:: 6/2010

Rund um die Kartoffel

Kein anderes Grundnahrungsmittel hat in den letzten 300 Jahren die Ernährungslage und die Ernährungsgewohnheiten in Deutschland und somit auch in Baden-Württemberg so nachhaltig verändert wie die Kartoffel. Ohne die Versorgung mit Kartoffeln als Grundnahrungsmittel wären im 18. und 19. Jahrhundert bei Getreidemissernten wohl hunderttausende Menschen den Hungertod gestorben. Auch die rasante wirtschaftliche Entwicklung während der industriellen Revolution ist ohne Sättigung breiter Schichten der Arbeiterschaft durch Kartoffeln nicht vorstellbar. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war es wiederum die Kartoffel, die dafür sorgte, dass im ausgebombten und von Flüchtlingen und Vertriebenen überquellenden Deutschland große Teile der Bevölkerung wenigstens notdürftig ernährt wurden. Seitdem hat sich, einhergehend mit der prosperierenden Gesellschaft und dem starken gesellschaftlichen Wandel – im Jahre 2009 lebten in Baden-Württemberg gut 2,7 Mill. Menschen mit Migrationshintergrund – auch der Konsum und die Wertschätzung gegenüber der Kartoffel stark verändert. In einer sich veränderten Gesellschaft, in der Pasta, Pizza, Chili con Carne und Döner die gleiche kulinarische Wertschätzung genießen wie Bratkartoffel oder Kartoffelsalat, muss der Verbrauch an Speisekartoffeln zwangsläufig rückläufig sein.

Von der Zierpflanze zum Grundnahrungsmittel

In ihrer ursprünglichen Heimat Südamerika erlebte die Kartoffel als Nahrungsmittel einen ersten Aufschwung, als die Inkas im 13. Jahrhundert die Herrschaft über die Völker der Andenstaaten übernahmen. Seit dieser Zeit wurden viele Gebiete, die auf Grund ihrer großen Trockenheit für den Pflanzenbau nicht geeignet waren, durch ein kunstvoll angelegtes Bewässerungssystem in fruchtbares Anbauland verwandelt. Den Inkas gelang es, unter Ausnutzung der klimatischen Gegebenheiten eine Art Trockenkartoffel, das Chuno, herzustellen. Diese Trockenkartoffel waren mehrere Jahre haltbar und wohl das erste Kartoffelverarbeitungsprodukt überhaupt.

Die Fragen wann, wie und durch wen die Kartoffel nach Europa kam, ist bis heute nicht genau geklärt worden. Nach der Eroberung des Inkareiches durch die Spanier erkannten diese bald, dass die Kartoffel auf den langen Seereisen als Proviant sehr nützlich war. Allgemein gilt das Jahr 1565 als das Jahr, in dem die Kartoffel nach Spanien und damit auf den europäischen Kontinent kam. Bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts gab es in Spanien Kartoffelanbau von größerer Bedeutung. Von Spanien aus kamen die Kartoffeln auch nach Italien, Holland und Burgund. Ein anderer Weg der Kartoffeln nach Europa führte über England. Hier waren es die Seefahrer Francis Drake und Walter Raleigh, die Kartoffeln entweder aus den eigenen Kolonien in Amerika oder als Beutegut von gekaperten spanischen Schiffen nach England und Irland mitbrachten. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts gab es auch in England und Irland einen nennenswerten Kartoffelanbau. Englische und irische Auswandererfamilien brachten die Kartoffel schließlich nach Nordamerika, Skandinavien und Russland.

Der Arzt und Botaniker Carolus Clusius pflanzte die Kartoffel in Deutschland erstmals im Jahre 1588 an. Zunächst wurde sie wegen ihrer schönen Blütenpracht als Zier- und Gartenpflanze hauptsächlich in den botanischen Gärten der feudalen Adelsherren angebaut. Im heutigen Baden-Württemberg wurden Kartoffeln bereits 1701 nachweisbar in dem Waldenser Ort Schönenberg bei Maulbronn zu Nahrungszwecken angepflanzt. Der Kaufmann Antoine Seignoret brachte im April 1701 dem Waldenser Pfarrer Henri Arnaud 200 Saatkartoffeln, der diese anpflanzte und im Herbst eine reiche Ernte einfuhr, die er zu weiteren Aussaat an die Menschen der Waldenseransiedlungen in der Umgebung verteilte.

