsfaktor 1—qn zugrunde. Die Arbeiten von Stevin verdienen umso mehr Beachtung, weil erst 100 Jahre später Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) bemerkte: »Für höhere Potenzen werden wir Logarithmen zur Anwendung bringen, …«.

In diesem Kontext sei an die beeindruckenden Arbeiten von Charles Babbage (1792–1871) erinnert. Eindrucksvolles wurde 120 Jahre nach seinem Tod vermeldet. Die nach seinen Originalzeichnungen gebaute »Difference Engine No. 2« rechnete am 29. November 1991 x7 für alle x von 1 bis 100 fehlerfrei aus.

Erste Ansätze für die Bewertung von Leibrenten unter Berücksichtigung der Sterblichkeit und des Zinssatzes finden sich übrigens schon in einer Abhandlung von Johan de Witt (1625–1672) aus dem Jahr 1671. Von Gottfried Wilhelm Leibniz ist der Satz »Wie hoch die Leibrente sein müsste, kann aus den voraussichtlichen Jahren des Rest-Lebens des Menschen abgeschätzt werden.« (aus dem Jahr 1683). Leibniz ist übrigens eine griffige Formel zur Bestimmung des Barwerts zu verdanken.

Das Thema Alter und die damit verbundenen Fragen haben die Menschen schon immer beschäftigt. Durch das Aufkommen von Leibrenten- und Tontinenanstalten2, Witwen- und Waisenkassen stellte sich auch die Frage nach der mittleren und wahrscheinlichen Lebensdauer eines Menschen.

Sterbetafeln, ein wichtiges Instrument im Leibrentengeschäft

Die Bedeutung des Instruments Sterbetafel braucht nicht besonders herausgehoben zu werden. Da sie eine wesentliche Entscheidungsgrundlage in Politik und Wirtschaft ist, muss sie auf sicheren Daten beruhen. Sie darf nicht gebraucht werden wie ein Betrunkener eine Straßenlaterne benutzt – mehr zur Unterstützung als zur Erleuchtung.

Die Kenntnis der mittleren künftigen Lebenserwartung in jedem Alter und die ihr nahestehende wahrscheinliche Lebensdauer sind von besonderem Interesse. Diese beiden Größen, die sich mithilfe einer Sterbetafel gewinnen lassen, beschreiben mit gehaltvoller Kürze eine Reihe von Tatsachen. Wie alt eine bestimmte Person wird, weiß man nicht. Wohl aber lassen sich für alle Einwohner eines Landes aufgrund von Beobachtungen Gesetzmäßigkeiten feststellen. Ereignisse, die im Einzelfall völlig unbestimmt und unsicher sind, werden nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Masse überschaubar und können abgeschätzt werden. Das trifft auch für die Abschätzung der mittleren Lebenserwartung einer Person zu. Es ist bemerkenswert, dass die Lebensversicherung, die sich aus dem mittelalterlichen Leibrentengeschäft entwickelte, zu den ersten Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung im Wirtschaftsleben zählt. Für eine Lebensversicherung stellen sich vor allem folgende Fragen: Liegen den Lebensversicherungen die passenden Sterbetafeln zugrunde und wie entwickeln sich die Kapitalmärkte. In den letzten Jahren waren die Vorsorgeeinrichtungen durch einbrechende Aktienmärkte und sinkende Zinsen bei festen Leistungsversprechen harten Bewährungsproben ausgesetzt.

Für Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 19983, erweisen sich Sterblichkeitsdaten als wichtige Ergänzung der ökonomischen Analyse. Die Bedeutung von Sterbetafeln hob auch der große Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß (1777–1855) hervor. Von Werner Heisenberg (1901–1976) stammt der erwähnenswerte Satz: »Daher kann sich niemand darüber wundern, dass wir Physiker hier Statistik treiben müssen, so wie etwa eine Lebensversicherungsgesellschaft über die Lebenserwartung ihrer vielen Versicherten statistische Rechnungen anstellen muss.«

Mit der Zeitspanne von der Geburt bis zum Tod hat sich der Mensch mit seinem Bewusstsein der Zeit schon immer auseinandergesetzt. Dem Thema Lebensalter widmeten sich nicht nur philosophische Schriftsteller, die Jurisprudenz oder Mathematiker. Auch in der Kunst spielte die Lebensspanne des Menschen schon sehr früh eine Rolle. Im Folgenden wird die historische Entwicklung der Sterblichkeitsmessung gerafft skizziert.

