:: 7/2009

Methodische Anmerkungen zur Lebenserwartung und Gesundheit älterer Menschen

Vor dem Hintergrund einer steigenden Lebenserwartung ist die Gesundheit älterer Menschen nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Man denke hier nur an Aus- und Weiterbildung, Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem, Rente und Pflege. Es ist deshalb wichtig, zuverlässige Informationen darüber zu haben, wie sich die Gesundheit älterer Menschen in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hat, wie sie sich heute zeigt und welche Entwicklungen künftig zu erwarten sind. Für eine angemessene Interpretation der dazu vorliegenden Daten ist es jedoch notwendig, die wichtigsten methodischen Bedingungen und Probleme dieser Daten zu kennen. Einige von ihnen werden im Folgenden erläutert.

Die verschiedenen Studien zur gesunden und behinderungsfreien Lebenserwartung berücksichtigen zweierlei: Erstens den veränderten Einfluss von Krankheit und Gesundheit auf das Leben und zweitens Veränderungen der Mortalität selbst, die zum Anstieg der Lebenserwartung geführt haben. Sind in jedem Alter immer weniger Menschen gesundheitlich beeinträchtigt, führt das in einer alternden Gesellschaft mit steigender Lebenserwartung dazu, dass die behinderungsfreie Zeit im Leben zunimmt.1 Gleichzeitig kann in der Gesellschaft der Anteil der Kranken steigen, weil immer mehr Menschen einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind. Die Ergebnisse zur gesunden Lebenserwartung berücksichtigen also nicht nur die reine Quantität, sondern auch die Qualität der Lebenszeit. Die Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Krankheit und Sterblichkeit werden dadurch angemessener interpretierbar.

Allerdings weisen die vorliegenden Ergebnisse zahlreiche methodische Unterschiede und Probleme auf, welche die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Ergebnisse einschränken können. Dies erschwert die Interpretation sowohl von Entwicklungen in den Staaten als auch von Unterschieden zwischen den Staaten. Folgende methodische Unterschiede und Probleme sind hervorzuheben:2

Kohorten- und kulturspezifische Unterschiede

Die Wahrnehmung der eigenen Gesundheit ändert sich im Laufe der Zeit ungeachtet des tatsächlichen Gesundheitszustandes und kann sich auch zwischen den Bevölkerungen einzelner Staaten deutlich unterscheiden. Das kann verschiedene Gründe haben: Einerseits, wenn sich der Gesundheitszustand in einer Gesellschaft insgesamt verbessert, ist der Einzelne vielleicht seltener bereit, sein eigenes gesundheitliches Problem zu tolerieren und eher bereit, dies auch in Befragungen zu äußern. Verändern sich andererseits die Bedingungen für den Umgang mit einer Krankheit, kann dies die betroffenen Personen insoweit beeinflussen, dass sie sich gesünder fühlen, als sie es tatsächlich sind. Eine verbesserte Umgebung kann diesen Personen helfen, trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen aktiver und selbstständiger zu leben. Sie fühlen sich weniger krank und berichten daher seltener über ihre Gebrechen als vorangegangene Generationen.

Umgekehrt wiederum können veränderte Diagnoseverfahren, eingeführte »Grenzwerte« für Krankheiten, öffentliche Gesundheitskampagnen das Bewusstsein einer Bevölkerung dahin verändern, dass bislang nicht wahrgenommene Krankheiten überhaupt erst zum Thema werden. Verändern sich sozialpolitische Rahmenbedingungen in einem Staat, wie zum Beispiel durch eine Pflegereform, kann diese allein durch ihre Ausgestaltung zu einem Anstieg der sich in Pflege befindenden Personen führen.3

Und schließlich kann sich das Antwortverhalten in Befragungen insofern verändern, als jüngere Kohorten weniger bereit sind, die Fragen zu beantworten. Kulturelle Unterschiede, auch zwischen einzelnen Staaten, etwa in der Neigung, sich gesund oder krank zu fühlen, können dazu führen, dass gleiche Fragen bei gleichem Gesundheitszustand unterschiedlich beantwortet werden. Das Antwortverhalten kann sich im Weiteren auch dadurch unterscheiden, dass in einzelnen Staaten vor allem gebrechliche und kranke Personen die Antworten verweigern, in anderen aber die gesunden.

