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Je kleiner, desto größer?

Gemeindegröße und Wahlbeteiligung bei Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg

Die Bevölkerung in Baden-Württemberg nahm in den 90er-Jahren stark zu und auch im aktuellen Jahrzehnt wurden noch spürbare Bevölkerungszuwächse gemessen. Zusätzlich haben EU-Bürger das Wahlrecht erhalten. Beide Entwicklungen führten zu einer starken Zunahme an Wahlberechtigten bei Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen. Die Zahl der Wählerinnen und Wähler hat damit aber nicht Schritt gehalten, sondern abgenommen. Insgesamt führten die gegensätzlichen Verläufe zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung bei Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen. Die Wahlbeteiligung bei Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen variiert deutlich mit der Gemeindegröße. Grundsätzlich trifft die Aussage zu, dass die Wahlbeteiligung in kleineren Gemeinden höher ist als in größeren Gemeinden und Städten.

Wahlen stellen nach wie vor die wichtigste formale Beteiligung in der Demokratie dar. Eine hohe Beteiligung bei Wahlen wird in demokratischen Staaten oftmals als Zustimmung zum politischen System und als Bestätigung der Gewählten und deren Entscheidungen verstanden. Die Legitimation der Gewählten wird auch von der Höhe der Wahlbeteiligung abhängig gemacht.

Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen in der Wahlhierarchie

Kommunalwahlen werden als »nachrangige« Wahlen eingestuft.1 Dafür gibt es mehrere Gründe. Den höheren politischen Systemebenen, also Land und Bund, wird grundsätzlich mehr Bedeutung beigemessen. Durch den Raum, den beispielsweise Bundes- und Landtagswahlen in den Medien einnehmen, wird das Bewusstsein für die Bedeutung gesteigert. Ein Teil der Wählerinnen und Wähler geht davon aus, dass kommunale Entscheidungen Sachzwängen unterliegen und deshalb unabhängig von den Mandatsträgern entschieden werden. Entscheidungen auf kommunaler Ebene werden eher als unpolitisch eingestuft und oftmals als Verwaltungsaufgaben wahrgenommen.

Aufgrund der Bedeutung, die Bürger den Entscheidungen der einzelnen Gremien zuordnen, werten sie auch die Wahlen zu den unterschiedlichen politischen Gremien nach ihrer subjektiven Wichtigkeit. Daraus ergibt sich die nachfolgend abgebildete Hierarchie, deren wahrgenommene Bedeutung von oben nach unten abnimmt.

  • Bundestagswahl
  • Landtagswahl
  • Gemeinderatswahl
  • Europawahl
  • Bürgermeisterwahl

Wahlbeteiligung spiegelt Bedeutung der Wahl wider

Die Beteilung bei Wahlen zu den unterschiedlichen politischen Gremien und Ämtern spiegelt die Bedeutung wider, die die Wählerschaft ihnen beimisst (Schaubild 1).

Die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen liegt weit über den Beteiligungen bei anderen Wahlen. Sie hat jedoch bei den Bundestagswahlen in Baden-Württemberg seit dem Jahr 1998 von einer zur anderen Wahl kontinuierlich abgenommen. Mit einer Beteiligung von 72,4 % bei der Bundestagswahl 2009 lag sie um rund 10 Prozentpunkte unter der Wahl von 1998. Bei den übrigen Wahlen ging die Wahlbeteiligung im betrachteten Zeitraum bereits früher zurück. Das Niveau der Beteiligung war zu Beginn der 90er-Jahre sehr unterschiedlich. Die Wahlbeteiligung bei den baden-württembergischen Landtagswahlen sank ausgehend von 70 % im Jahr 1992 bis zu den Wahlen im Jahr 2006 auf 53,4 % und hatte damit zuletzt ein Beteiligungsniveau wie die »nachrangigen« Wahlen. Die Wahlbeteiligung bei den Gemeinderatswahlen ging in diesem Zeitraum um 16 Prozentpunkte zurück. Im Jahr 1994 beteiligten sich noch fast 67 % der Wahlberechtigten an der Wahl zu den Gemeinderäten, 1999 waren es nur noch 53 %. Bei den beiden folgenden Wahlen 2004 und 2009 ging die Beteiligung nur geringfügig auf 50,7 % zurück.