Philosophie und Lebenszeit

In Platons Dialog Timaios (Die Weltschöpfung) wurde schon die menschliche Lebensspanne erörtert: Die Wahl fiel auf die kürzere, doch edlere Lebenszeit anstelle einer längeren, doch unbedeutender hingebrachten Lebenszeit.

Aristoteles (384–322), Schüler Platons und Erzieher Alexander des Großen, nannte in seinen Schriften Politik und Rhetorik für bestimmte Lebensbereiche Altersgrenzen. Die römischen Schriftsteller Cicero (106–43 v. Chr.) und Seneca (um 4 v. Chr. bis 65 n. Chr.) widmeten dem Alter eigene Schriften. In der römischen Rechtsgeschichte findet man für bestimmte Ämter ein Mindestalter. Der Sinn der Römer für praktische Lösungen zeigt sich auch am Modell des römischen Juristen Domitius Ulpianus (um 170–228). Dieser schuf eine Regel, die für bestimmte Altersgruppen eine zeitliche Begrenzung von Leistungen (Alimente, Legate) vorsah. Damit sollte der mutmaßlichen Lebenserwartung Rechnung getragen werden. Dieses Modell von Ulpian fand Aufnahme in die vom oströmischen Kaiser Justinian (reg. 527–565) veranlasste Gesetzessammlung corpus iuris. Das Höchstpreisedikt des römischen Kaisers Diokletian (reg. 284–305) regelte die Preise für Sklaven nach Alter und Geschlecht, wie ein Inschriftenfund vom Jahr 1970 zeigt. Nach römischem Recht war es nicht statthaft, auf das Leben eines freien Bürgers einen Geldbetrag auszusetzen.

Dauer des menschlichen Lebens ein Zufallsereignis

John Graunt (1620–1674) verfügte über Aufzeichnungen von Sterbefällen in London. Die von ihm angefertigte Absterbeordnung beruhte aber mehr auf Überlegungen als auf Beobachtungen. Sie diente einigen Forschern für weitere Untersuchungen.

Lodewijk Huygens hatte bereits die Idee, dass die Angaben von Graunt sowohl für die Berechnung von Leibrenten als auch zur Bestimmung der Lebenserwartung verwendet werden könnten. Er korrespondierte darüber 1669 mit seinem berühmten Bruder Christiaan, einer der bedeutendsten und vielseitigsten Physiker und Mathematiker seiner Epoche. Die von Christiaan Huygens 1656 verfasste Schrift zur Wahrscheinlichkeitsrechnung blieb lange Zeit die einzige Einführung in die Wahrscheinlichkeitslehre.

Jakob Bernoulli (1655–1705) wandte die Grundsätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht nur auf Glücksspiele, sondern auch auf Todesfälle an. Dabei gewann er die Erkenntnis, dass Sterbewahrscheinlichkeiten nicht a priori, sondern nur aus Erfahrung geschätzt werden können, wozu man Sterbetafeln benötigt. Leibniz äußerte sich so: »Da das Sterbealter eines Menschen unbekannt ist, muss man sich auf Wahrscheinlichkeiten stützen.« Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie ist die Dauer eines menschlichen Lebens ein Zufallsereignis ebenso wie das Ziehen einer Karte aus einem Kartenspiel.

