:: 4/2012

Vom Fremdenverkehr zum Tourismus

Bei der Landesgründung im Jahr 1952 waren die Vorzeichen für den Fremdenverkehr alles andere als günstig. Ein durch Kriegszerstörung und Wohnraumbewirtschaftung noch deutlich eingeschränktes Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten traf auf eine Bevölkerung, bei der die unmittelbare Daseinsversorgung im Mittelpunkt stand. Im Zuge des »Wirtschaftswunders« schaffte sich das Bedürfnis nach Ablenkung und Erholung bei der »Sommerfrische« jedoch in 1950er-Jahren rasch Raum, was insbesondere den Kurorten des Landes zu einer ersten Blüte verhalf. In den 1960er- bis zu Beginn der 1980er-Jahre befand sich der Übernachtungstourismus zwar bei ähnlichem Grundmuster weiter auf einem Wachstumspfad. Insgesamt war die Entwicklung aber bereits gedämpfter und weniger stetig, da sie durch erste Rezessionen vorübergehend unterbrochen wurde und das heimische Beherbergungsgewerbe zunehmend im Wettbewerb auch mit ausländischen Reisezielen stand. Dieses Auf und Ab sollte dann in den letzten 3 Jahrzehnten zum vorherrschenden Muster werden, vor dessen Hintergrund sich ein schleichender Strukturwandel vollzog und noch vollzieht. Schlagwortartig lässt sich dieser Trend wie folgt zusammenfassen: kürzere Aufenthalte, zunehmende Bedeutung des Städte- und des Ausländertourismus.

Die schwierige Anfangsphase

Obwohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit sicherlich andere Themen im Vordergrund standen, war das Übernachten ortsfremder Gäste gegen Entgelt bereits damals kein unbekanntes Phänomen, zumal einige Gemeinden des Landes auf diesem Gebiet bereits auf eine längere Tradition zurückblicken konnten. Den Stellenwert dieses Themas belegt nicht zuletzt die relativ frühe (Wieder-)Aufnahme einer Fremdenverkehrsstatistik im Herbst 1949 (i-Punkt). Gleichwohl waren die Rahmenbedingen nach heutigen Maßstäben auch im Jahr der Landesgründung noch deutlich eingeschränkt.

Auf der Angebotsseite waren Teile der Vorkriegsbestände entweder durch Kriegszerstörung gar nicht mehr vorhanden oder sie standen am Markt nicht zur Verfügung, weil sie im Rahmen der Wohnraumbewirtschaftung anderweitig (zum Beispiel zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Behörden) verwendet wurden.1 So wurden im Frühjahr 1952 lediglich gut 78 000 verfügbare Betten registriert. Zum Vergleich: 1980, im letzten Jahr der Fremdenverkehrsstatistik auf annähernd vergleichbarer Grundlage, waren es mit 342 000 mehr als das Vierfache.

Auf der Nachfrageseite traf dieses eingeschränkte Angebot auf eine Bevölkerung, die weitgehend noch auf der Suche nach »Normalität« war und zudem meist nur über geringe finanzielle Mittel sowie eingeschränkte Freizeit und Transportmöglichkeiten verfügte. So kam im gesamten Jahr 19522 lediglich auf jeden zweiten Landesbürger ein Übernachtungsgast. Bei einem durchschnittlichen Aufenthalt von 3,7 Tagen ergab dies 12,4 Mill. Übernachtungen bzw. gut 1,8 Übernachtungen je Einwohner.

