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Hochaltrigkeit

Aspekte einer späten Lebensphase

Was wir heute als Hochaltrigkeit bezeichnen und noch als eine Ausnahme ansehen, dürfte künftig die Regel sein. Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter von 85, 90 und mehr Jahren. Auf der Suche nach den Bedingungen des sehr langen Lebens richtet sich der Blick der Altersforschung zunehmend auf die Hundertjährigen und hier besonders auf jene Personen, die am ältesten sind: die mindestens 110-Jährigen. Die Erkenntnisse sind bislang eher dürftig und teilweise widersprüchlich. Ungeachtet dessen überwiegen Gedanken und Ängste, die um Defizite kreisen, bei der Deutung des hohen Alters. Ein gutes Leben im hohen Alter – Widerspruch oder Wunschdenken?

Was haben Seneca, Michelangelo und Charlotte von Stein gemeinsam? Der römische Schriftsteller und Vater des gleichnamigen Philosophen aus der Zeit vor Christus Geburt, der italienische Bildhauer, Maler und Architekt der Renaissance und die enge Freundin von Goethe am Beginn der Aufklärung: Sie sind wenigstens 85 Jahre alt geworden. Wer allerdings in der Vergangenheit ein so hohes Alter erreichte, konnte eher selten einem anderen in diesem Alter die Hand reichen. Das galt auch für Xenophanes von Kolophon und selbst noch für Winston Churchill. Der griechische Dichter soll im 5. und 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung rund 100 Jahre alt geworden sein, der englische Politiker und Schriftsteller starb mit 90 Jahren. 1 Ganz anders ist es heute und wohl erst recht zukünftig. Was wir als Hochaltrigkeit bezeichnen, dürfte künftig eher die Regel als die Ausnahme sein.

Immer mehr Hochaltrige

Es gibt keine einheitliche Definition dessen, wann ein Mensch organisch, psychisch und sozial hochaltrig ist. Es ist eine pragmatische Definition, wenn Menschen mit wenigstens 80 oder 85 Jahren als hochaltrig gelten. Der Blick auf Baden-Württemberg belegt, dass bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein nur ganz wenige Frauen und Männer älter als 85 oder gar 90 Jahre wurden. Noch 1970 waren gerade fünf von 1 000 Einwohnern 85 Jahre und älter. 4 Jahrzehnte später (2010) sind es schon 24, darunter acht sogar 90 Jahre und älter. In den folgenden Jahrzehnten bis 2050 dürfte sich der Anteil der hochbetagten Menschen in der Bevölkerung noch verdreifachen, der Anteil der 90-Jährigen und Älteren sogar vervierfachen.

Dennoch mögen auf den ersten Blick diese Zahlen noch klein wirken, aber ihre Größe ändert sich, wenn die absoluten Veränderungen in den Vordergrund rücken. Nicht nur relativ, sondern auch absolut steigt die Zahl der ältesten Menschen. Lebten im Südwesten 1970 rund 49 000 Menschen im Alter von 85 Jahren und mehr, sind es heute schon 255 000 und künftig (2050) wohl über 700 000. Wiederum stärker dürfte unter den Ältesten die Zahl der 90-Jährigen und Älteren zunehmen, von rund 10 000 (1970) auf 82 000 (2010) bis auf 300 000 im Jahr 2050. Die Vorausberechnungen für 2050 sind vergleichsweise zuverlässig, denn diese ältesten Menschen leben bereits. Sie sind geboren vor 1960 und sind heute wenigstens Anfang 50. Wenn sich die künftigen sozialen Verhältnisse nicht wesentlich von den heutigen Lebensbedingungen unterscheiden, dann werden diese Menschen 2050 erleben.

Deutlicher Rückgang der Sterblichkeit

Nun ist endgültig ein demografischer Wandel beobachtbar, der beispiellos in der Geschichte der Menschheit ist, der seine Anfänge im 19. und 20. Jahrhundert hatte und sich im 21. Jahrhundert fortsetzen wird. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sank vor allem die Sterblichkeit in jungen Jahren. Dadurch stieg die durchschnittliche Lebenserwartung. Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts sinkt zudem besonders stark die altersspezifische Mortalität und Morbidität der Menschen über 60 Jahre. Die Menschen erreichen nun öfters ein sehr hohes Alter.

