:: 4/2012

Kinderbetreuung gestern, heute und morgen

Heutzutage ist es unbestritten, dass verlässliche und flexible Kinderbetreuungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für eine gleichberechtigte Beteiligung von Männern und Frauen am Erwerbsleben und für die frühzeitige Förderung von Kindern spielen. Diese Erkenntnisse wurden aber erst nach und nach, das heißt über einen langen Zeitraum in einem Prozess gesellschaftlicher Veränderungen gewonnen. Seit den 1950er-Jahren hat sich nicht nur die Zahl der Kindertageseinrichtungen und der in diesen Einrichtungen zur Verfügung stehenden Plätze nahezu kontinuierlich erhöht, sondern auch die Aufgabestellung in den Einrichtungen grundlegend verändert.

Die 1950er- und 1960er-Jahre: Disziplin und große Gruppen

Bereits in den ersten Jahren des neugegründeten Landes Baden-Württemberg konnten viele Eltern mit Kindern auf Einrichtungen der Kinderbetreuung zurückgreifen. Am 31. März 1953 nahmen insgesamt 2 885 Kindergärten, 140 Kinderhorte und 66 Kinderkrippen Kinder auf (Schaubild 1). Mehr als drei Viertel der Kindergärten waren damals konfessionelle Einrichtungen. Es standen Plätze für rund 192 000 Kinder zur Verfügung. Damit konnten rein rechnerisch rund 60 % der 3- bis unter 6-Jährigen einen Kindergarten besuchen. Die Möglichkeiten, einen Betreuungsplatz für Kleinkinder in Kinderkrippen zu bekommen, waren damals allerdings minimal. Landesweit standen nur 2 600 Krippenplätze zur Verfügung.1

Allerdings waren seinerzeit die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Familien deutlich andere als heute. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde die Familie einhellig als zentrale Instanz der Kindererziehung und -betreuung angesehen. Kindergärten waren lediglich als Ergänzung zur Erziehung in der Familie gedacht. Eine Erwerbstätigkeit von Müttern mit kleinen Kindern war gesellschaftlich noch wenig akzeptiert und Ganztagsbetreuung galt als Notbehelf.2 So waren im Jahr 1962 unter den 1,275 Mill. weiblichen Erwerbstätigen3 nur knapp ein Viertel (297 000) Mütter mit Kindern unter 14 Jahren.4

Der Alltag in den Kindergärten gestaltete sich in den 1950er- und 1960er-Jahren völlig anders als heute. Beispielhaft hierfür ist ein Bericht aus dem Kindergarten St. Pius in Moosburg: »Vor 50 Jahren saßen alle Kinder am Tisch, entweder auf der Bank, oder wenn man Glück hatte, auf einem Stühlchen. Man konnte sich sein Spielzeug auch nicht selbst aussuchen, sondern bekam ein Schüsselchen mit Spielmaterial, entweder Bausteine, Steckbausteine oder Legematerial von der Kindergärtnerin zugeteilt. (…) Kein Kind durfte während der Freispielzeit herumlaufen. Es wurde darauf geachtet, dass die Kinder nur leise miteinander sprachen.«5

Der strenge Erziehungsstil war zum einen durchaus von vielen Eltern erwünscht, denn auch zu Hause war das Verhältnis Kind-Erwachsener ähnlich. Zum anderen war er auch durch die damalige Gruppengröße bedingt. Die Anzahl der Kinder, die eine Kindergärtnerin zu betreuen hatte, ist mit heutigen Verhältnissen nicht vergleichbar. So wurden zum Beispiel zum Jahresende 1950 in Ulm 1 917 Kinder von nur 33 Gruppenleiterinnen, 5 ausgebildeten und 21 nicht ausgebildeten Hilfskräften betreut, sodass auf eine Betreuungsperson mehr als 32 Kinder kamen.6 Noch im Jahr 1969 lag die durchschnittliche Gruppenstärke bei 35 Kindern.7

Die Zahl der Kindergärten stieg in den 1950er- und 1960er-Jahren kontinuierlich an. 1968 wurden in 4 080 Kindergärten rund 284 300 Plätze angeboten. Die Relation Kind im Kindergartenalter zu Kindergartenplatz änderte sich jedoch im Vergleich zum oben erwähnten Jahr 1953 kaum, weil sich die Zahl der 3- bis unter 6-Jährigen insgesamt in Baden-Württemberg in diesem Zeitraum ebenfalls deutlich erhöht hatte. Auch im Jahr 1968 stand nur für rund 60 % der Kinder dieser Altersgruppe ein Kindergartenplatz zur Verfügung (Schaubild 1 und 2).