Zwischen Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg lässt sich auf den ersten Blick keine Hierarchie erkennen. 1994 lag die Beteiligung bei den Gemeinderatswahlen etwas über den Bürgermeisterwahlen, 1999 lag sie darunter und 2004 stimmten sie fast überein. Dies liegt an der unterschiedlichen Abgrenzung der Wahlen (siehe i-Punkt), aber auch daran, dass die Beteiligung bei Bürgermeisterwahlen stärker variiert als die Beteiligung zu anderen politischen Wahlen. So wurden im Zeitraum zwischen 1990 und 2009 bei Bürgermeisterwahlen mit 16,5 % so geringe und mit 99,1 % so hohe Wahlbeteiligungen erzielt wie bei keinen Gemeinderatswahlen. Bei Bürgermeisterwahlen mobilisieren andere Einflüsse die Wählerinnen und Wähler als bei Gemeinderatswahlen. Neben der Einstufung als »nachrangige« Wahl wirkt sich bei den Bürgermeisterwahlen auch das Angebot an Kandidaten aus, das die Wählerinnen und Wähler haben. Bei der Mehrheit der Bürgermeisterwahlen tritt der Amtsinhaber ohne ernsthafte Gegenkandidaten für eine weitere Amtszeit an. In diesen Fällen ist eine Wahl im Sinne einer Auswahl deutlich eingeschränkt.

Angesichts der hohen Partizipation bei Bundestagswahlen leuchten allgemeiner Politikverdruss, Wertewandel oder zurückgehende Beteiligungsbereitschaft als ausreichende Erklärung für den starken Rückgang bei den Gemeinderatswahlen wenig ein.

Höhere Wahlbeteiligungen durch Zusammenlegen von Wahlen

Die Wahlberechtigten nehmen heute an mehr Wahlen als früher teil. Beispielsweise waren im Jahr 2009 die Bruchsaler Wahlberechtigten zu sechs Wahlen aufgerufen. Zu den Wahlen zum Gemeinderat, Kreistag, Europäischen Parlament und Bundestag kamen noch zwei Bürgermeisterwahlen. Als Mittel gegen Wahlmüdigkeit aufgrund gehäufter Urnengänge wird deshalb häufig vorgeschlagen, Wahlen zusammenzulegen. In Baden-Württemberg finden seit 1994 die Wahlen zu den Gemeinderäten, Kreistagen und dem Europäischen Parlament zusammen statt. Von zusammengelegten Wahlen wird erwartet, dass sie eine höhere Wahlbeteiligung erzielen als einzeln stattfindende Wahlen. Die Wählerinnen und Wähler können mit einem Wahlgang mehreren Verpflichtungen nachkommen.

Ob durch die Zusammenlegung von Wahlen eine höhere Wahlbeteiligung erreicht wird, ist umstritten. Welchen Effekt die Zusammenlegung haben kann, zeigte sich, als im Jahr 1999 die Zusammenlegung der Wahlen zu den Gemeinderäten und zum Europäischen Parlament in Baden-Württemberg ausgesetzt wurde. Die Wahlbeteiligungen bei beiden Wahlen lagen in der Folge weit unter dem Niveau von 1994. Die Beteiligung bei der Wahl zum Europäischen Parlament erlitt mit 40,6 % einen richtigen Einbruch. Diese Wahl profitiert von der Zusammenlegung mit der Gemeinderatswahl stärker als die Gemeinderatswahl von der Europawahl.

Die Wahlen, die in der Wahlhierarchie weiter unten stehen, haben offensichtlich einen Vorteil von der Zusammenlegung mit übergeordneten Wahlen. Bei den übergeordneten Wahlen zeigt sich indes kein Unterschied. Die Zusammenlegung der Bürgermeisterwahlen mit anderen Wahlen bestätigt diese Feststellung.

