:: 4/2012

Von der »Höheren Schule« zur neuen »Hauptschule«: Das Gymnasium als neue Nummer 1

Im Schuljahr 1952/53 besuchten im neu gegründeten Baden-Württemberg 688 700 Schülerinnen und Schüler die Volksschule, mit einem Anteil von rund 82 % die eindeutig dominierende Schulart. Die Höheren Schulen kamen auf einen Anteil von 14 %. Hilfs- und Sonderschulen sowie Mittelschulen spielten zahlenmäßig noch keine bedeutende Rolle. Schuljahresbeginn war damals im Frühjahr. Bei Realschulen und Gymnasien erfolgte dann vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren ein starker Ausbau. Seither ist die Entwicklung der Schülerzahlen wellenförmig verlaufen, mit zwei Höhepunkten in den Schuljahren 1976/77 (1,53 Mill. Schüler) und 2003/04 (1,31 Mill. Schü­ler). Das Gymnasium hat sich zur meist besuchten weiterführenden Schulart entwickelt. Fast drei von zehn Schülern der allgemeinbildenden Schulen wurden hier im Schuljahr 2010/11 unterrichtet. Jeder fünfte Schüler ging auf eine Realschule, nur noch jeder achte auf eine Werkreal-/Hauptschule. In den letzten 10 Jahren führten insbesondere die internationalen Schulleistungsstudien zu bildungspolitischen Diskussionen und Reformen.

Die Volksschule: In den 1950er-Jahren die dominierende Schulart

In den 1950er-Jahren war die Volksschule die eindeutig vorherrschende Schulart. Sie war die »normale« Schule, auf die ein Kind bzw. ein Jugendlicher ging. Im Schuljahr 1952/53 besuchten 688 700 Schülerinnen und Schüler (rund 82 %) der allgemeinbildenden Schulen die Volksschule. Eine »Höhere Schule« (dazu zählten Gymnasien, Progymnasien, Aufbaugymnasien sowie Evangelisch-Theologische Seminare) besuchten rund 116 400 bzw. 14 % der Schülerinnen und Schüler. Auf eine Mittelschule gingen knapp 17 700 Kinder und Jugendliche, auf eine Hilfs- und Sonderschule fast 11 000. Der Anteil beider Schularten zusammen lag bei gut 3 % – womit diese Schularten zahlenmäßig nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten. Weitere gut 4 200 Schülerinnen und Schüler besuchten eine Freie Waldorfschule. Die Volksschulpflicht betrug in den 1950er-Jahren nur 8 Jahre – ein 9. Pflichtschuljahr war seit Ostern 1961 erst in den beiden Städten Esslingen am Neckar und Weinheim an der Bergstraße eingeführt worden.1

Verschiebung des Schuljahres-Beginns in den 1960er-Jahren

Das Schuljahr begann damals im Frühjahr. Im Oktober 1964 legte die Kultusministerkonferenz den Herbst als Termin fest. Über die konkrete Umsetzung war im Januar 1966 zu entscheiden. Die vorgeschlagenen Regelungen führten zu bundesweiten Protesten – nicht zuletzt aufgrund der großen Komplexität des ThemaS. Allen Bundesländern gemeinsam war bei der Umstellung auf den Herbst eine Schalt-Zeit von 16 Monaten (zwischen dem letzten Oster-Termin 1966 und dem ersten Herbst-Termin 1967).

Baden-Württemberg und vier weitere Bundesländer (Nordrhein-Westfalen, Hessen, Saarland und Rheinland-Pfalz) entschieden sich für die »süddeutsche Lösung«. Hier wurde die Schalt-Zeit geteilt in 2 Kurz-Schuljahre, eines von April bis November 1966 und eines von Dezember 1966 bis Juli 1967. Daher gab es 1966 zwei Entlass-Jahrgänge, vor Ostern und im Herbst. Am 1. Dezember 1966 wurden neue Schulanfänger eingeschult. Von 1967 an beginnt das Schuljahr im Herbst, einheitlich für alle Bundesländer.2