Die 1970er- und 1980er-Jahre: Bildungsreform, antiautoritäre Erziehung und Integration

In den 1970er-Jahren änderten sich nicht nur die Einstellungen zur Erwerbstätigkeit von Frauen, sondern auch deren rechtliche Rahmenbedingungen. 1977 wurde mit dem ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts das bis dahin gesetzlich verankerte Leitbild der Hausfrauenehe mit klarer Aufgabenteilung zwischen den Ehepartnern durch ein am Partnerschaftsprinzip orientiertes Modell ersetzt. Die Erwerbstätigenquote der verheirateten Frauen mit Kindern stieg in Baden-Württemberg von 46 % im Jahr 1975 auf 53 % im Jahr 1990 an.8

In den 1970er-Jahren veränderten außerdem neue Vorstellungen über die Notwendigkeit der Förderung von Kindern, über die Bedeutung des sozialen Lernens und nicht zuletzt die Bewegung der antiautoritären Erziehung den Umgang mit Kindern auch in den Kindergärten nachhaltig. Der deutsche Bildungsrat (1970) wies den Kindergarten als Elementarstufe des Bildungswesens auS. Die großen Gruppen der Nachkriegszeit wurden reduziert, die ungelernten Kräfte allmählich durch ausgebildete ersetzt.9

Neue Herausforderungen kamen auch durch die Aufnahme der »Gastarbeiterkinder« auf die Kindergärten zu. Während in den 1960er-Jahren vor allem männliche Arbeitskräfte nach Baden-Württemberg kamen und die Familien häufig zunächst im Herkunftsland zurückgeblieben sind, änderte sich dies zu Beginn der 1970er-Jahre.10 In den Kindertageseinrichtungen musste zunehmend auch Integrationsarbeit geleistet werden.

Das statistische Interesse an den Kindertageseinrichtungen war allerdings nach wie vor gering. So finden sich auch für die 1970er-Jahre nur Angaben zu Anzahl und Plätzen in Kindergärten, Kinderkrippen und Kinderhorten. Erst im Jahr 1982 wurde eine eigene Statistik zu Einrichtungen und tätigen Personen der Jugendhilfe durchgeführt. Hier wurden im 4-jährigen Rhythmus neben der Zahl der Einrichtungen und der für eine normale Belegung vorgesehenen Plätze auch Daten zum Personal nach Geschlecht, Alter und Beschäftigungsumfang erhoben. Zu den betreuten Kindern wurden allerdings nach wie vor keine Daten ermittelt.

Die Zahl der Plätze in Kindergärten erreichte 1973 mit knapp 332 000 einen Höchststand. Damit stand rein rechnerisch 80 % der Kinder im Alter von 3 bis unter 6 Jahren ein Kindergartenplatz zur Verfügung. Bis 1978 nahm die Zahl der Plätze wieder etwas ab (313 000). Da aber auch die Zahl der Kinder im Kindergartenalter deutlich zurückging, kam nun erstmals auf einen Platz weniger als ein Kind. Die Möglichkeiten für die Betreuung von Kleinkindern in Kinderkrippen blieben jedoch mit rund 3 500 Plätzen landesweit sehr gering.

Zu Beginn der 1980er-Jahre änderte sich die Zahl der verfügbaren Plätze in den Kindergärten, Kinderhorten und Kinderkrippen nur geringfügig. 1986 gab es in den 5 411 Kindergärten des Landes knapp 310 000 Plätze. Es wurden in diesen Kindergärten 22 070 Personen beschäftigt. Davon waren 99 % Frauen, mehr als die Hälfte war zwischen 20 und 30 Jahren alt.