Friedrich dem II., König von Preußen, ist es zu verdanken, dass sich die Kartoffel als Grundnahrungsmittel in ganz Deutschland verbreitete und auch eine entsprechende Akzeptanz fand. Gegen die in seinem Königreich periodisch auftretenden Hungersnöte als Folge von Missernten ordnete er 1744 Maßnahmen in Pommern und Schlesien – später im ganzen Königreich Preußen – an und ließ flächendeckend und kostenlos Saatkartoffel verteilen. Ab 1756 wurden alle Bauern per königlichem Dekret zum Kartoffelanbau verpflichtet. Damit begann der Siegeszug der Kartoffel als Grundnahrungsmittel, der sich sehr schnell auf alle anderen deutschen Staaten ausbreitete. Für die im beginnenden Industriezeitalter im 19. Jahrhundert schnell wachsende Bevölkerung wurde die Kartoffel gerade für das sich herausbildende Industrieproletariat zu einer preiswerten Nahrungsquelle, so entwickelte sich die Kartoffel in ganz Europa zu einer wichtigen Nahrungsgrundlage.

Kartoffelanbau in Baden-Württemberg

Die Hauptanbaugebiete für Kartoffeln in Baden-Württemberg sind die Schwäbische Alb, der Ostalbkreis, der Landkreis Heilbronn, der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald und das Schwäbische Oberland. Laut den endgültigen Ergebnissen der allgemeinen Agrarstrukturerhebung 2007 wurden auf einer Fläche von 5 948 Hektar der landwirtschaftlichen Betriebe Kartoffeln angebaut (siehe Tabelle). Im Bundesländervergleich lag Baden-Württemberg in Deutschland flächenmäßig damit an neunter Stelle. Hatte Baden-Württemberg 1984 noch einen Anteil von rund 8 % an der Gesamtanbaufläche von Kartoffeln in Deutschland, so sank dieser Anteil bis 2007 auf etwa 2 % ab.

Der Anbau von Kartoffeln kann fast überall erfolgen. Ungeeignet sind lediglich nasse und schwere Böden, da sie dort schneller von Krankheiten befallen werden. Kartoffeln gedeihen am besten auf leichten Böden, zum Beispiel sandige Lehm- oder lehmige Sandböden, die eine gleichmäßige Wasserversorgung sichern. An das Klima stellt die Kartoffel nur sehr geringe Ansprüche, nur Frost, Hitze und Trockenheit schränken ihren Anbau in Baden-Württemberg ein. Im Frühjahr, wenn sich der Boden auf eine Temperatur von etwa 8 °C erwärmt hat und nachts kein zu starker Frost mehr zu erwarten ist, werden die ersten Frühkartoffeln gesteckt. Beim modernen Kartoffelanbau zieht die Pflanzmaschine eine Furche und legt dort die Kartoffeln einzeln ab und baut mit Hilfe von Zudeckscheiben einen Erddamm darüber. Der Anbau im Damm hat zwei Vorteile. Einerseits fördert er die Bildung von Seitentrieben und andererseits schützt er die Pflanzen vor Staunässe.1 Nach einer Wachstumszeit von 70 bis 160 Tagen sind die angepflanzten Kartoffeln erntereif. Je nach Witterung kann der Ertrag von Jahr zu Jahr sehr stark variieren.

Der Anbau von Frühkartoffeln hat im Gebiet von Lauffen am Neckar bis Eppingen, im Markgräfler Land und rund um den Kaiserstuhl größere Bedeutung. Auf Grund des milden Klimas wird fast die Hälfte der baden-württembergischen Frühkartoffeln im württembergischen Unterland schon im März gepflanzt. Die Sorten Berber, Solist und Anabelle werden als erste gesteckt. Unmittelbar nach der Aussaat werden die Kartoffeläcker mit mehrfach verwendbarer Lochfolie überzogen. Die Folie hält die Wärme und erbringt eine 10 bis 14 Tage schnellere Reifung. Je nach Witterungsverlauf werden dann ab dem 20. Mai die ersten Frühkartoffeln im Unterland geerntet und überwiegend von den Erzeugern direkt vermarktet. Seit Jahren rühmen sich die Lauffener Kartoffelanbauer damit, mit die ersten Anbieter von Frühkartoffeln in Deutschland zu sein. So wurde 2010 am 4. März mit der Anpflanzung der Frühkartoffeln rund um Lauffen begonnen.2 Zu den mittelfrühen Sorten, die in allen baden-württembergischen Anbaugebieten Beachtung finden, zählen laut dem Saatbauamt Donaueschingen unter anderen Afra, Agria, Granola, Laura, Nicola, Quarta, Secura und Selma. Diese Sorten sind zur Einkellerung geeignet und können nach der Ernte ab Dezember verbraucht werden.

