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Ermittlung der Armutsgefährdungsquoten und Armutsgefährdungsschwellen

Methodische Grundlagen zur Messung von Armut

Zur Ermittlung der Armutsgefährdung einzelner Bevölkerungsgruppen in räumlich abgegrenzten Gebieten stehen unterschiedliche Datengrundlagen, Definitionen und Vergleichsmaßstäbe zur Verfügung. Im vorliegenden Beitrag wird beschrieben, wie die Armutsgefährdungsquoten rechnerisch ermittelt werden. Die Berechnung kann nach dem Nationalkonzept bzw. nach dem Regionalkonzept erfolgen. Das heißt, die Armutsgefährdungsquote für Baden-Württemberg kann nach dem Nationalkonzept anhand des Bundesmedians und nach dem Regionalkonzept anhand des Landesmedians der Äquivalenzeinkommen berechnet werden. Die unterschiedlichen Konzepte und ihre Bedeutung für die Interpretation der Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt.

Die Armutsgefährdungsquote ist gemäß der EU-Definition der Anteil der Personen, die mit weniger als 60 % des mittleren Einkommens der Bevölkerung auskommen müssen. Die Höhe der Armutsgefährdungsschwellen und -quoten hängt von einer Reihe methodischer Entscheidungen ab:

  • Welche Datenquelle wird genutzt, zum Beispiel Mikrozensus, EU-SILC »Leben in Europa«1, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), Sozio-ökonomisches Panel (SOEP),
  • Welche Skala zur Berechnung des Äquivalenzeinkommens (zum Beispiel alte oder neue OECD-Skala) wird verwendet,
  • Welcher Mittelwert (Median oder arithmetisches Mittel) wird gewählt,
  • Welche Bezugspopulation wird betrachtet?

Ermittlung der Armutsgefährdungsquoten

Basis der Berechnungen der Armutsgefährdungsschwellen (= Armutsriskikoschwelle) und der Armutsgefährdungsquoten (=Armutsrisikoquote) ist das im Mikrozensus ermittelte monatliche Haushaltsnettoeinkommen (siehe auch vorstehenden Beitrag zu Armutsgefährdung in Baden-Württemberg). Dieses Einkommen wird mittels einer Äquivalenzskala auf ein »bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen« (im Folgenden Äquivalenzeinkommen) pro Person umgerechnet, indem das Haushaltsnettoeinkommen durch die Summe der Bedarfsgewichte der im Haushalt lebenden Personen geteilt wird.

Zur Bedarfsgewichtung wird die »neue OECD-Skala« verwendet. Danach wird der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Bedarfsgewicht von 1 zugeordnet. Für alle weiteren Personen über 14 Jahre sieht die OECD-Skala ein Bedarfsgewicht von 0,5 und für jede weitere Person unter 14 Jahren von 0,3 vor.

Beispiel: Für einen Zweipersonenhaushalt bestehend aus zwei Erwachsenen ergibt sich bei einem Haushaltsnettoeinkommen von 3 000 Euro ein Nettoäquivalenzeinkommen von 2 000 Euro pro Person (3 000 Euro: (1,0 + 0,5) = 2 000 Euro).

Auf Basis dieser Äquivalenzeinkommen wird der Median ermittelt. Der Median ist der mittlere Wert einer aufsteigend geordneten Datenreihe. Ober- beziehungsweise unterhalb des Medians liegt jeweils die Hälfte der Fälle der Datenreihe. Der Median wird daher durch »Ausreißerwerte« weniger stark beeinflusst als das arithmetische Mittel.

Die Armutsgefährdungsschwelle liegt bei 60 % des Medians des Äquivalenzeinkommens. Man erhält so die Armutsgefährdungsschwelle für einen Einpersonenhaushalt (zum Beispiel in Baden-Württemberg: 871 Euro, in Deutschland: 801 Euro). Um die Armutsgefährdungsschwellen für andere Haushaltstypen zu ermitteln, muss dieser Wert wiederum mit den entsprechenden Bedarfsgewichten multipliziert werden. Für einen Vierpersonenhaushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren in Baden-Württemberg bedeutet dies 871 Euro × (1,0 + 0,5 + 0,3 + 0,3) = rund 1 830 Euro.

Es ergeben sich unterschiedliche Armutsgefährdungsschwellen und Armutsquoten je nachdem, ob man für die Berechnung des Medians bzw. der Armutsgefährdungsschwelle den jeweiligen regionalen Durchschnitt (= Regionalkonzept) oder den nationalen Durchschnitt (= Nationalkonzept) des Äquivalenzeinkommens zugrunde legt.

