:: 12/2010

Schutz gefährdeter Kinder

Inobhutnahmen und Sorgerechtsentzüge in Baden-Württemberg 2009

Im Rahmen der Diskussionen um den Kinderschutz finden in letzter Zeit vorläufige Maßnahmen wie die Inobhutnahmen von Kindern durch das Jugendamt, aber auch der Entzug der elterlichen Sorge durch Familiengerichte verstärkt Beachtung. Tatsächlich war die Zahl der Kinder, für die vorläufige Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, in den vergangenen Jahren ansteigend. Die Jugendämter haben in den letzten Jahren außerdem verstärkt Gerichte mit dem Ziel eines vollständigen oder teilweisen Entzugs der elterlichen Sorge angerufen. Die Zahl der gerichtlichen Maßnahmen zum teilweisen oder vollständigen Entzug des elterlichen Sorgerechts lag 2009 mit 924 Fällen dagegen etwas niedriger als im Vorjahr (1 010 Fälle).

Inobhutnahmen: vorläufige Schutzmaßnahmen in akuten Krisensituationen

Im Rahmen der Jugendhilfe ist eine Vielzahl von Instrumenten vorgesehen, um Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zu helfen. Es gibt jedoch immer wieder Situationen, in denen diese Hilfen an ihre Grenzen stoßen und weitreichende Maßnahmen ergriffen werden müssen, um Kinder und Jugendliche zu schützen. Diese Fälle werden in Sozialgesetzbuch (SGB) VIII genau geregelt: In § 8 a SGB VIII wurde der Schutzauftrag bei Gefährdung des Kindeswohles gesetzlich festgeschrieben. Nach § 8 a Abs. 3 Satz 2 SGB VIII sind Jugendämter verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Minderjährigen im Sinne des § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) besteht und eine Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden kann. Die Risikoabschätzung hat das Jugendamt im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände in eigener Verantwortung vorzunehmen.

§ 42 SGB VIII erläutert vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen näher. Danach ist das Jugendamt nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn

  • das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
  • eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert oder
  • ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.

Das Jugendamt ist befugt, in diesen Fällen das Kind oder den Jugendlichen bei einer geeigneten Person, einer geeigneten Einrichtung oder einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Inobhutnahmen sind damit das zentrale Instrument für die Kinder- und Jugendhilfe, um in aktuellen Krisensituationen ein Kind oder einen Jugendlichen zumindest vorübergehend aus der Familie zu nehmen – und dies auch notfalls gegen den Willen der Eltern1.

Anstieg der Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen seit 2005 um 66 %

Im Jahr 2009 wurden für insgesamt 2 744 Kinder und Jugendliche in Baden-Württemberg vorläufige Schutzmaßnahmen ergriffen: 2 736 Kinder und Jugendliche wurden von den Jugendämtern in Obhut genommen, 8 Kinder wurden darüber hinaus aus einer Pflegestelle oder einer Einrichtung, in der sich das Kind oder der Jugendliche mit Erlaubnis des Personensorgeberechtigten aufhielt, entfernt, weil das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen gefährdet war.

Seit dem Jahr 2005 hat sich die Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen um 66 % erhöht. Während allerdings die Zahl der Fälle vom Jahr 2007 auf 2008 um mehr als 600 gestiegen ist, fällt die Zunahme von 2008 auf 2009 mit 8 Fällen gering aus. Trotz der Zunahme in den letzten Jahren liegt die Zahl der Minderjährigen, für die Schutzmaßnahmen getroffen wurden, bei unter 0,2 % aller unter 18-Jährigen in Baden-Württemberg.

Vor allem Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren von vorläufigen Schutzmaßnahmen betroffen

Im betrachteten Zeitraum (2005 bis 2009) wurden stets für etwas mehr Mädchen als Jungen vorläufige Schutzmaßnahmen ergriffen. Im Jahr 2009 lag der Anteil der Mädchen bei 53 %. Vor allem für ältere Kinder bzw. Jugendliche wurden vorläufige Schutzmaßnahmen notwendig: Nur rund ein Sechstel (468) der Betroffenen war unter 6 Jahre alt, ein Viertel (700) im Alter von 6 bis 14 Jahren, mehr als die Hälfte (1 576) jedoch zwischen 14 und 18 Jahren. Drei Viertel (2 032) der betroffenen Kinder und Jugendlichen hatten die deutsche Staatsangehörigkeit.

Bei einem Viertel der Kinder und Jugendlichen wurden die Schutzmaßnahmen auf eigenen Wunsch durchgeführt. Dabei äußerten Mädchen in deutlich höherem Maße (33,8 %) den Wunsch nach Schutz als Jungen (15,9 %). Rund die Hälfte der vorläufigen Schutzmaßnahmen geht auf die Initiative von Jugendämtern und Polizei zurück. Der Anteil der Jungen, bei denen die Maßnahme von Jugendamt oder Polizei angeregt wurde, liegt mit 57,6 % über dem der Mädchen mit 47,5 %. Bei einem Zehntel der Mädchen und einem Sechstel der Jungen ging die Anregung der Schutzmaßnahme von den Eltern aus (Schaubild 2).