Die 1990er-Jahre: Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem 3. Lebensjahr und Ausbau der Kindertagespflege

Am 1. Januar 1991 löste das Achte Buch Sozialgesetzbuch – Kinder und Jugendhilfe – das bisherige Jugendwohlfahrtsgesetz ab. Ein inhaltlicher Schwerpunkt des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) war der qualitätsorientierte und bedarfsgerechte Ausbau der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege.

Zeitgleich kam es auch zu Änderungen in der amtlichen Statistik. Seit dem Jahr 1990 werden in der Statistik neben Krippen, Kindergärten und Horten nun auch Tageseinrichtungen mit altersgemischten Gruppen ausgewiesen (Schaubild 3). Die Zahl der Plätze in Kindergärten und Tageseinrichtungen mit Kindern verschiedener Altersgruppen stieg zwischen 1990 und 1998 um 30 % an. Diese Expansion ist auch auf den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für alle Kinder ab dem vollendeten 3. Lebensjahr11 zurückzuführen, der im Jahr 1996 in Kraft trat. Die öffentliche Kinderbetreuung im Kindergartenbereich wurde damit politisch akzeptiert.

In den 1990er-Jahren trat neben die Kindertageseinrichtungen als zusätzliche Betreuungsform die Kindertagespflege, bei der Tagesmütter ein oder mehrere Kinder betreuen. Kindertagespflege wird zum einen für Kinder unter 3 Jahren in Anspruch genommen, aber auch als ergänzende Betreuung von Kindergarten- und Schulkindern. Bereits seit 1995 förderte das Land Baden-Württemberg den Aufbau von örtlichen Tagesmüttervereinen und gewährt einen Zuschuss für die Alterssicherung von Tagespflegepersonen.

Nach der Jahrtausendwende: Ausbau der Kleinkindbetreuung

Seit dem Jahr 2006 hat sich die Statistik den gesellschaftlichen Belangen weiter angepasst und erfasst nun jährlich detaillierte Daten zu Kindern und Personal in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege. 2011 wurden in mehr als 8 200 Einrichtungen rund 389 700 Kinder betreut. Bei einem Drittel der Kinder (132 300) stammte mindestens ein Elternteil aus dem Ausland. In den Kindertageseinrichtungen waren 2011 rund 58 500 Personen als pädagogisches, Leitungs- oder Verwaltungspersonal beschäftigt. Davon waren weniger als die Hälfte (rund 24 600) vollzeitbeschäftigt.12 In der Kindertagespflege wurden 2011 insgesamt 17 747 Kinder von 6 716 Tagespflegepersonen betreut.

In den letzten Jahren wurde vor allem der Ausbau der Kleinkindbetreuung vorangetrieben. Zwischen 2002 und 2011 stieg die Zahl der Plätze in reinen Kinderkrippen (Einrichtungen mit Kindern im Alter von 0 bis unter 3 Jahren) von 1 697 auf 8 021 an. Auch in Einrichtungen mit älteren Kindern wurden zunehmend Kleinkinder aufgenommen. Dies geschah zunächst häufig in für 2-Jährige geöffneten Gruppen, zunehmend mehr aber auch in Gruppen, in denen ausschließlich oder vorwiegend Kleinkinder betreut wurden.

Am 1. März 2011 wurden in Baden-Württemberg rund 57 000 Kinder im Alter unter 3 Jahren in Kindertageseinrichtungen oder in der Kindertagespflege betreut.13 Im März 200614 waren es lediglich 25 400 Kleinkinder gewesen. Innerhalb von 5 Jahren hat sich damit die Zahl der betreuten Kinder unter 3 Jahren weit mehr als verdoppelt. Da gleichzeitig die Anzahl aller Kinder unter 3 Jahren in Baden-Württemberg von 290 500 auf 274 500 zurückging, stieg die Betreuungsquote der unter 3-Jährigen, also der Anteil der betreuten Kinder an der Gesamtzahl der Kinder unter 3 Jahren, von 8,8 % (2006) auf 20,8 % (2011) deutlich an.