Der berühmte Astronom Edmond Halley (1656–1742) stützte sich bei seiner 1693 veröffentlichten Überlebendentafel auf das von Caspar Neumann gesammelte Datenmaterial der Stadt Breslau. Diese Sterbetafel diente Halley bei der Bewertung von Renten auf Leben. Später verwendete Daniel Bernoulli (1700–1782), Sohn von Johann, diese Tafel von Halley zur Abschätzung des Einflusses einer epidemischen Krankheit auf die Sterblichkeit. So stellte er die Nützlichkeit der Inokulation (Impfung) unter Beweis – trotz einer Fehlinterpretation der Sterbetafel von Halley.

»Mittlere Lebensdauer«, »Wahrscheinliche Lebensdauer«

Halley gebrauchte als Erster den Begriff »wahrscheinliche Lebensdauer« (heutige Sprechweise). Der Begriff »Mittlere Lebensdauer« geht auf Antoine Déparcieux (1703–1768) zurück (1746). Peter Süßmilch (1707–1767) hielt die Methode von Déparcieux nicht nur für mühsam, sondern auch für nicht nötig. Die Vorgehensweise von Halley hielt Süßmilch für ausreichend. Nikolaus Bernoulli (1687–1759), ein Neffe von Jakob Bernoulli, unterschied deutlich zwischen der mittleren künftigen Lebenserwartung und dem Alter, das genau die Hälfte einer bestimmten Altersgruppe erreicht. Zur Schätzung der mittleren künftigen Lebenserwartung zog er die von Graunt angefertigte »Absterbe-Tafel« heran. Damit bestimmte er dann den Preis einer Rente auf das Leben einer Person. Für einen Neugeborenen errechnete Nikolaus Bernoulli anhand der Daten von Graunt eine mittlere Lebenserwartung von 18,22 Jahren. Nikolaus Bernoulli standen auch empirische Angaben einer Stadt in der Schweiz zur Verfügung, die auf 2 000 Personen basierten. Hieraus berechnete er die Lebenserwartung für verschiedene Altersklassen. So ermittelte er für einen Nulljährigen eine solche von 27 Jahren. Die Ursprungsdaten nannte Nikolaus Bernoulli leider nicht.

Kaum bekannt sind die versicherungswirtschaftlichen und finanzwissenschaftlichen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Er grenzte nicht nur die Abschnitte des menschlichen Lebens ab, sondern befasste sich auch mit der mittleren Dauer eines menschlichen Lebens. Dabei orientierte er sich an einer arithmetischen Folge, ohne dies so auszusprechen. Dieses Vorgehen erinnert an den 9-jährigen Gauß, dessen Klasse die Aufgabe gestellt wurde, eine arithmetische Folge zu addieren. Gauß wandte intuitiv die Summenformel für die arithmetische Reihe an.

Déparcieux (1703–1768) leitete seine Sterbetafel aus dem Jahr 1746 aus den französischen Tontinen der Jahre 1689 und 1696 ab. Die Sterbetafel von Déparcieux ist eine der ältesten Sterbetafeln, die für Versicherungszwecke angewandt worden ist. Über Tontinen fielen die Beurteilungen sehr unterschiedlich aus. Von Julius Wyler stammt die folgende Definition (1916): »Die Tontine ist ein in Form von Anleihen, Anteilsgenossenschaften und Versicherungsgesellschaften auftretendes Spiel, in dem der Gewinn von der Dauer des menschlichen Lebens abhängig ist.« Lorenzo Tonti (1630–1695) gab der Tontine nicht nur den Namen, er gilt auch als deren Erfinder. Die Gründung einer solchen Einrichtung schlug Tonti dem Kardinal und französischen Staatsmann Jules Mazarin (1602–1661), eigentlich Giulio Mazarini, zur Besserung der zerrütteten Staatsfinanzen vor.