In Baden-Württemberg ist es erst seit 2005 möglich, die Bürgermeisterwahlen mit anderen Wahlen zusammenzulegen. Der zeitliche Rahmen für die Terminierung einer Bürgermeisterwahl ist sehr eng gefasst. Deshalb konnten bisher erst wenige Gemeinden die Gelegenheit nutzen, die Bürgermeisterwahl mit einer anderen Wahl zusammenzulegen. Die Wahlbeteiligung bei den Bürgermeisterwahlen, die mit der Bundestagswahl 2009 zusammengelegt wurden, betrug zwischen 65 % und 83 %.2 Sie lag damit weit über dem Durchschnitt der übrigen Bürgermeisterwahlen von 47 % im Zeitraum zwischen 2005 und 2009. Bei über der Hälfte der zusammengelegten Bürgermeisterwahlen konnten sich die bisherigen Amtsinhaber, die ohne Konkurrenz antraten, über die hohe Zustimmung freuen. Ganz offensichtlich hatten die Bürgermeisterwahlen einen Gewinn von der vergleichsweise hohen Beteiligung bei den Bundestagswahlen.

Die Gemeindegröße als Einflussfaktor für die Wahlbeteiligung

Mit Blick auf die Größe der Kommune, in der eine Wahl stattfindet, lässt sich grundsätzlich beobachten, dass kleinere Gemeinden sowohl bei Bundestags- als auch bei Kommunalwahlen höhere Wahlbeteiligungen haben können als größere. Darüber hinaus hat die Gemeindegröße bei der Gemeinderatswahl noch einen besonderen Einfluss, wenn die abgegebene Stimme nicht zu einem nationalen Gesamtergebnis beiträgt, sondern unmittelbar vor Ort gewertet wird. Zunächst soll deshalb die Gemeindestruktur in Baden-Württemberg und ihre Entwicklung im Zeitraum zwischen 1990 und 2009 betrachtet werden.

Kleine und mittlere Gemeinden deutlich in der Mehrzahl

Baden-Württemberg ist durch eine Vielzahl kleiner und mittelgroßer Gemeinden gekennzeichnet. Über drei Viertel der insgesamt 1 101 Gemeinden3 haben weniger als 10 000 Einwohner. Durch die Gemeindereform der 70er-Jahre wurden aus den ehemals 3 350 Gemeinden 1 110 Gemeinden. Viele der ehemals selbstständigen Gemeinden sind heute zu einer Gemeinde oder Stadt zusammengewachsen. In vielen früher eigenständigen Gemeinden finden aber auch heute – über 30 Jahre nach der Gemeindereform – noch eigenständige politische Willensbildungsprozesse statt. Sie zeigen sich an unterschiedlichem Abstimmungsverhalten nach Ortsteilen bei den Kommunal- und Bürgermeisterwahlen.

Die Zahl der Gemeinden in Baden-Württemberg ist seit dem Abschluss der Gemeindereform in den 70er-Jahren mit 1 110 weitgehend stabil. Erst in den letzten Jahren gab es drei weitere Zusammenschlüsse von Gemeinden. So wurden 2006 die Gemeinde Tennenbronn zu Schramberg eingemeindet, 2007 die Gemeinde Betzweiler-Wälde zu Loßburg und zum Ende des Jahres 2008 schlossen sich acht kleine Gemeinden zur Gemeinde Kleines Wiesental zusammen, so dass es heute 1 101 Gemeinden gibt (Schaubild 2).

Die Einwohnergröße der einzelnen Gemeinden hat sich im betrachteten Zeitraum zwischen 1990 und 2009 verändert. Dadurch hat sich auch die Anzahl der Gemeinden in den einzelnen Größenklassen verändert. Den größten Zuwachs verzeichnen vor allem die mittleren Gemeinden zwischen 5 000 und 20 000 Einwohnern. Aber auch die Anzahl der Großen Kreisstädte hat in diesem Zeitraum um 15 zugenommen. Im Gegensatz dazu gab es zu Beginn des Jahres 2009 in der Größenklasse bis 3 000 Einwohner 84 Gemeinden weniger als 1990.

Die Veränderung der Zahl der Gemeinden in den unterschiedlichen Gemeindegrößen hängt mit dem starken Bevölkerungswachstum zusammen, das Baden-Württemberg erfahren hat. Im Vergleich zum Beginn des Jahres 1990 lebten Ende 2008 über 1,1 Mill. Menschen mehr in Baden-Württemberg. Inzwischen wohnt rund die Hälfte der baden-württembergischen Bevölkerung in 100 Städten über 20 000 Einwohnern. Die Zunahme der Bevölkerung beruht hauptsächlich auf einem starken Zuzug nach Baden-Württemberg.