Eltern häufig mit der Erziehung überfordert

Hinsichtlich des Anlasses einer Schutzmaßnahme konnten in der Statistik der Kinder- und Jugendhilfe Teil I/7 (Vorläufige Schutzmaßnahmen) für jedes Kind oder Jugendlichen bis zu zwei Anlässe der Maßnahme angegeben werden. In den meisten Fällen (1 221) wurde dabei die Überforderung der Eltern oder eines Elternteiles genannt. Bei 537 Kindern oder Jugendlichen lagen Beziehungsprobleme vor, davon waren 376 Mädchen und nur 161 Jungen betroffen. In 334 Fällen wurde eine Vernachlässigung des Kindes oder Jugendlichen und in 323 Fällen Anzeichen für Misshandlung festgestellt. Auch bei den Anzeichen für Misshandlung waren mehr Mädchen (204) als Jungen (119) betroffen. Bei 99 Jungen und 24 Mädchen lag der Anlass der Schutzmaßnahme in einer Delinquenz bzw. Straftat des Kindes oder Jugendlichen. 120 Jugendliche wurden aufgrund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland in Obhut genommen, davon 114 (95 %) Jungen. Im Jahr 2008 waren nur 55 Jugendliche unbegleitet eingereist, so dass sich die Zahl dieser Fälle mehr als verdoppelt hat.

Die Hälfte der Kinder und Jugendlichen kann nach Ende der Maßnahme wieder in die (Pflege-)Familie zurückkehren

Drei Viertel der Kinder und Jugendlichen wurden vorübergehend in einer Einrichtung untergebracht, ein Viertel fand Schutz bei einer geeigneten Person. Bei der Hälfte der Kinder und Jugendlichen endete die Maßnahme mit der Rückkehr zu dem/den Personensorgeberechtigten oder zur Pflegefamilie bzw. ins Heim. In einem Drittel der Fälle wurden erzieherische Maßnahmen außerhalb des Elternhauses eingeleitet. 7 % der Kinder und Jugendlichen erhielten im Anschluss an die vorläufige Schutzmaßnahme sonstige stationäre Hilfen, wie zum Beispiel stationäre Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte oder stationäre Aufnahme in einem Krankenhaus. Für 8 % der Jugendlichen endete die Maßnahme ohne anschließende Hilfe. Dies war dann der Fall, wenn das Kind oder der Jugendliche sich eigenmächtig aus der Unterbringung im Rahmen der vorläufigen Schutzmaßnahme entfernt hat und somit auch nicht bekannt ist, ob sich eine Hilfe anschließt, aber auch bei einer Abschiebung ins Ausland, einer Rückgabe an die Polizei oder einer Zu- oder Rückführung an eine Jugendvollzugsanstalt.

Sorgerechtsentzüge

Der Schutzauftrag bei Gefährdung der Kindeswohles nach § 8a SGB VIII beinhaltet auch die Anrufung des Familiengerichts durch das Jugendamt: Kann das Jugendamt mit den Hilfsangeboten nach dem SGB VIII die Gefährdung des Kindes oder Jugendlichen nicht bewältigen, weil die Sorgeberechtigten nicht mitwirken wollen oder können, und kommt es zu der Überzeugung, dass die Gefährdung des Wohls des Kindes nur durch einen dauerhaften Eingriff in die Rechte des Sorgeberechtigten abgewendet werden kann, muss es das Familiengericht anrufen. Auch hierbei entscheidet das Jugendamt in eigener Verantwortung2.

Da das Sorgerecht der Eltern durch Artikel 6 des Grundgesetzes geschützt ist, kann es nur unter strengen Voraussetzungen durch das Familiengericht entzogen werden (§ 1666 BGB). Voraussetzung für einen Sorgerechtsentzug ist, dass das körperliche, seelische oder geistige Wohl eines Kindes oder sein Vermögen durch Missbrauch der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch einen Dritten gefährdet wird. Konkrete Tatsachen müssen hierbei die Gefährdung belegen.

Die Jugendämter haben in den letzten Jahren verstärkt Anzeigen zum vollständigen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge an die Gerichte erstattet. Gab es 2007 noch 1 334 Anzeigen, erhöhte sich ihre Zahl auf 1 625 im Jahr 2009. Die Zahl der gerichtlichen Maßnahmen lag 2009 mit 924 dagegen etwas niedriger als im Vorjahr (1 010). In 646 Fällen wurde das Sorgerecht auf das Jugendamt übertragen.

1 Vgl. auch KOMDAT Jugendhilfe Heft 2/09, S. 5

2 Vgl. Krug u. a.: Kinder- und Jugendhilfe, SGB VIII Komentar, § 8a.