Rasanter Anstieg in den Wirtschaftswunderjahren

Nach der Landesgründung wurde in den 1950er-Jahren im Zuge der schrittweisen Lockerung der einschränkenden Bedingungen das Beherbergungsangebot sukzessive erweitert. So standen 1960 bereits doppelt soviel Gästebetten zur Verfügung wie 1952. Auch auf der Nachfrageseite schuf sich das Bedürfnis nach einem gelegentlichen Luft- bzw. Ortswechsel angesichts der schrittweisen Normalisierung der Lebensumstände rasch Raum. Die zuvor nur für privilegierte Schichten reservierte »Sommerfrische« (Ferienaufenthalt von Städtern in ländlicher Umgebung) wurde allmählich auch für »Otto Normalbürger« erschwinglich, auch wenn es dabei oft noch bescheiden zugehen musste. Da sich erst wenige ein eigenes Fahrzeug leisten konnten, ging es mit der Bahn oder dem Postbus ans Reiseziel, und als Unterkunft musste auch schon einmal ein Zimmer in einem Privatquartier herhalten, das in den Sommerferien von den Kindern des Gastgebers geräumt werden »durfte«.

Bis Mitte der 1960er-Jahre schlug sich diese Entwicklung in stetigen Zuwächsen der Gästezahlen nieder. Da die verbesserten finanziellen Möglichkeiten in Verbindung mit einer Verkürzung der Arbeitszeiten zunehmend auch längere Aufenthalte am Urlaubsort ermöglichten, stiegen die Übernachtungszahlen noch stärker. So wurde 1966 mit 31 Mill. Übernachtungen bereits das Zweieinhalbfache des Ausgangsniveaus aus dem Jahr 1952 gezählt.

Gedämpfte Zuwächse bis Ende der 1970er-Jahre

Die Rezession im Jahr 1967 markiert einen ersten Einschnitt in dieser stetigen Aufwärtsentwicklung.3 Inzwischen hatten sich auch die Rahmenbedingungen für den Fremdenverkehr im Land gewandelt. So waren die Einwohner bei gestiegenem Wohlstand mobiler geworden, denn inzwischen verfügte rechnerisch bereits jeder vierte Landesbürger über ein eigenes Kraftfahrzeug – 1952 war es lediglich jeder zwölfte gewesen. Dadurch wurden zunehmend weiter entfernte Reiseziele im In- und Ausland leichter erreichbar. Das heimische Beherbergungsgewerbe musste damit zunehmend auch gegen internationale Konkurrenz bestehen.

Dies war sicherlich mit ein Grund dafür, dass die Grundtendenz steigender Gäste- und Übernachtungszahlen in Baden-Württemberg zwar bis zum Übergang zu den 1980er-Jahren erhalten blieb. Allerdings waren die Zuwachsraten im Vergleich zu den Jahren zuvor meist geringer, und sie wurden im Umfeld wirtschaftlich schwächerer Entwicklungen (Ölkrise 1973 und nachfolgende Rezession) zeitweise unterbrochen. Zudem begann die durchschnittliche Aufenthaltsdauer, die bis in die Jahre 1974/75 auf 5,3 Tage angestiegen war, tendenziell abzunehmen. Dies kann auch als Indiz dafür gewertet werden, dass sich die »Haupturlaube« in der Folgezeit zunehmend aus dem Land heraus verlagerten und hierzulande verstärkt »Nebenurlaube« bzw. Kurzurlaube eine Rolle spielten und noch spielen.

Uneinheitliche Entwicklung seit Beginn der 1980er-Jahre

Die Jahre 1981 bis 1983 stellen in doppelter Hinsicht einen Einschnitt dar. Einerseits wurde die Beherbergungsstatistik ab 1981 nach einer grundlegend veränderten Methodik erhoben (i-Punkt), andererseits waren hier erstmals kräftigere Rückgänge bei der Gästezahl und den Übernachtungen sowie der Aufenthaltsdauer zu verzeichnen. Dies mag zwar auch mit der Rezession im Jahr 1982 zusammenhängen. Daneben scheinen sich aber gerade in diesen Jahren die bereits geschilderten grundlegenderen Veränderungen massiver ausgewirkt zu haben.