Die Zunahme der hochaltrigen Menschen in Baden-Württemberg mag hier beispielhaft stehen für ähnliche Entwicklungen in den Industriestaaten Europas und Nordamerikas und in Japan. Japan hat heute schon weltweit relativ die meisten Ältesten in der Bevölkerung und dürfte dies auch künftig haben. Derzeit sind elf von 1 000 Japanern 90 Jahre und älter, in 4 Jahrzehnten sind es wohl 47. Vergleichsweise moderat ist hingegen die Entwicklung in Schweden. Heute hat Schweden noch einen höheren Anteil hochbetagter Menschen in der Bevölkerung als Deutschland, 2050 wird sich dieses Verhältnis vermutlich grundlegend verändert haben. Dann wären 17 von 1 000 Schweden 90 Jahre und älter, während es in Deutschland mit 33 auf 1 000 Einwohner fast doppelt so viele wären. Doch ist vor allem die künftige Zunahme der Hochaltrigkeit universal. Derzeit lebt die Mehrheit der ältesten Menschen noch in den sogenannten stärker entwickelten Staaten. Bereits 2025 dürfte dies auf die heute noch weniger stark entwickelten Staaten zutreffen. 2

Von der Ausnahme zur Regel

Sind die künftigen 100-Jährigen die neuen 80-Jährigen? Geboren nach 1990, werden sie bereits bezeichnet als die Generation C, wie Centenarian. Es sind die Geburtskohorten, von denen zum ersten Mal viele 100 und mehr Jahre leben dürften. 3 Doch zunächst ein Blick zurück: Wer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren wurde, erlebte kaum das 90. Lebensjahr. Von 100 000 neugeborenen Jungen waren es 330, bei den Mädchen 471. Wer hingegen zwischen 2008 und 2010 in Deutschland auf die Welt kam, dürfte schon eher das nächste Jahrhundert erleben. Von jeweils 100 000 neugeborenen Jungen und Mädchen könnten rund 16 000 Jungen und 29 000 Mädchen wenigstens in das 90. Lebensjahr eintreten, also jeder sechste Junge und etwa jedes vierte Mädchen.4 Derzeit leben rund 13 000 Menschen im Alter von 100 Jahren und älter, 2050 dürften es fast 100 000 sein, schon 10 Jahre später rund 170 000.5

Berechnungen in der Altersforschung gehen davon aus, dass in den nächsten Jahrzehnten die Zahl der 100-Jährigen und Älteren noch deutlicher steigen dürfte. Nach Ergebnissen des Wirtschaftswissenschaftlers Bomsdorf für Deutschland wird vermutlich jeder zweite heute geborene Junge mindestens 90 Jahre alt, jedes zweite Mädchen sogar 95 Jahre. 25 % könnten sogar mindestens das Alter von 97 (Jungen) und 100 (Mädchen) Jahren erreichen. Rund 8 Mill. der heute in Deutschland lebenden Menschen werden voraussichtlich mindestens 100 Jahre alt und das Jahr 2111 erleben.6 Andere Wissenschaftler sehen eine noch stärkere Zunahme der 100-Jährigen voraus. Steigt die Lebenserwartung in diesem Jahrhundert genauso schnell, wie sie in den letzten 2 Jahrhunderten gestiegen ist, bedeutet das für die seit 2000 geborenen Jungen und Mädchen in Kanada, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Großbritannien und den USA: Jeder zweite von ihnen wird mindestens 100 Jahre, in Japan sogar 107 Jahre alt.7

Diese Aussagen stellen keine Prognosen dar, sondern stützen sich auf Modellrechnungen, hinter denen bestimmte Annahmen stehen, wie die heutigen Bedingungen der Lebenserwartungen und ihre bisherigen Veränderungen. Aber selbst wenn diese Aussagen nur annä­hernd einträfen, hätte dies grundlegende Veränderungen unserer Gesellschaft zur Folge, etwa für Ausbildung, Erwerbstätigkeit, soziale Sicherung und erst recht für Partnerschaft, Familie und das Miteinander der Generatinen.