Messen von Gesundheit und Krankheit durch Maßzahlen und Fragen

Die zahlreichen Indikatoren zum Gesundheitszustand lassen sich im Wesentlichen in 3 Kategorien einteilen. Wird Morbidität über den selbstberichteten Gesundheitszustand oder das Vorhandensein von chronischen oder akuten Krankheiten definiert, werden oft Begriffe wie gesunde oder krankheitsfreie Lebenserwartung verwendet. Baut ein Indikator auf dem Vorhandensein von Beeinträchtigungen bei alltäglichen Aufgaben auf, werden Begriffe wie behinderungsfreie oder aktive Lebenserwartung benutzt. Daneben gibt es noch Maße der qualitätsadjustierten Lebenszeit. Sie verwenden graduelle Definitionen von Morbidität und adjustieren die gesunde oder die aufgrund von Erkrankungen verloren gegangene Lebenszeit je nach Ausmaß gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Beispielsweise wird jedem Schweregrad einer Erkrankung bzw. Gebrechlichkeit ein Gewichtungsfaktor zwischen 0 und 1 zugewiesen. Je größer die Einschränkung, desto kleiner ist der Gewichtungsfaktor. Die qualitätsadjustierte Lebenserwartung im Sinne einer mittleren gesunden Lebenszeit wird dann anhand der gewichteten Summe der Lebenserwartungen innerhalb der unterschiedenen Gesundheitszustände gebildet. Zudem können auf ähnlichem Wege die verloren gegangenen Lebensjahre berechnet werden, um beispielsweise die gesundheitlichen Folgen von Risikofaktoren wie dem Tabakkonsum zu quantifizieren.

Die unterschiedlichen Maßzahlen bilden verschiedene Aspekte der Gesundheit von Populationen ab. Sie unterscheiden zudem oft nicht zwischen psychischer und physischer Krankheit.4 Auch die Schwere der Krankheit kann nur selten beurteilt werden.5 Gleichzeitig sind in den hier ausgewerteten Studien die Fragen zu den jeweiligen Indikatoren unterschiedlich formuliert und bieten unterschiedlich viele Antwortmöglichkeiten an. So ist bei den Maßen der aktiven und behinderungsfreien Lebenserwartung entscheidend, welche Tätigkeiten einbezogen und wie die Einschränkungen skaliert werden. Hinzu kommt bei internationalen Studien, dass Fragen und Antwortmöglichkeiten nicht nur fehlerhaft übersetzt werden, sondern auch in ihren Antwortmöglichkeiten variieren.6

Auswahl der Stichprobe

Die meisten Studien befragen nur Personen, die in privaten Haushalten leben. Personen, die zum Beispiel in Altenheimen oder Krankenhäusern leben, werden oft nicht mit erfasst. Diese Studien liefern keine Ergebnisse zur Gesundheit der gesamten Gesellschaft, sondern nur des Teiles, der außerhalb von Heimen lebt. Verändern sich zudem die politischen Rahmenbedingungen, können allein diese schon den »Gesundheitszustand« einer Gesellschaft verändern, ohne das sich die gesundheitliche Situation der Einzelnen tatsächlich verändert hat. Wird beispielsweise ein politisches Programm aufgelegt, welches die ambulante Pflege zuhause stärker fördert als die stationäre Pflege in Heimen, kann dies zu einer »Verschlechterung« des Gesundheitszustandes einer Bevölkerung führen. Denn nun können auch gebrechliche Personen befragt werden, die unter den früheren Bedingungen in einem Heim gelebt hätten. Die fehlende Berücksichtigung von Personen in Heimen erschwert zudem internationale Vergleiche. Denn der Anteil von älteren Menschen in Heimen dürfte erheblich zwischen den einzelnen Staaten variieren.

Auswahl der Datenerhebungen

In Europa wurden in der jüngeren Vergangenheit die gesunden Lebensjahre mithilfe unterschiedlicher Datenerhebungen und Indikatoren berechnet: Zwischen 1995 und 2001 bildete das Haushaltspanel der Europäischen Gemeinschaft (European Community Household Panel ECHP) die Grundlage, zwischen 2002 bis 2004 waren es Schätzungen der gesunden Lebenserwartung in den EU-15-Mitgliedstaaten durch Extrapolation der Werte aus dem ECHP. Für die neuen Mitgliedstaaten aus Ost- und Südeuropa wurden nationale Quellen und deren Extrapolationen verwendet. Seit 2005 steht die Erhebung EU-SILC (European Union Statistic on Income and Living Conditions) zur Verfügung. Ab 2009 soll außerdem der europäische Gesundheitssurvey EHIS (European Health Interview Survey) Informationen über die Prävalenz von gesundheitlichen Einschränkungen liefern.