Nationalkonzept versus Regionalkonzept

Bei der Ermittlung der Armutsgefährdungsquoten für Deutschland nach dem Nationalkonzept wird die Armutsrisikoschwelle für Deutschland insgesamt zugrunde gelegt. Das heißt, für die Berechnung werden alle Äquivalenzeinkommen der Personen in allen Bundesländern herangezogen. Der auf dieser Basis ermittelte Median dient als Ausgangswert zur Berechnung der Armutsgefährdungsschwelle für Deutschland. Für einen Einpersonenhaushalt liegt die Armutsgefährdungsschwelle in Deutschland bei 801 Euro, für einen Vierpersonenhaushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1 683 Euro. Wer weniger Einkommen zur Verfügung hat, gilt in Deutschland als armutsgefährdet.

Die anhand dieser Armutsgefährdungsschwelle ermittelten Armutsgefährdungsquoten ermöglichen eine Aussage darüber, wie hoch der Anteil der Bevölkerung in Deutschland, in einem Bundesland oder einer Region ist, dem weniger als dieses Einkommen zur Verfügung steht.

Allerdings muss auch beachtet werden, dass in Deutschland regional betrachtet nicht nur das Einkommensniveau unterschiedlich hoch ist, sondern auch das Preisniveau etwa für Mieten, Lebensmittel und die Teilnahme an Kultur- und Sportaktivitäten. So ist das Preisniveau in den südlichen Bundesländern, zum Beispiel insbesondere bei den Kosten für Wohnraum, wesentlich höher als in den östlichen Bundesländern. Für den gleichen Eurobetrag kann sich ein Bewohner Sachsen-Anhalts »mehr leisten« als ein Bewohner Baden-Württembergs. Ebenso existieren Preis- und Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land bzw. zwischen Ballungsräumen und peripheren Regionen.

Um diesen Aspekt in die Betrachtung der relativen Armut vor Ort einzubeziehen, können die Armutsgefährdungsschwellen und -quoten anhand des Regionalkonzeptes berechnet werden.

Beim Regionalkonzept werden nur die Äquivalenzeinkommen der betrachteten örtlichen Einheit (zum Beispiel eines Bundeslandes oder einer Region) zur Ermittlung der Armutsgefährdungsschwellen herangezogen. Das führt dazu, dass sich aufgrund des höheren Einkommensniveaus in den südlichen Bundesländern im Vergleich zum Nationalkonzept eine höhere Armutsgefährdungsschwelle, zum Beispiel in Baden-Württemberg 871 Euro, ergibt. Die Armutsgefährdungsschwellen in den östlichen Bundesländern liegen dagegen aufgrund des insgesamt geringeren Einkommensniveaus und der geringeren sozialen Spreizung dort unter dem nach dem Nationalkonzept berechneten Wert von 801 Euro (zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern 677 Euro, Sachsen-Anhalt 694 Euro).

Nach dem Regionalkonzept gilt also ein Einpersonenhaushalt in Baden-Württemberg bereits als armutsgefährdet, wenn ihm weniger als 871 Euro monatlich zur Verfügung stehen, nach dem Nationalkonzept aber erst, wenn er weniger als 801 Euro zur Verfügung hat. Umgekehrt gilt ein Einpersonenhaushalt in Mecklenburg-Vorpommern nach dem Nationalkonzept bereits bei einem Einkommen von weniger als 801 Euro als armutsgefährdet, unter Beachtung des regionalen Preis- und Einkommensgefüge aber erst, wenn ihm weniger als 677 Euro zur Verfügung stehen.

Der Begriff der »relativen Armut« bedeutet Armut im Vergleich zum jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen. Wenn es um die Analyse der relativen Armut vor Ort geht – also um die Fragen, was kann sich der Einzelne »vor Ort« leisten, in welchem Umfang ist Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wie etwa die Teilnahme an Sportaktivitäten oder Kulturveranstaltungen möglich – dann bietet sich für Vergleiche der Armutsquoten eher das Regionalkonzept an.

Das Nationalkonzept führt dazu, dass in wirtschaftlich schwachen Regionen die Armut überschätzt wird und sie in prosperierenden Räumen systematisch unterschätzt wird.2 Aber auch das Regionalkonzept hat Schwächen. Wenn das Durchschnittseinkommen in einer Region sehr gering ist, fallen in der Regel die am Durchschnittseinkommen gemessenen Armutsgefährdungsquoten ebenfalls gering aus. Als ergänzende Indikatoren zur Beurteilung der Armutsgefährdung in einer Region sollten Daten zum Verfügbaren Einkommen oder zum Bezug von Arbeitslosengeld II betrachtet werden.3