Der Bevölkerungszuwachs verlief nicht gleichmäßig. Es gab Kommunen, deren Einwohnerzahl in dieser Zeit leicht abgenommen hat, und Kommunen, die stark gewachsen sind. Diese Entwicklung hat unterschiedliche Ursachen. Einige Gemeinden konnten in dieser Zeit beispielsweise Neubaugebiete ausweisen und so neue Einwohner aufnehmen. Andere Gemeinden sind geografisch begrenzt und können sich nicht weiter ausdehnen.

Höhere Wahlbeteiligung in kleineren Gemeinden

Die Einteilung in Gemeindegrößenklassen bestä­tigt, dass kleinere Gemeinden höhere Wahlbeteiligungen aufweisen als größere (Schaubild 3). Darüber hinaus wird deutlich, dass bei den größeren Städten die Wahlbeteiligung bei Gemeinderatswahlen seit 1994 stärker zurückgegangen ist als bei den kleineren Gemeinden. Die Wahlbeteiligung bei den Städten über 20 000 Einwohnern ist von der Wahl 1994 bis zur Wahl 2009 um 17 Prozentpunkte gesunken. Die Wahlbeteiligung der Gemeinden unter 1 000 Einwohnern sank in diesem Zeitraum – ausgehend von einem höheren Wahlbeteiligungsniveau im Jahr 1994 – dagegen bis zum Jahr 2009 um 11 Prozentpunkte. Der Abstand der Wahlbeteiligung zwischen größeren Städten und kleineren Gemeinden ist bei Gemeinderatswahlen dadurch größer geworden.

Welche Unterschiede gibt es zwischen kleineren und größeren Gemeinden, die dazu beitragen können, dass sich in kleineren Gemeinden mehr Wahlberechtigte an einer Wahl beteiligen? Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass in kleinen Gemeinden die sozialen Netze enger sind, möglicherweise dadurch auch die soziale Kontrolle höher ist. Zum anderen bieten sich in einer kleinen Gemeinde auch für die Gemeinderatsmitglieder und Bürgermeister intensivere Möglichkeiten, persönliche Beziehungen zu den Einwohnern aufzubauen und die Wahlberechtigten zur Teilnahme an der Wahl zu motivieren. Ein Beleg dafür findet sich bei den Bürgermeisterwahlen. Auch wenn in den vergangenen 10 Jahren in baden-württembergischen Gemeinden mit weniger als 3 000 Einwohnern die Amtsinhaber ohne Konkurrenz antraten und die Wahlberechtigten »keine Wahl« hatten, nahmen trotzdem die Hälfte der Wahlberechtigten an den Wahlen teil. In den größeren Gemeinden über 20 000 Einwohnern bestätigen dagegen nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten den alleine angetretenen Amtsinhaber bei seiner Wiederwahl.

Bei Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen trägt die Stimme der Wählerinnen und Wähler nicht zu einem Landes- oder Bundesergebnis bei, sondern wird unmittelbar vor Ort gewertet. Hier können die Wählerinnen und Wähler eher das Gefühl haben, das ihre Stimme »zählt« bzw. bedeutend ist, und zwar umso mehr je kleiner die Gemeinde ist.

Unterschiede bei der Beteiligung auch bei Städten und Gemeinden gleicher Größe

Die Zusammenfassung in Gemeindegrößenklassen überdeckt Unterschiede zwischen den Gemeinden und Städten. Der Zusammenhang zwischen der Gemeindegröße und der Beteiligung an Gemeinderatswahlen ist nicht linear. Der Korrelationskoeffizient zwischen der Gemeindegröße am Ende des Jahres 2008 und der Wahlbeteiligung bei den Gemeinderatswahlen 2009 ist zwar hochsignifikant, aber mit – 0,328 nicht überwältigend hoch. Vielmehr nimmt die Wahlbeteiligung ab einer bestimmten Gemeindegröße nicht weiter ab. Bei den Gemeinderatswahlen haben sich die Wahlbeteiligungen der Städte über 20 000 Einwohnern und der Großstädte inzwischen angeglichen. Es kann vielmehr davon ausgegangen werden, dass sowohl in Groß- als auch in Universitätsstädten die Wählerinnen und Wähler zusätzlich mobilisiert werden. Zum einen finden Wahlen in größeren Städten auch bundesweite Aufmerksamkeit. Zum anderen verstärkt sich die Konkurrenz der Parteien mit zunehmender Größe, so dass sie stärkere Anstrengungen unternehmen, die Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Oftmals reisen Funktionsträger aus der Landes- und Bundespolitik zur Unterstützung der Kandidaten an. Ein genauerer Blick auf die einzelnen Städte in der Größenklasse ab 50 000 Einwohnern bestätigt die Annahmen (Tabelle).