Im Zeitraum von 1984 bis 1992/1993 folgte zwar nochmals eine Phase der stabilen Aufwärtsentwicklung bei der Gästezahl und – wegen der tendenziell weiter sinkenden Aufenthaltsdauer in abgeschwächter Form – bei den Übernachtungen. Gleichwohl markiert in der längerfristigen Betrachtung der Übergang zu den 1980er-Jahren insofern einen Wendepunkt, als seither bei den Übernachtungen – der für die Branche wichtigsten Größe – keine durchgehende Entwicklungsrichtung mehr festzustellen ist. Bei der Gästezahl herrscht jedoch mit kürzeren Unterbrechungen eine klar steigende Tendenz vor. Diese wird aber durch den ebenfalls anhaltenden Trend zu immer kürzeren Aufenthalten mehr oder weniger kompensiert. Aus Sicht der Branche wird damit ein gewisses Dilemma erkennbar: sie muss einen immer größeren Kreis an Gästen (oder den gleichen Kreis häufiger) rekrutieren, um zumindest auf ein konstantes Übernachtungsvolumen zu kommen.

Auch wenn die Übernachtungen in den letzten 3 Jahrzehnten keiner durchgängig klaren Entwicklungsrichtung mehr folgen, lassen sich im Verlauf einige markante Zeitpunkte festmachen. So standen die Übernachtungsrückgänge in den Jahren 1994/1995, 2002/2003 und 2009 jeweils im Zusammenhang mit konjunkturellen Rückgängen in den gleichen oder in unmittelbar benachbarten Jahren. Dagegen handelt es sich bei dem 1996 einsetzenden und 1997 durchschlagenden Einbruch um eine Sonderentwicklung. Denn er beruht auf den damaligen Kürzungen im Kurbereich (insbesondere Verkürzung der Regelkurdauer von 4 auf 3 Wochen), die sich vor allem auf die mit erfasste Betriebsart der Kur- und Reha-Kliniken konzentrierte.

Bemerkenswert scheinen auch die relativ geringen Rückgänge im Jahr der doch massiven Finanzkrise 2009, die zudem bereits 2010 wieder nahezu kompensiert werden konnten. Für 2011 ist sogar damit zu rechnen, dass mit erstmals deutlich über 45 Mill. Übernachtungen ein neuer Rekordwert erreicht wird. Dazu trugen insbesondere die Gäste aus dem Ausland bei, deren Übernachtungen sich insbesondere seit Mitte der 1990er-Jahre mit einem Anstieg von 5 auf 8 Mill. 2011 besonders dynamisch entwickelt haben.

Starke Differenzierungen bei der Aufenthaltsdauer

Wie bereits anhand der drei Merkmale Gästezahl, Übernachtungen und Aufenthaltsdauer auf Landesebene erkennbar wurde, kann der Fremdenverkehr in den 60 Jahren seit der Gründung Baden-Württembergs auf eine durchaus wechselvolle Geschichte zurückblicken. Das gilt im übrigen bereits terminologisch, denn heutzutage »verkehren« hier (oder verursachen »Verkehr«) üblicherweise keine »Fremden« mehr, sondern das Land wird von Touristen bzw. Gästen besucht.

Deutlich wurde ein starker Wandel der Erscheinungsformen des Tourismus und vor allem ihre Zusammensetzung. Auch wenn bei der Vergleichbarkeit der Werte methodische Abstriche zu machen sind, lässt sich dies beispielhaft an einer Aufgliederung der Aufenthaltsdauer nach Gemeindekategorien im Zeitverlauf erkennen.4 Danach unterscheidet sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer einerseits zwischen den prädikatisierten und den nicht prädikatisierten Gemeinden, und andererseits konzentrieren sich die Veränderungen im Zeitverlauf auf die Kur- und Erholungsorte. In den Großstädten und den sonstigen Gemeinden ohne Prädikat lag und liegt die Aufenthaltsdauer durchgehend und ohne wesentliche Änderung im Bereich von knapp unter bzw. knapp über 2 Tagen. Bei dem hier vorherrschende Reisetypus – früher als Durchreiseverkehr oder auch Passantenverkehr bezeichnet,5 heute als Städtetourismus umschrieben – hat sich der Grundcharakter demnach kaum verändert.