Deutlich gesunkene Anbaufläche

Im Jahre 1957 betrug die Anbaufläche für Kartoffeln der landwirtschaftlichen Betriebe in Baden-Württemberg immerhin noch 134 260 Hektar (ha). Dies war mehr als das 20-fache der Fläche, die heute für Kartoffelanbau genutzt wird. Die Kartoffelanbaufläche in Baden-Württemberg sank in den 80er- und zu Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts im Verhältnis deutlich stärker als im Durchschnitt der alten Bundesländer. Auch die Anzahl der Kartoffel anbauenden Betriebe ging im gleichen Zeitraum drastisch zurück, 1979 bauten noch 85 000 Betriebe Kartoffeln an, 2003 waren es lediglich noch 13 300 Betriebe.

Die Flächenanteile im Kartoffelanbau bei den Vorläuferstaaten des Landes waren enorm. So verzeichnen die Statistischen Mitteilungen über das Großherzogtum Baden aus dem Jahr 1891 für 1890 eine Anbaufläche von 86 408 ha und das Statistische Jahrbuch für das Königreich Württemberg für das gleiche Jahr eine Anbaufläche von 84 828 ha. Der eklatante Rückgang der Anbaufläche von Kartoffeln ist neben den bereits weiter oben genannten Gründen auch darauf zurückzuführen, dass heute so gut wie keine Futterkartoffeln mehr für die Schweinemast angebaut werden.

In etlichen ländlichen Gebieten wurden die Kartoffeln bis in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts bei vielen kleinen landwirtschaftlichen Betrieben noch mühselig mit der Hand geerntet, indem mit einer Forke vorsichtig die Kartoffelnester ausgehoben und die Knollen einsammelt wurden. Bei größeren Landwirtschaftsbetrieben zogen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts dann Pferdegespanne sogenannte »Kartoffelroder« über die Kartoffeläcker. Das war eine große Erleichterung: Eine sich drehende Spindel wurde langsam durch die Erde gezogen, rupfte die Wurzeln aus dem Boden und schleuderte die Kartoffeln zur Seite, die von den zahlreichen Erntehelfern nur noch eingesammelt werden mussten. Heute wird in wenigen Stunden von modernen Erntemaschinen die Arbeit geleistet, für die man früher mehrere Dutzende von Helfern an einem ganzen Tag benötigte. Mit Vollerntern werden mit ausgeklügelter Technik in einem einzigen Arbeitsgang mehrere Kartoffelreihen gleichzeitig abgeerntet.

Im bundesweiten Vergleich hat Baden-Württemberg nur unterdurchschnittliche Kartoffelerträge, was hauptsächlich auf die Beschaffenheit der Böden zurückzuführen ist. Das langjährige Mittel der Jahre 2001 bis 2006 bei mittelfrühen und späten Kartoffeln betrug 340 dt/ha. Bei Frühkartoffeln lag der Ertrag im Jahre 2007 bei rund 284 dt/ha.

Konsum, Preise und Produkte

Nachdem die Speisekartoffeln über weit mehr als 100 Jahre einen Spitzenverbrauch verzeichnet hatte, nahm ihr Verbrauch in Deutschland und somit auch in Baden-Württemberg mit steigendem Einkommen und Lebensstandard seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts stark ab. Um 1850 lag der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland bei 138 kg. 50 Jahre später waren es bereits 271 kg. In den letzten 6 Jahrzehnten ist der Pro-Kopf-Verbrauch von Speisekartoffeln um rund ? gesunken ist. Lag der Verbrauch 1950 noch bei 202 kg, so waren es 2005 nur noch knapp 67 kg.3

Der Selbstversorgungsgrad durch in Deutschland angebaute Kartoffeln schwankt und lag in den Jahren 2003 bei 108 % und 2007 bei 113 %. Das heißt in Deutschland werden mehr Kartoffeln angebaut, als dort verbraucht werden. Nicht so in Baden-Württemberg. Unterstellt man für Baden-Württemberg einen durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch wie in der Bundesrepublik, so ergibt sich für das Jahr 2007 ein Selbstversorgungsgrad von rund 31%. Unberücksichtigt bleiben muss bei dieser Berechnung die Erzeugung von Kartoffeln in Haus- und Nutzgärten. Diese dürfte den Selbstversorgungsgrad in Baden-Württemberg aber maximal um geschätzte 10 Prozentpunkte erhöhen. Das wichtigste Importland für Speise- und Veredelungskartoffeln für Deutschland seit 1990 sind die Niederlande – von dort wurden 2007 rund 219 000 Tonnen Kartoffeln importiert. Umgekehrt führte Deutschland im gleichen Jahr 649 000 Tonnen Kartoffeln in die Niederlande aus, sodass hier ein deutlich positiver Exportüberschuss für Kartoffel erzielt wurde. Weitere wichtige Kartoffelimport und -exportländer für Deutschland im Verlauf der letzten Jahrzehnte sind Frankreich, Italien, Spanien und Belgien (eine Differenzierung nach Bundesländern ist nicht möglich).