Der noch unbekannte moderne Methusalem

Die Altersforschung wendet sich neuen Altershorizonten zu. Nicht mehr die Hochaltrigen im Alter über 85 Jahre stehen im Zentrum des Forschungsinteresses, sondern die Hundertjährigen und hier besonders jene Personen, die am ältesten sind: die mindestens 110-Jährigen.8 Gleichzeitig ist das Wissen selbst über die jüngeren Hochbetagten noch dürftig und auch widersprüchlich. Welche Bedingungen sind entscheidend dafür, dass Menschen 90 Jahre und älter werden? Welche Rolle spielen organische, psychische und soziale Bedingungen, und wie spielen sie zusammen: Gene, Einstellungen und soziales Verhalten? Jüngere Studien kommen zu folgenden Ergebnissen:9

  • Es sind einzelne Gene (zum Beispiel APOE, FOXO3A) erkannt worden, die wohl wichtig sind für gesundes Altern und Langlebigkeit. Es gibt eine Vielzahl von völlig unterschiedlichen Genvarianten, die sehr selten sind, in einer Population vorkommen und in anderen nicht, die aber biologisch ähnlich wirken.
  • In Familien mit 100-Jährigen leben auch Brüder, Schwestern und Kinder eher länger. Sie haben zudem ein geringeres Risiko für altersbedingte Krankheiten. Offen ist jedoch der Einfluss von genetischen, aber auch nicht genetischen Faktoren.
  • Frauen erreichen wesentlich häufiger ein so hohes Alter, allerdings sind die wenigen Männer in diesem Alter gesünder. Hochbetagte Frauen sind häufiger nie verheiratet gewesen und hatten weniger Geburten als Frauen, die in jüngeren Jahren gestorben sind.
  • Entscheidend für gesundes Altern und Langlebigkeit sind wohl auch psychische Dispositionen, also Einstellungen im Umgang mit Herausforderungen des Alterns und des Lebens insgesamt.
  • Wenig überraschend ist einerseits, dass mäßiger Alkoholkonsum, Nichtrauchen, eine gesunde, eher fettarme Ernährung und körperliche Bewegung öfters zum Lebensstil der hochbetagten Menschen gehören.10 Andererseits unterscheiden sich sehr alte Menschen in sozialem Status und Verhalten anscheinend kaum vom Durchschnitt einer Bevölkerung. Das gilt beispielweise für den Body Mass Index (BMI) in früheren Lebensphasen, das Rauchen, die körperliche Bewegung oder die Ernährung. Auch unter den Hochbetagten im Alter von 95 Jahren und älter gibt es stärkere Raucher und adipöse Menschen. Vermutlich schützen physische, aber auch psychische Eigenschaften diese Menschen vor den negativen Effekten ihres eher ungesunden Lebensstils. Und diese Eigenschaften dürften bei sehr alten Menschen wichtiger sein als im Allgemeinen in der Bevölkerung.11
  • Die Mehrheit der über 90-Jährigen ist in der Lage selbstständig zu leben, wenn auch teilweise mit funktionalen Einschränkungen und dank technischer und personaler Hilfen.12 In Deutschland empfangen 41 % in dieser Altersgruppe keine Leistungen aus der Pflegeversicherung. Von den 59 % Leistungsempfängern wird jeder vierte zu Hause versorgt durch Angehörige oder ambulante Pflegedienste, die meisten von ihnen in der Pflegestufe 1.13 Andere wiederum erreichen nur wegen dieser Hilfen das hohe Alter – also durch Unterstützungen, über die frühere Kohorten nicht in dieser Art und diesem Umfang verfügten. Diese hochbetagten Menschen sind in der Regel fragil und abhängig. Zwei Gruppen von Krankheiten lassen sich bilden, mit denen Menschen in das hohe Alter eintreten. Die eine umfasst kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs, Anämie und Osteoporose, die andere Gruppe Erkrankungen, die mit Demenz zusammenhängen. Jüngere Kohorten in Japan, die das 90. Lebensjahr erreichten, sollen durchschnittlich von schlechterer Gesundheit sein als frühere Kohorten. 14

Ein gutes Leben im hohen Alter

Die Suche nach dem modernen Methusalem bestimmt zunehmend auch eine Richtung in der Altersforschung, die ihren Fokus eher auf Gesundheit als auf Krankheit legt und die die physischen, psychischen und sozialen Bedingungen zu verstehen versucht, unter denen ein gesundes Altern möglich ist.15 In diesem Zusammenhang kann auch das Symposium »Gutes Leben im hohen Alter: Das Altern in seinen Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsgrenzen verstehen« gesehen werden, das im Sommer letzten Jahres an der Universität Heidelberg stattfand. Das Symposium des Instituts für Gerontologie trug dazu bei, die noch zahlreichen Lücken, die bislang die Hochaltrigkeitsforschung in Deutschland aufweist, wenigstens ein Stück zu schließen, genauso wie die Frühjahrstagung der Sektion Alter(n) und Gesellschaft der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Berlin im gleichen Jahr mit dem Thema »Hochaltrigkeit in der Gesellschaft des langen Lebens«. Auf beiden Veranstaltungen standen die Themen Altersbilder, Demenz, Grenzen und Möglichkeiten im hohen Alter im Vordergrund. Im Folgenden werden einige Kernaussagen der Beiträge bei diesen Tagungen dargelegt.