Die Entwicklung der Wahlbeteiligung bei Gemeinderatswahlen in den Städten über 50 000 Einwohnern verlief ausgesprochen heterogen. Spitzenreiter bei der Beteiligung bei allen Wahlen war Tübingen. Die Wahlbeteiligung in Tübingen lag bei allen Wahlen über der Beteiligung der anderen Städte mit über 50 000 Einwohnern. Mit Ausnahme der Gemeinderatswahl 1999 lag sie sogar über der durchschnittlichen Wahlbeteiligung aller Gemeinden und Städte. Tübingen zählt zu den Städten, deren Wahlbeteiligung nach dem starken Rückgang bei den Gemeinderatswahlen von der Wahl im Jahr 1994 zur Wahl 1999 nicht weiter sank, sondern bei der Wahl 2004 nochmals anstieg und sich stabilisierte. Ähnliche Entwicklungen durchliefen auch Stuttgart, Freiburg im Breisgau, Ludwigsburg, Esslingen und Konstanz. Im Gegensatz dazu ging in den meisten anderen Städten die Wahlbeteiligung ab 1999 kontinuierlich weiter zurück.

Neben der Gemeindegröße gibt es noch weitere soziale und politische Faktoren, die Wählerinnen und Wähler mobilisieren, zur Wahl zu gehen. Beispielsweise können Unterschiede in der Sozialstruktur der Bevölkerung dazu beitragen, dass mehr Wahlberechtigte an den Wahlen teilnehmen. Darüber hinaus gibt es unterschiedliche politische Traditionen in den Gemeinden, die sich in der Wahlbeteiligung niederschlagen. Die Sozialstruktur und politische Traditionen wirken sich bei allen Wahlen gleichermaßen aus. Statistisch lassen sich diese Einflüsse durch die Wahlbeteiligung bei vorangegangenen Wahlen nachweisen. Dadurch lässt sich auch erklären, weshalb Tübingen bei allen Wahlen eine höhere Beteiligung aufweist als beispielsweise Singen mit weniger Einwohnern.4

Bei Bürgermeisterwahlen zählt das Angebot an Kandidaten

Die Wahlbeteiligungen bei Bürgermeisterwahlen lassen sich teilweise ebenfalls auf die Sozialstruktur zurückführen. Darüber hinaus spielt das Angebot der zur Wahl stehenden Kandidatinnen und Kandidaten eine größere Rolle als bei den übrigen Wahlen. Dieses hängt allerdings wiederum von der Gemeindegröße ab. Während bei der Mehrzahl der Bürgermeisterwahlen in den kleineren Gemeinden die Amtsinhaber ohne ernsthafte Konkurrenz für eine weitere Amtszeit kandidieren, gibt es nur ausnahmsweise Wahlen in Großen Kreisstädten und Stadtkreisen, in denen die Amtsinhaber nicht herausgefordert werden. Die Bewerberzahlen sind in den Großen Kreisstädten und Stadtkreisen deshalb höher als in den kleineren Gemeinden. Die Gemeindegröße wirkt jedoch einer höheren Beteiligung trotz des besseren Angebots entgegen (Schaubild 4).

Die Beteiligung bei Bürgermeisterwahlen in den einzelnen Gemeinden und Städten weicht nicht wesentlich von der Beteiligung der Gemeinderatswahlen ab, wenn es sich um eine Bürgermeisterwahl handelt, die nicht bereits vor der Wahl als entschieden gilt. Sie liegt regelmäßig unter der Beteiligung bei der Gemeinderatswahl, wenn der Amtsinhaber ohne ernsthafte Konkurrenz für eine weitere Amtszeit antritt und im ersten Wahlgang wiedergewählt wird, wie beispielsweise in Sindelfingen (2009), Heilbronn (2007) oder Karlsruhe (2006). Bei diesen Wahlen beteiligten sich zwei Drittel der Wahlberechtigten nicht.