Ausbau von Realschulen und Gymnasien in den 1960er- und 1970er-Jahren

Bei den Realschulen und Gymnasien erfolgte vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren ein starker Ausbau. So stieg die Zahl der Realschulen von 144 im Schuljahr 1960/61 stetig und stark an auf 357 im Schuljahr 1970/71 und weiter bis auf 430 im Schuljahr 1980/81. Der Anstieg wurde hier fast ausschließlich vom öffentlichen Bereich getragen. Die Zahl der sieben privaten Realschulen, die es 1960/61 gab, erhöhte sich nur auf 16 im Schuljahr 1980/81. Im Schuljahr 2010/11 gab es 489 Realschulen in Baden-Württemberg, 428 öffentliche und 61 private. Insbesondere in der letzten Dekade hat die Zahl der Realschulen in freier Trägerschaft sehr zugenommen.

Die Zahl der Gymnasien nahm von 315 im Schuljahr 1960/61 zu auf 369 im Schuljahr 1970/71 und weiter auf 413 im Schuljahr 1980/81. Hier vollzog sich der Anstieg ausschließlich im öffentlichen Bereich. Die Zahl der privaten Gymnasien lag sowohl im Schuljahr 1960/61 als auch 1 Jahrzehnt später bei 55, bis zum Schuljahr 1980/81 sank sie sogar auf 52. Im Schuljahr 2010/11 gab es schließlich 449 Gymnasien in Baden-Württemberg, 377 öffentliche und 72 private. Wie bei den privaten Realschulen hat sich auch die Zahl der privaten Gymnasien in den vergangenen 10 Jahren merklich erhöht.

Dagegen hat die Zahl der Grund- und Hauptschulen stark abgenommen von 4 092 im Schuljahr 1960/61 auf 3 580 im Schuljahr 1970/71 und weiter bis auf 2 570 im Schuljahr 1980/81. Während die Zahl der Grundschulen in den letzten 20 Jahren (1990/91 bis 2010/11) von 2 434 auf 2 545 angestiegen ist, hat sich die Zahl der Hauptschulen von 1 240 auf 1 076 reduziert.

Die Entwicklung der Schülerzahlen verlief in zwei großen Wellen

Seit 1960/61 ist die Entwicklung der Schülerzahlen an den allgemeinbildenden Schulen in zwei großen Wellen verlaufen, mit zwei Höhepunkten in den Schuljahren 1976/77 und 2003/04 (1,53 Mill. bzw. 1,31 Mill. Schülerinnen und Schüler). Zwischen diesen beiden Höhepunkten liegt ein Tiefpunkt im Schuljahr 1988/89 mit 1,02 Mill. Schülerinnen und Schülern. Seit 2003/04 gehen die Schülerzahlen insgesamt demografisch bedingt zurück. Allerdings sind die einzelnen Schularten unterschiedlich betroffen. An den Realschulen ist die Schülerzahl in etwa gleich geblieben. Dagegen nimmt die Zahl der Grundschüler seit 2005/06 kontinuierlich ab, die der Hauptschüler bereits seit 2002/03. Die Gymnasien konnten zwar auch in den letzten Jahren noch zulegen, jedoch wird sich hier mit dem Ausscheiden des »doppelten« Abiturientenjahrgangs im Sommer 2012 die Schülerzahl schlagartig um einen Jahrgang verringern (Schaubild 1).

Im Zeitraum von 1952 bis 2010 konnte sich das Gymnasium eindeutig als die Nummer 1 im dreigliedrigen Schulsystem Baden-Württembergs etablieren. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die einzelnen Schularten im Schuljahr 2010/11 wider. Knapp ein Drittel der insgesamt 1,21 Mill. Schülerinnen und Schüler der allgemeinbildenden Schulen befand sich an einer Grundschule. Das Gymnasium war die meist besuchte weiterführende Schulart. Fast drei von zehn Schülern wurden hier unterrichtet. Jeder fünfte Schüler ging auf eine Realschule, nur noch jeder achte auf eine Werkreal-/Hauptschule. Knapp 7 % der Schülerinnen und Schüler waren an einer Sonderschule oder an einer integrierten Schulform.