Kritische Distanz zu Funktionen der Altersbilder

Gutes Leben im hohen Alter meint immer auch ein gelingendes Leben, und was dazu gehört, hängt davon ab, welches Bild die Gesellschaft und der Einzelne vom Alter haben (Andreas Kruse, Heidelberg). Diese Altersbilder sind nicht statisch, sondern historisch und kulturell geprägt. Altersbilder entstehen in der Gesellschaft und erfüllen verschiedene Aufgaben. Sie bieten Orientierung: kognitiv und semantisch, pragmatisch und normativ. »Sie grenzen und schärfen ein, was ein gutes und richtiges Leben im Alter sei und was nicht« (Harm-Peer Zimmermann, Marburg). Altersbilder leisten Integration insofern, als sie einen Rahmen für weitgehend identische Sicht- und Verhaltensmuster setzen. Und Altersbilder bieten Entlastung und Sicherheit. Sie reduzieren Komplexität »und sind darauf angelegt, einen aufwendigen und beliebigen Umgang mit Alter auszuschließen«. Sie schützen vor Willkür und vermitteln dadurch Sicherheit, was jedoch nicht per se eine Garantie für ein gutes Leben ist. Durch diese Aufgaben üben Altersbilder auch Macht aus auf unser Fühlen, Denken und Handeln.

Altersbilder lenken Unterscheidungen in junge Alte und alte Alte, in dritte Lebensalter (60 bis 85 Jahre) und vierte Lebensalter (ab 85 Jahre), in best agers, die noch alles können, und worst agers, »der ganze Rest, wo man nicht mehr genau hinguckt«. Diese klaren Unterscheidungen werden pragmatisch begründet oder mit der relativ hohen Wahrscheinlichkeit körperlicher, psychischer und sozialer Defizite in sehr hohem Alter. Zugleich verschleiern sie die tatsächliche Vielfalt, die Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten im sehr hohen Alter (Dagmara Wozniak, Heidelberg). Unbestritten ist: Das hohe Lebensalter und die Gruppe der Hochaltrigen sind eine gesellschaftliche wie biografische Realität. Gegenüber jüngeren Lebensphasen ist die Multimorbidität deutlich höher, die Mortalität beschleunigt sich und der Institutionalisierungsgrad nimmt zu. Das bedeutet, immer mehr Menschen im hohen Alter leben in Einrichtungen wie Alters- und Pflegeheimen. Dennoch ist »eine fixe chronologische Abgrenzung konzeptionell nicht hilfreich« (Jochen P. Ziegelmann, Berlin). Solche Klassifikationen, indem sie eingrenzen, grenzen sie auch aus, können diskriminieren und den Einzelnen verletzen. Zu beobachten sei bereits jetzt eine »übermäßige Thematisierung des aktiven und produktiven dritten Alters« und die gesellschaftliche Konstruktion des hohen Alters » als das gesellschaftlich ‚Andere’, das vom Ideal der Aktivität, Produktivität und Jugendlichkeit abweicht und dadurch als abschreckendes kulturelles Anti-Modell dient« (Ludwig Armheim, Vechta).

Demenz: Von Schreckenszenarien und neuen Sinnfenstern

»Hauptsache fit im Kopf« – »Düstere Aussichten für Deutschland«.16 Die Einschätzung des einzelnen Älteren und die in der Gesellschaft zeugen von einer verbreiteten Angst vor Demenz. Schon jetzt sollen 1,3 Mill. Menschen mit der Erkrankung leben. In wenigen Jahrzehnten soll die Zahl der Demenzfälle doppelt so hoch sein wie heute.17 Der Begriff Demenz bezeichnet Krankheitsbilder, bei denen wichtige Gehirnfunktionen wie Gedächtnis, Orientierung, Sprache und Lernfähigkeit nach und nach unwiederbringlich verloren gehen. Mit rund zwei Dritteln ist die Alzheimer-Krankheit die am häufigsten auftretende Demenzerkrankung. Demenzielle Beeinträchtigungen werden als der »schrecklichste Höchstpreis« erkannt, den es für ein langes Leben zu zahlen gilt (Welf-Gerrit Otto, Marburg). Die individuelle und kollektive Angst vor dem drohenden kognitiven Verlust und der möglichen Entmündigung und Isolation ergibt sich aus dem Selbstverständnis einer modernen Gesellschaft, zu der kognitive Leistungsfähigkeit, Verstandesschärfe und Geistesgegenwart genauso gehören wie Selbstbeherrschung und Unabhängigkeit. Demenz wird fast ausschließlich als Defizit betrachtet, mit dem eine Dehumanisierung der individuellen Existenz einhergeht. Ein gutes Leben mit Demenz scheint kaum vorstellbar.