Mehr Wahlberechtigte – weniger Wählerinnen und Wähler

Die prozentuale Angabe der Wahlbeteiligung bei Wahlen in Deutschland wird bestimmt, indem die Zahl der Wählerinnen und Wähler ins Verhältnis gesetzt wird zu der Zahl der Wahlberechtigten. Eine Abnahme der Wahlbeteiligung kann sich also dadurch ergeben, dass sich die Zahl der Wählerinnen und Wähler ändert, das heißt dass weniger Wahlberechtigte als früher zur Wahl gehen. Aber auch eine Zunahme der Zahl der Wahlberechtigten kann sich auf die Wahlbeteilungsquote auswirken (Schaubild 5).

Zwischen 1994 und 2009 hat die Zahl der Wahlberechtigten in Baden-Württemberg bei der Kommunalwahl beständig zugenommen. An der Kommunalwahl 2009 konnten fast 810 500 Wahlberechtigte mehr teilnehmen als bei der Wahl 1994. Dies bedeutet eine Zunahme um über 10 %.Die Entwicklung lief in den Kommunen recht unterschiedlich. In rund 5 % der baden-württembergischen Kommunen sank die Zahl der Wahlberechtigten. Dagegen stieg sie in über 200 Gemeinden und Städten um jeweils über 20 %. Die Zunahme der Zahl der Wahlberechtigten kann mehrere Gründe haben: Erstens können mehr junge Wählerinnen und Wähler dazugekommen sein. Zweitens können durch Zuzüge in die Kommunen mehr Menschen als früher wahlberechtigt sein und drittens kann durch gesetzliche Änderungen der Kreis der Wahlberechtigten erweitert sein.

Für die Zunahme der Zahl der Wahlberechtigten zwischen 1994 und 2009 treffen vor allem die beiden letzteren Gründe zu. Baden-Württemberg verzeichnete im genannten Zeitraum einen positiven Wanderungssaldo, das heißt es zogen insgesamt mehr Menschen zu als weg. Der Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Einwohnerzahl zwischen 1994 und 2009 in einer Gemeinde und der Zunahme der Wahlberechtigten bei den Kommunalwahlen 1994 und 2009 ist außerordentlich hoch. Durchschnittlich sind von 100 zugezogenen Einwohnern in einer Gemeinde 80 wahlberechtigt.

Darüber hinaus wurde der Kreis der Wahlberechtigten erweitert. Seit dem 1. Januar 1996 können Bürger der Europäischen Union, die bereits mindestens 3 Monate in der Gemeinde leben, bei Kommunalwahlen wählen. Eine rechtliche Ausweitung des Kreises der Wahlberechtigten (zum Beispiel auch die Herabsetzung des Wahlalters) ist ein Meilenstein der Wahlrechtsänderung und kommt äußerst selten vor. Durch die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten in die Europäische Union wurde der Kreis der Wahlberechtigten für die Gemeinderatswahl 2004 nochmals erweitert. Insgesamt sind in Baden-Württemberg rund 5 % der Wahlberechtigten Angehörige anderer EU-Staaten.

Die Zunahme der Zahl der Wahlberechtigten ging jedoch nicht einher mit der Zunahme der Zahl der Wählerinnen und Wähler, was zu einer gleichbleibenden Wahlbeteiligung führen könnte, sondern vielmehr mit einer Abnahme der Zahl der Wählerinnen und Wähler. Während im Jahr 1994 noch über 4,7 Mill. Bürger wählten, waren es 2009 nur noch knapp über 4 Mill. Der stärkste Rückgang fand zwischen den Wahlen 1994 und 1999 statt. So lag1999 die Wählerzahl sogar unter 4 Mill. Der Blick auf die einzelnen Städte und Gemeinden zeigt, dass es insgesamt noch nicht einmal 50 Gemeinden gibt, in denen die Zahl der Wählerinnen und Wähler zugenommen hat.