Übergänge auf weiterführende Schulen haben sich stark verändert

Die Verschiebungen in der Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die weiterführenden Schularten sind vor allem eine Folge des veränderten Übergangsverhaltens von den Grundschulen auf weiterführende Schulen. In den 1960er-Jahren nahm die Übergangsquote auf Realschulen bzw. Gymnasien zwar zu – von rund 9 bzw. 16 % auf gut 17 bzw. knapp 24 % zum Schuljahr 1970/71, dennoch blieb die Hauptschule die mit Abstand meist gewählte weiterführende Schulart. Auch 10 Jahre später (1980) war die Hauptschule mit einer Übergangsquote von 41 % noch die eindeutig vorherrschende Schulart. Auf eine Realschule wechselten rund 25 %, auf ein Gymnasium gut 29 %. 1994 war die Hauptschule mit einer Quote von 37 % zwar weiterhin die stärkste Schulart, aber Realschule und Gymnasium konnten bereits auf knapp 30 bzw. gut 31 % zulegen.

Seither sind die Übergangsquoten auf das Gymnasium von Jahr zu Jahr gestiegen und gleichzeitig die Quoten auf die Hauptschule bzw. Werkrealschule gesunken. Im Jahr 2001 war die Übergangsquote auf das Gymnasium dann erstmals höher als die auf die Hauptschule oder auf die Realschule. Selbst die flächendeckende Einführung des »G8« zum Schuljahr 2004/05 konnte den Trend zum Gymnasium nicht stoppen. Diese Entwicklung hat sich auch bei den Übergängen zum Schuljahr 2011/12 – wenngleich in abgeschwächter Form – fortgesetzt. Knapp 24 % der Viertklässler wechselten auf eine Werkreal- oder Hauptschule, 34 % auf eine Realschule und 41 % auf ein Gymnasium (Schaubild 2).

Privatschulen konnten ihre Schülerzahlen steigern

Die Privatschulen in Baden-Württemberg erfreuen sich einer zunehmenden Beliebtheit. Im Mai 1961 lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine private Schule besuchten, lediglich bei 3 %. Im Schuljahr 1970/71 gab es an den privaten allgemeinbildenden Schulen gut 38 700 Schülerinnen und Schüler, was ebenfalls einem Anteil von 3 % entsprach. In den folgenden Jahrzehnten erhöhte sich dieser Anteil weiter über knapp 6 % im Schuljahr 1990/91 auf gut 8 % im Schuljahr 2010/11.

An den einzelnen Schularten fiel die Zunahme unterschiedlich auS. Die Anteile der Privatschüler an den Grundschulen und an den Hauptschulen blieben von 1952 an bis zu Beginn der 1980er-Jahre jeweils unterhalb der Einprozentmarke. Im Schuljahr 2010/11 machten die Schülerinnen und Schüler an den privaten Grundschulen gut 2 % der Grundschüler insgesamt aus, die Privatschüler an den Werkreal- und Hauptschulen insgesamt gut 3 %. Die Anteile der Privatschüler an den Realschulen waren in den Anfängen ebenfalls vergleichsweise niedrig. Von 1960/61 an bis Mitte der 1980er-Jahre bewegten sie sich zwischen 2 und 3 %. Seither war der Trend leicht ansteigend bis zu gut 5 % im Schuljahr 2010/11. An den Gymnasien lag der Anteil der Privatschüler im Mai 1960 bei knapp 12 %. In den 1960er- und 1970-er Jahren verringerte sich der Anteil dann auf rund 7 % im Schuljahr 1980/81. In den weiteren Jahren nahm der Anteil wieder zu bis auf 10 % im Schuljahr 2010/11. Damit und mit den zugrundeliegenden vergleichsweise hohen Schülerzahlen hatten die Gymnasien einen großen Einfluss auf die Entwicklung des privaten Sektors (Schaubild 3).

Die Freien Waldorfschulen zählten im Mai 1952 gut 4 200 Schülerinnen und Schüler, im Mai 1960 nahezu 4 000. Seit Anfang der 1960er-Jahre konnten die Freien Waldorfschulen ihre Schülerzahlen von Jahr zu Jahr – mit Ausnahme des Schuljahres 2007/08 – steigern bis auf etwas mehr als 23 300 im Schuljahr 2010/11.