Zunächst ist festzuhalten: Die Mehrheit der 90-Jährigen und Älteren ist nicht dement und dürfte auch nicht dement sterben.18 Gleichzeitig versucht die jüngere Altersforschung andere Aspekte der Krankheit hervorzuheben, ohne die oft sehr schwierige Lebenssituation der an Demenz erkrankten Menschen wie auch der sie betreuenden Angehörigen zu verdrängen. Mit Demenz gehe ein »Normalitätsbruch« einher, der jedoch gleichsam als »Eintritt in eine neue normale Welt« angesehen wird (Dirk H. Medebach, Gießen). Es geht um neue »Sinnfenster«, die sich auftun können, wenn die vorhandenen Potenziale selbst bei Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz realisiert werden (Marion Bär, Heidelberg): Die gesteigerte Intensität des gegenwärtigen Erlebens, die Augenblicklichkeit als Gewinn des Vergessens, die Transformation vom Abstrakten zum Konkreten können die kreative Seite des Menschen und seine biografischen Erinnerungen begünstigen und der Demenz einen Teil ihres Schreckens nehmen.

Grenzen und Möglichkeiten im hohen Alter

Es gibt Kulturen auf der Welt, »denen es nicht einfällt, zwischen alt und nicht alt zu unterscheiden« (Harm-Peer Zimmermann, Marburg). Betrachtet man das ganze Leben in seiner Zeitlichkeit, dann ist Alter kein isoliertes Phänomen. In jeder Lebensphase können wir an körperliche, psychische und soziale Grenzen stoßen. In der späten Lebensphase treten sie nur häufiger und eher gemeinsam auf als in früheren Lebensphasen. Das späte Leben hat Eigenarten. Es ist eher durchsetzt von Fragilitäten und Verletzlichkeiten von Körper, Psyche und Verhalten und besonders geprägt von Endlichkeit und Endgültigkeit, aber nicht nur. Das Altern ist nicht notwendig mit Krankheit und Negativität verbunden. Zu den individuellen Möglichkeiten im Alter gehört die »Aktualisierung« des Selbst, des eigenen Lebens, aber ebenso die Fähigkeit des »Loslassens«, die Verletzlichkeit zu leben und die zunehmende Abhängigkeit von anderen zu akzeptieren (Andreas Kruse, Heidelberg). Das bedeutet nach Kruse schließlich, bis in die schwerste Krankheit hinein, in die schwerste Demenz hinein, auch im Sterben die biografischen »Reste des Selbst«, den »Kern des Selbst«, der nur noch in Schatten vorhanden sein mag, erleben und erfahren zu können.

Allerdings verlangt das eine Bereitschaft seitens der Gesellschaft, dies zuzulassen. Es gilt die Vielfalt und die sozialen Unterschiede des Alters, selbst des sehr hohen Alters zu erkennen, aber auch die Selektivität des Alterns, also die Bedingungen unter denen bestimmte Menschen sehr alt werden und andere nicht. Berücksichtigt gehören alters- und kohortenspezifische Aspekte. Für jede Generation alter Menschen sind Vergangenheit und Zukunft anders und dadurch der Umgang und die Bewältigung mit Problemen und Belastungen. Die heutigen hochbetagten Menschen haben in einer schwierigen Vergangenheit mit Einschränkungen umzugehen gelernt und altern im Wohlstand. Die künftigen hochbetagten Menschen sind im Wohlstand aufgewachsen und dürften unter schwierigeren Verhältnissen ihr hohes Alter erleben, denn die sozialen Unterschiede im hohen Alter dürften noch zunehmen (Wolfgang Clemens, Berlin). Doch trotz aller Differenzierungen im hohen Alter bleibt schließlich, eine Entdifferenzierung zu erkennen, die in eine zunehmende Hilfsbedürftigkeit mündet und eine zunehmende Hilfsbereitschaft seitens der Gesellschaft erfordert.