Es kann anhand der Aggregatdaten keine Aussage darüber getroffen werden, ob die zusätzlichen Wahlberechtigten ihr Wahlrecht in geringerem Maße ausüben. Analysen des Statistischen Amtes der Stadt Stuttgart bestätigen jedoch, dass sich bei der Gemeinderatswahl 2009 nur knapp 15 % der wahlberechtigten Unionsbürger, die in Stuttgart immerhin 10 % der Wahlberechtigten ausmachen, an der Wahl beteiligten.5

Es besteht ein starker statistischer Zusammenhang zwischen der Zunahme der Wahlberechtigten in den Kommunen auf der einen Seite und der Abnahme der Wählerinnen und Wähler auf der anderen. Der berechnete Korrelationskoeffizient beträgt – 0,8. Das heißt je stärker die Zahl der Wahlberechtigten in einer Kommune zwischen 1994 und 2009 zugenommen hat, desto größer war die gleichzeitige Abnahme der Wählerinnen und Wähler im gleichen Zeitraum. Je länger die Einwohner in einer Gemeinde leben, desto ausgeprägter sind die sozialen Bindungen und Netzwerke in der Gemeinde. Sie beeinflussen maßgeblich die Bereitschaft, an einer Wahl teilzunehmen. Je stärker eine Gemeinde wächst, desto länger kann es dauern, bis die neuen Mitglieder in der Gemeinde integriert sind.

Die räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten und die Zunahme der Mobilität der Bevölkerung führen tendenziell zur abnehmenden Integration in die Gemeinden.

Neben der hierarchischen Bedeutung einer Wahl trägt auch die Mobilität dazu bei, dass sich mehr Wählerinnen und Wähler an Bundes- als an Kommunalwahlen beteiligen. Von bundespolitischen Regelungen bleiben die Bürger auch nach einem Umzug innerhalb von Deutschland betroffen. Der unmittelbare Bezug zur Kommunalpolitik indes geht zumindest zunächst verloren.

Fazit

Als Fazit kann man festhalten, dass die Wahlbeteiligung bei den baden-württembergischen Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen in den vergangenen 20 Jahren gesunken ist, weil auf der einen Seite die Zahl der Wahlberechtigten durch das Bevölkerungswachstum in Baden-Württemberg, die Ausdehnung des Kreises der Wahlberechtigten auf EU-Bürger und die Aufnahme neuer Staaten in die EU stark zugenommen hat und auf der anderen Seite gleichzeitig immer weniger Wählerinnen und Wähler zur Wahl gegangen sind. Der Rückgang der Wahlbeteiligung war besonders ausgeprägt zwischen der Gemeinderatswahl 1994 und der Wahl 1999. Bei den Bundestagswahlen blieb die Wahlbeteiligung in diesem Zeitraum auf einem unverändert hohen Niveau. Diese Unterschiede könnten auch als ein Zeichen dafür verstanden werden, die politische Integration der zusätzlichen Wahlberechtigten in das kommunale politische Geschehen zu fördern.

1 Reif, Karlheinz/Schmitt, Hermann, 1980: Nine second-order national elections – A conceptual framework for the analysis of European election results, in: European Journal of Political Research 8, p. 3–44.

2 Das arithmetische Mittel von 24 Wahlen, von denen die Wahlbeteiligung vorliegt, betrug 74 %, der Median 73,7 %.

3 Der gemeindefreie Bezirk Münsingen bleibt bei der Betrachtung ausgeschlossen.

4 Bei der Regressionsanalyse bringt die Einbeziehung der Wahlbeteiligung der vorangegangenen Wahlen den größten Erklärungsgehalt in einem Modell sowohl zur Erklärung der Wahlbeteiligung als auch zum Rückgang der Wahlbeteiligung zwischen den Gemeinderatswahlen 1994 und 2009. Die zusätzliche Einbeziehung der Einwohnergröße (logarithmiert) bringt keinen zusätzlichen Ertrag.

5 Hausmann, Michael, 2009: Wahlbeteiligung von Deutschen und Unionsbürger/-innen bei den Gemeinderatswahlen 1999, 2004 und 2009 im Vergleich. Statistik und Informationsmanagement. Monatsheft des Statistischen Amtes der Stadt Stuttgart 6/2009.