In Deutschland stellen noch 3 weitere Erhebungen Indikatoren zum Gesundheitszustand der Bevölkerung bereit: der Bundesgesundheitssurvey (BGS) des Robert Koch-Institutes, der Mikrozensus der amtlichen Statistik und das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Zwischen den Datensätzen und zwischen den einzelnen Erhebungen der jeweiligen Datensätze sind die Fragen und Antwortmöglichkeiten zum Teil unterschiedlich formuliert. Sie unterscheiden sich außerdem hinsichtlich des Zeithorizontes, auf den sich die Fragen bezogen haben, und hinsichtlich der Auswahl der Antwortkategorien.

Fazit

Wegen dieser methodischen Unterschiede liefern die Ergebnisse auf der Grundlage der zusammengeführten Daten allenfalls Anhaltspunkte zum Gesundheitszustand etwa der älteren Menschen in einer Gesellschaft. Das gilt auch für die zeitliche Entwicklung des Gesundheitszustandes einer Bevölkerung und für internationale Vergleiche. Zudem stellt sich die Frage, wie schnell und stark ändert sich der Gesundheitszustand einer Bevölkerung? Sind Veränderungen in einem Zeitraum beispielsweise von 10 Jahren vor dem Hintergrund methodischer Unterschiede zuverlässig beobachtbar?7 Wem sind in welchem Umfange die Schwankungen im Gesundheitszustand einer Bevölkerung innerhalb dieses Zeitraumes zuzuordnen: den methodischen Bedingungen der Studien, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Gesundheitszustandes oder diesem selbst? Der vorliegende Beitrag zur wissenschaftlichen Erfassung des Gesundheitszustandes der älteren Bevölkerung nennt zwar nur ein paar wesentliche der zahlreichen mit der Erfassung verbundenen methodischen Bedingungen und Probleme, aber schon deren angemessene Behandlung dürfte in Zukunft erhebliche Anstrengungen erfordern.

1 Siehe Eggen, Bernd/Knotz, Carlo: Wir leben länger! Aber auch länger gesund? Aspekte zur Lebenserwartung älterer Menschen, in diesem Heft.

2 Siehe zur Interpretation der Ergebnisse: EHEMU: Interpreting health expectancies, Technical report Nr. 1/2007 sowie Kroll, Lars E./Lampert, Thomas/Lange, Carmen/Ziese, Thomas: Entwicklung und Einflussgrößen der gesunden Lebenserwartung, WZB Discussion papers SP I 2008-306, 2008.

3 Vgl. Ziegler, Uta/Doblhammer, Gabriele: Cohort Changes in the Incidence of Care Need in West Germany between 1986 and 2005, in: Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels – Diskussionspapier No. 12: S. 2.

4 Zum Beispiel das ECHP: »Do you have any chronic physical or mental health problem, illness or disability?« - »Yes/No«

5 Eine Alternative im ECHP ist die Folgefrage nach der Einschränkung, die sich aus dieser Krankheit ergibt. Diese wurde allerdings im Befragungszeitraum verändert, was zu veränderten Ergebnissen der Umfrage geführt hat. Eine zweite Frage nach der selbst eingeschätzten Gesundheitssituation wurde nicht verwendet, da hier nur »very good« (sehr gut) als »nicht krank gilt«; »good« (gut) wird hier schon als krank gewertet. Siehe dazu auch: www.ehemu.eu/database/metadata.php?id=ECHP_ACTIVITYLIMIT und www.ehemu.eu/database/metadata.php?id=ECHP_SPH

6 Beispielhaft sind die Probleme bei SILC in der Erhebung von 2005, welche die internationale Vergleichbarkeit der Ergebnisse einschränken, siehe Eurostat: Note on the harmonisation of SILC and EHIS questions on health, 2008.

7 Siehe zu Veränderungen der gesunden Lebensjahre (Healthy Life Years HLY) bei 65-Jährigen und Älteren in der EU zwischen 1995 und 2005 EHEMU: Are we living longer, healthier lives in the EU?, Technical report Nr.2/2005; EHEMU: Country reports, Technical report Nr.1/2008.