Die Gesamtzahl der Betreuungsverhältnisse der unter 3-Jährigen lag 2011 bei rund 57 500, weil etwa 500 Kinder sowohl in einer Kindertageseinrichtung als auch durch eine Tagesmutter oder einen Tagesvater betreut wurden. Die meisten Kinder unter 3 Jahren (86 %) werden also in einer Kindertageseinrichtung betreut. Rund 49 400 Betreuungsverhältnisse bestanden in Kindertageseinrichtungen, dagegen nur knapp 8 100 in Kindertagespflege (Schaubild 4).

Ausblick: Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab vollendetem 1. Lebensjahr

Auch künftig muss die Kleinkindbetreuung weiter ausgebaut werden, denn ab dem Jahr 2013 räumt der Gesetzgeber15 für Kinder von 1 bis unter 3 Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertageseinrichtung oder bei Kindertageseltern ein. Bis dahin soll für 35 % der unter 3-Jährigen im Bundesgebiet ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot geschaffen werden. Dabei ist von einem unterschiedlichen regionalen Bedarf an Betreuungsangeboten in den einzelnen Bundesländern auszugehen. Für das Land Baden-Württemberg liegt die Zielmarke bei einer landesweiten Versorgungsquote der unter 3-Jährigen von 34 %. Um diese Zielvorgabe zu erreichen, müsste die Betreuungsquote von 21 % also noch um 13 Prozentpunkte gesteigert werden und der Umfang der Kleinkindbetreuung in den nächsten Jahren um rund 34 900 zusätzliche Betreuungsverhältnisse erhöht werden.

Um den notwendigen Ausbau zu beschleunigen, hat die Landesregierung die Förderung der Kleinkindbetreuung für die Jahre 2012 und 2013 deutlich erhöht. Außerdem hat sich die Landesregierung mit den kommunalen Spitzenverbänden darauf verständigt, die Betriebsausgaben der Einrichtungen zur Kleinkindbetreuung neu aufzuteilen und ab 2014 68 % davon zu übernehmen. Damit hat das Land ein klares Signal für den weiteren Ausbau der Kleinkindbetreuung gesetzt.

1 Heß, Gertrud: Die Fürsorgeerziehung und Jugendhilfe in Baden-Württemberg in den Rechnungsjahren 1953 und 1954, Statistische Monatshefte 1955, S. 84 ff.

2 Thiersch, Renate: Kinderbetreuung, in: Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik, 2001, S. 967 f.

3 Erwerbstätige außerhalb des Wirtschaftsbereichs Land- und Forstwirtschaft.

4 Kaeser, Hans: Betreuung der Kinder erwerbstätiger Mütter, in: Statistische Monatshefte 1963, S. 198.

5 St. Pius Moosburg: Aufgaben und Zielstellung des Kindergartens vor 50 Jahren

6 Ulmer Statistik: Jahresübersicht 1950, S. 70. Landesweite Daten zur Personalausstattung liegen für die damalige Zeit nicht vor.

7 Kindertagesstätten in Baden-Württemberg: Eine Denkschrift zum Ausbau der Vorschulischen Erziehung im Kindergarten, Innenministerium Baden-Württemberg (Hrg.), 1970, hier Anhangtabelle 2.

8 Ehrhardt, Christine: »Vor der Ehe kriegst Du Rosen – in der Ehe flickst Du Hosen?«, in: »Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 10/2006«

9 Thiersch, Renate: Kinderbetreuung, in: Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik, 2001, S. 968.

10 Familienwissenschaftliche Forschungsstelle im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg: Migration und Migrantenfamilien in Baden-Württemberg, Familienbericht 2004, Teil 2, S. 47.

11 § 24 AbS. 1 SGB VIII.

12 Wöchentliche Arbeitszeit 38,5 Stunden und mehr.

13 Kinder, die sowohl in Kindertagespflege als auch in Kindertageseinrichtungen betreut werden, sind dabei nicht doppelt gezählt.

14 Im Jahr 2006 wurden zum ersten Mal die Statistiken zur Kinderbetreuung in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege durchgeführt.

15 Gesetz zur Förderung von Kindern unter 3 Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz – KiföG vom 10. Dezember 2008).