Die Speisekartoffelpreise in Deutschland unterliegen von Anbaujahr zu Anbaujahr starken Schwankungen, was letztendlich vom alten marktwirtschaftlichen Prinzip von Angebot und Nachfrage abhängig ist. In Jahren mit einer geringer ausfallenden Erntemenge sind die Preise deshalb höher. So bewegten sich die Erzeugerpreise für Kartoffeln 2006 zwischen 19 und 26 Euro pro dt, 2007 hingegen pendelten sich die Erzeugerpreise zwischen 10 und 15 Euro pro dt ein. Die Preise für einheimische Frühkartoffeln liegen deutlich über diesen durchschnittlich ermittelten Werten. Sie setzen zu Saisonbeginn sehr hoch ein und fallen im Laufe der Frühkartoffelsaison bis zu deren Ende schnell wieder ab.

Der steigende Lebensstandard in Deutschland hat nicht nur den Pro-Kopf-Verbrauch von Kartoffeln maßgeblich beeinflusst, sondern auch die Nachfrage nach Veredelungsprodukten aus Kartoffeln steigen lassen als da sind: Trockenerzeugnisse wie Kartoffelpüree, Klöße und Suppen, tief gefrorene Halbfertigwaren wie Pommes frites und Kroketten, Frittier- und Bratprodukte wie Kartoffelchips und ähnliches Knabbergebäck sowie Kartoffelnassprodukte zu denen hauptsächlich hitzesterilisierte geschälte Kartoffeln in Dosen und Gläsern zu zählen sind. Etwa 40 % der heute in Deutschland verzehrten Kartoffeln sind veredelte Kartoffelerzeugnisse.

Neben den für den Verzehr angebauten Kartoffelsorten werden in Deutschland – und damit auch in Baden-Württemberg – spezielle Wirtschaftssorten für Industrie und Brennerei angebaut. In Deutschland wird jede achte produzierte Kartoffel für den Non-food Bereich produziert. Von besonderer Bedeutung hierbei ist die Kartoffelstärke, die aufgrund ihres guten Quell- und Wasseraufnahmevermögens sowie ihrer geringen thermischen und elektrischen Leitfähigkeit vielseitig weiterverarbeitet werden kann. In den unterschiedlichsten Industriezweigen werden Kartoffeln zur Herstellung zum Beispiel folgender Produkte verwendet: Packpapiere, Zeitungspapiere, Mineralfaserplatten für Gebäude, Tapetenkleister, Leime, Verpackungsfüllstoffe, Folien, Seifen, Waschpulver, Zahnpasten, Tabletten und Antibiotika.3

Brennereikartoffeln werden im Rahmen des Branntweinmonopols zu Alkohol verarbeitet. Gerade viele kleine Brennereien haben sich heute auf die Herstellung von besonderen Kartoffelschnäpsen spezialisiert.

Kuriositäten und Ausblick

Die Zitrone des Nordens, wie die Kartoffel umgangssprachlich oft auch bezeichnet wird, hat diesen ausgefallenen Zusatznamen nicht zu Unrecht. Viele Millionen Menschen haben es nämlich der Kartoffel zu verdanken, dass sie selbst in Kriegs- und Notzeiten nicht von Skorbut befallen wurden, da ihr Vitamin C Bedarf durch den Verzehr von Kartoffeln ausreichend gedeckt wurde. Auch wenn die Kartoffel als Grundnahrungsmittel in unseren Tagen nicht mehr den Stellenwert hat wie noch vor einigen Jahrzehnten, wird sie ihren Platz als wichtiges Nahrungsmittel und Rohstoffprodukt für viele Industrieerzeugnisse auch in unserem Jahrhundert behaupten können. Noch nicht absehbar ist, wie stark der Ertrag durch gentechnisch veränderte Kartoffeln, deren Anbau 2010 von der EU erstmals genehmigt wurde, gesteigert werden kann.4 Durch die fortschreitende Gentechnik könnte sich in den nächsten Jahrzehnten im Bereich der Wirtschaftskartoffel eine enorme Veränderung ergeben, wenn es gelingt den Stärkeanteil signifikant zu erhöhen.