Johann A. Kritter war der Erste, der 1781 die Längerlebigkeit der Frauen entdeckte. Heutzutage werden die Frauen im Durchschnitt etwa 6 Jahre älter als Männer. Dennoch setzte die EU einheitliche Versicherungstarife für Männer und Frauen durch. Handelt es sich bei der höheren Lebenserwartung des weiblichen Geschlechts um einen charakteristischen Tatbestand wie bei der Geschlechterproportion? Nach Süßmilch hatte bereits John Graunt erkannt, dass sich die Töchter zu den Söhnen verhalten wie 1 000 zu 1 068.

Sterbetafeln: Drei entwicklungsgeschichtliche Phasen

Die Sterbetafeln lassen sich nach Heinrich Braun entwicklungsgeschichtlich in drei Phasen unterscheiden: Die Zeit der »Halley'schen Methode« (17./18. Jahrhundert), die Phase der sogenannten »direkten« Sterblichkeitsberechnung, zu der auch die Hermann'sche Methode zählt, und die der »indirekten« Sterblichkeitsberechnung, die sich ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts langsam durchsetzte.

Sobald die rohen Sterbewahrscheinlichkeiten vorliegen, stellt sich die Frage nach deren Ausgleichung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde dies zum Teil noch abgelehnt. Dann hielt man die Glättung der Sterbewahrscheinlichkeiten für zweckmäßig. Das Spiel des Zufalls soll nach Möglichkeit ausgeschaltet werden.4 Angestrebt wird ein glatter Verlauf der auszugleichenden Beobachtungsreihe. Beispielsweise kann in der Lebensversicherung die Verwendung von rohen Sterbewahrscheinlichkeiten zu sprunghaften Prämien führen. Bei der Glättung der 1-jährigen Sterbewahrscheinlichkeiten für die Sterbetafel 1970/71 mussten beispielsweise noch bis zu vier Teilbereiche gebildet werden. Erst durch die bahnbrechende Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitungsanlagen wurde zum Beispiel das Spline-Verfahren wegen des enormen Rechenaufwands durchführbar. Damit wurde es möglich, die 1-jährigen Sterbewahrscheinlichkeiten für die Altersjahre 1 bis etwa 100 mit einer einzigen durchgängigen Methode zu glätten.

Lebenszeiten und Kunst

In der Kunst spielten die menschlichen Lebensabschnitte schon sehr früh eine Rolle. Die bildliche Darstellung des Lebensalters kam in der byzantinischen Kunst des 8. Jahrhunderts auf, sie unterschied drei Stufen des Lebens. Um 1818/20 schuf Eberhard von Wächter eine zeitlose Darstellung der Lebensabschnitte des Menschen. Gemeint ist sein Gemälde Der Kahn des Lebens, das in der Staatsgalerie in Stuttgart aufbewahrt wird.

Ob Aussagen zur durchschnittlichen Lebenserwartung in früheren Jahrhunderten ein zutreffendes Bild zeichnen, darf infrage gestellt werden. Damals war eine U-förmige Verteilung der Sterblichkeit charakteristisch: Die Säuglingssterblichkeit war relativ hoch, dann sank die Sterbewahrscheinlichkeit und nahm im höheren Alter wieder stark zu. Die mittlere Lebenserwartung kann sich durch einen Rückgang der Säuglingssterblichkeit oder durch einen Rückgang der Sterblichkeit in den höheren Altersjahren erhöhen.

1 Hirtz, Helmut: Leibrente im Wandel der Zeit – ein komplexes Phänomen, und Menschliche Lebensspanne – ein Potpourri; beides in: Bayern in Zahlen 10/2007, S. 418–440.

2 Siehe S. 27.

3 Preis der schwedischen Reichsbank für ökonomische Wissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel.

4 Bei der Sterblichkeitskurve begegnet man heutzutage dem Spiel des Zufalls durch Glättung der rohen 1-jährigen Sterbewahrscheinlichkeiten. Das Material für eine Sterbetafel ist mit zufälligen Abweichungen behaftet. Aufgrund der geringen Besetzungszahlen bestimmter Altersjahre sind die rohen Werte weniger zuverlässig als die von anderen Altersjahren.