Den Gegenpol bilden die Heilbäder, in denen Kur- und Erholungsreisen vorherrschen. Hier schlug sich einerseits die bis in die 1970er-Jahre vorherrschende Tendenz zu einer zeitlichen Ausdehnung der Urlaubslänge nieder. Andererseits war dieser Gemeindetypus in der Folgezeit besonders vom Trend zu kürzeren Aufenthalten betroffen. In jeweils abgeschwächter Form zeigt sich eine entsprechende Bewegung auch in den niedriger prädikatisierten Luftkur- und Erholungsorten.

Wechselvolle Entwicklung der Gemeindekategorien

Die bei der Aufenthaltsdauer erkennbaren Zusammenhänge spiegeln sich in modifizierter Form auch in der Entwicklung und Verteilung der Übernachtungen auf die Gemeindekategorien wider. So konzentrierte sich die Expansion der frühen Jahre schwerpunktmäßig auf die Gemeinden mit einem touristischen Prädikat. 1980 entfielen drei Viertel der Übernachtungen im Land auf diese Gemeinden, davon allein fast 40 % auf die Heilbäder. Danach partizipierten die prädikatisierten Gemeinden zwar noch am erneuten Aufschwung bis Beginn der 1990er-Jahre, wenn auch unterproportional. Seither haben die Heilbäder und die Luftkurorte aber sogar absolut Übernachtungen eingebüßt. 2010 lagen die Übernachtungen in beiden Kategorien um über ein Viertel unter dem Niveau von 1990. Mit einem Übernachtungszuwachs um 14 % konnten sich in diesem Zeitraum allein die niedriger prädikatisierten Erholungsorte gut behaupten. Zu Wachstumsträgern wurden seither dagegen die Gemeinden ohne Prädikat, allen voran die Großstädte. Ihr Übernachtungsvolumen erhöhte sich nämlich binnen der letzten 2 Jahrzehnte um über zwei Drittel. 2010 behaupteten die prädikatisierten Gemeinden mit 52 % nur noch eine geringe Mehrheit an den Übernachtungen in Baden-Württemberg. Der Anteil der Heilbäder ist auf 27 % oder ein gutes Viertel abgeschmolzen.

1 Ander, Albert/Baumann, Rolf: Der Fremdenverkehr in Baden-Württemberg, Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, 1954/55, S. 76.

2 Bis 1980 beziehen sich die Angaben auf Fremdenverkehrsjahre von November des Vorjahres bis Oktober des laufenden JahreS. Aus Vereinfachungsgründen werden die Angaben im Text und in den Schaubildern dem laufenden Jahr zugeordnet.

3 Schaubild 1 zeigt zwar auch für das Fremdenverkehrsjahr 1967 Zuwächse; diese beruhen aber ausschließlich auf der zeitgleichen Ausweitung der Berichtsgemeinden. Bei einem paarigen Vergleich auf Grundlage des neuen Berichtskreises wurde im Sommerhalbjahr 1967 ein Übernachtungsrückgang um 1,1 % ermittelt. Vergleiche: Woll, Hermann: Der Fremdenverkehr im Sommerhalbjahr 1967, in: Statistische Monatshefte Baden-Württemberg, Heft 2, 1968, S. 50.

4 Mit Ausnahme der Großstädte, die durchgehend die derzeitigen neun Städte ab 100 000 Einwohnern umfassen, erfolgt die Gemeindezuordnung für die Zeit bis 1980 nach der jeweiligen Einstufung, ab 1990 dagegen nach der Zugehörigkeit im Jahr 2010.

5 Ander, Albert/Baumann, Rolf: Der Fremdenverkehr in Baden-Württemberg, Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, 1954/55, S. 80 ff.