Ein gutes Leben im hohen Alter? Es gibt »keine isolierte Ethik des Alterns«: »Die späte Lebenszeit lässt sich als eine Radikalisierung der menschlichen Grundsituation verstehen« (Thomas Rentsch, Dresden). Die Art und Weise, in der die Gesellschaft mit ihren ältesten Mitgliedern umgeht, ist dann empirischer Ausdruck ihrer generellen moralischen Verfasstheit im Sinne »menschlicher Achtung und Missachtung« (Niklas Luhmann). Der einzelne Mensch könnte die gewonnenen Lebensjahre darauf verwenden, sich weniger durch häufig überzogene »Anti-Aging-Aktivitäten« zu bemühen, dem Unausweichlichen auszuweichen, und sich mehr Gedanken über den Tod zu machen: Si vis vitam, para mortem.19

1 Alle Angaben zu den genannten Personen siehe Brockhaus Enzyklopädie, 19. Auflage, Mannheim 1986–1994.

2 United Nations: World Population Ageing 1950–2050, New York 2002.

3 Willcox, Donald Craig/Willcox, Bradley J./Poon, Leonard W.: Centenarian Studies: Important Contributors to Our Understanding of the Aging Process and Longevity, in: Current Gerontology and Geriatrics Research, Volume 2010, Article ID 484529, 6 pages doi:10.1155/2010/484529.

4 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Sterbetafel Deutschland 2008/2010, Wiesbaden 2011.

5 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung Deutschlands bis 2060. Ergebnisse der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2009.

6 Nach Berechnungen von Eckart Bomsdorf; Pressemeldungen der Universität Köln vom 21. Juni 2010 und 30. August 2011.

7 Christensen, Kaare/Doblhammer, Gabriele/Rau, Roland/Vaupel, James W.: Ageing populations: the challenges ahead, in: The Lancet, Vol. 374, October 3, p. 1196–1208, 2009.

8 Maier, Heiner/Gampe; Jutta/Jeune, Bernard/Robine, Jean-Marie/Vaupel, James W. (Editors): Supercentenarians, Heidelberg 2010.

9 Siehe Referenzen 3, 7 und 8.

10 Wilhelmsen, L./Svärdsudd, K./Eriksson,H./Rosengren, A./Hansson, P.-O./Welin,C./Odén, A./Welin, L.: Factors associated with reaching 90 years of age: a study ofmen born in 1913 in Gothenburg, Sweden, in: Journal of Internal Medicine, doi: 10.1111/j.1365-2796.2010.02331.x.

11 Rajpathak, Swapnil N./Liu, Yingheng/Ben-David, Orit/Reddy, Saritha/Atzmon, Gil/Crandall, Jill/Barzilai, Nir: Lifestyle Factors of People with Exceptional Longevity, in: Journal of American Geriatrics Society, 59, p. 1509–1512, 2011, doi: 10.1111/j.1532-5415.2011.03498.x.

12 Höpflinger, François: Hochaltrigkeit – demographische, gesundheitliche und soziale Entwicklungen, in: Debatte 1/2003, S. 4–12; www.pro-senectute.ch.

13 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Pflegestatistik 2009, Wiesbaden 2011. Aus verschiedenen Gründen (zum Beispiel unzureichende Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen, differierendes Antragsverhalten bei Paaren und Alleinlebenden) sagt die Pflegestatistik nur bedingt etwas über das tatsächliche Ausmaß der Selbstständigkeit unter den Hochbetagten aus.

14 Siehe Referenzen 3 und 7.

15 Willcox, Bradley J./Willcox, D. Craig/Ferrucci, Luigi: Secrets of Healthy Aging and Longevity From Exceptional Survivors Around the Globe: Lessons From Octogenarians to Supercentenarians, in: J Gerontol A Biol Sci Med Sci. 63(11)/ 2008, p. 1181–1185.

16 Beispielsweise www.spiegel.de vom 22. Februar 2011 oder www.welt.de vom 23. Februar 2011.

17 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.): Demenzreport, Berlin 2011.

18 Corrada, M.M./Brookmeyer, R./Berlau, D./Paganini-Hill, A./Kawas, C.H.: Prevalence of dementia after age 90, in: Neurology, 71/2008, p. 337–343.

19 »Wenn Du das Leben aushalten willst, richte Dich auf den Tod ein« (Sigmund Freud, 1924).