Mädchen holten bei Gymnasien stark auf

Im Mai 1952 besuchten knapp 340 900 Mädchen in Baden-Württemberg die Volksschule, dies entsprach etwa 49 % der Volksschüler insgesamt. Auf eine Mittelschule gingen insgesamt nur sehr wenige Kinder (2 % aller Schülerinnen und Schüler). Die gut 11 700 Mädchen stellten dort mit einem Anteil von zwei Dritteln aber die deutliche Überzahl. Im Gegensatz dazu waren die rund 44 600 Mädchen, die an einer Höheren Schule unterrichtet wurden, deutlich in der Minderheit. Hier dominierten die Jungen mit einem Anteil von knapp 62 %.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Schulbesuchsverhalten der Mädchen sehr verändert. Sie gingen zunehmend auf Gymnasien und weniger auf Hauptschulen. An den Grundschulen des Landes lag die Mädchenquote seit 1960/61 in allen Jahren stabil bei rund 49 %. An den Hauptschulen nahm die Präsenz der Mädchen langfristig betrachtet ab. So machten die Mädchen in den 1960er-Jahren noch rund 50 % der Hauptschüler auS. Ihr Anteil sank aber in den 1970er-Jahren kontinuierlich bis auf gut 45 % im Schuljahr 1979/80 und blieb seither mit Werten zwischen 44 und 45 % auf diesem Niveau (Schaubild 4).

Bei den Realschulen lag der Mädchenanteil in den 1960er- und 1970er-Jahren zwischen 56 und gut 53 %. In den Folgejahren hat der Anteil der weiblichen Realschüler tendenziell abgenommen bis auf gut 49 % im Schuljahr 2010/11.

Im Schuljahr 1960/61 waren nur 38 % der Gymnasiasten weiblich – mit 62 % waren die Jungen noch deutlich in der Überzahl. Bis zu Beginn der 1980er-Jahre aber zogen sie bereits gleichauf, Ende der 1990er-Jahre gab es dann mit gut 53 % mehr Mädchen als Jungen an den Gymnasien. In den letzten Jahren ist der Mädchenanteil leicht zurück gegangen auf rund 52 % im Schuljahr 2010/11.

Die Sonderschulen: Von der Hilfsschule zum integrativen Bildungssystem

In den 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre spielten die Hilfsschulen und Sonderschulen zahlenmäßig keine große Rolle in der Schulstatistik. »Kinder mit schweren Behinderungen waren bis Mitte der 1960er-Jahre vom Schulbesuch ausgeschlossen. Es fehlte an gesetzlichen Grundlagen, Therapie- und Bildungsangeboten.«3 Erst seit 1965, mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Vereinheitlichung und Ordnung des Schulwesens, wurde in Baden-Württemberg die Schulpflicht für alle Kinder und Jugendliche eingeführt. Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre begann der flächendeckende Ausbau der Sonderschulen.

Heute existiert in Baden-Württemberg ein differenziertes Sonderschulwesen. Im Schuljahr 2010/11 wurden knapp 53 200 Kinder und Jugendliche an einem der neun Sonderschultypen gefördert. Dies sind fast fünf Mal so viele wie 1952 (Schaubild 5). Der Anteil der Sonderschüler an der Schülerschaft insgesamt liegt heute bei gut 4 %. Im März 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland in Kraft getreten, nach der ein integratives Bildungssystem zu gewährleisten ist.4

Vor allem seit der PISA-Studie gab es zahlreiche Reformen

Das Bildungssystem in Baden-Württemberg stand immer im Fokus von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Doch insbesondere die Durchführung von internationalen Schulleistungsstudien wie TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study, seit 1999 alle 4 Jahre), PISA (Programme for International Student Assessment, seit 2000 alle 3 Jahre) oder IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, 2001 und 2006) hatte bildungspolitische Diskussionen und Reformen zur Folge. »Selbstständige Schule«, Eigen- und Fremdevaluation oder auch Ganztagsschule seien hier nur als Stichpunkte genannt. Nach dem Regierungswechsel in Baden-Württemberg im Jahr 2011 stehen Neuerungen an wie zum Beispiel die Einführung der Gemeinschaftsschule, die teilweise Wieder-Einführung des »G9« an den Gymnasien und die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung. Nicht zuletzt wird der demografische Wandel zu bildungspolitischen Herausforderungen führen. Das baden-württembergische Schulsystem bleibt in Bewegung.