:: 5/2012

Der Einfluss des Geburtenniveaus, der Lebenserwartung und der Zuwanderung auf die Bevölkerungsentwicklung in Baden-Württemberg seit 1970

Eine Abschätzung auf der Basis von Simulations- und Szenario-Berechnungen

Die Einwohnerzahl Baden-Württembergs ist seit 1970 um rund ein Fünftel auf heute 10,75 Mill. angestiegen. Gleichzeitig hat sich die Altersstruktur der Bevölkerung enorm verändert – immer mehr älteren Menschen stehen immer weniger junge gegenüber. Ursächlich hierfür waren in erster Linie die seit über 3 Jahrzehnten zu geringe durchschnittliche Kinderzahl je Frau und eine stetig gestiegene Lebenserwartung. Im folgenden Beitrag soll deshalb der Frage nachgegangen werden, wie die Bevölkerungsentwicklung verlaufen wäre, wenn die relativ hohe Geburtenhäufigkeit des Jahres 1970 beibehalten worden wäre und seither die Lebenserwartung nicht um annähernd 10 Jahre angestiegen wäre. Außerdem soll der Einfluss der zeitweise sehr hohen Zuwanderung auf die Bevölkerungszahl und -struktur abgeschätzt werden.

1970 waren von den rund 8,9 Mill. Baden-Württembergern immerhin fast 2,2 Mill. und damit knapp ein Viertel jünger als 15 Jahre alt. Dagegen waren nur annähernd 1,1 Mill. Einwohner und damit gerade einmal halb so viele 65 Jahre oder älter. Und auch noch 1980 lag der Anteil der Jungen um fast ein Drittel höher als der der Älteren. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte hat sich dieses Verhältnis allerdings immer stärker zugunsten der Älteren verschoben. Aktuell liegt die Zahl der Jüngeren um über ein Viertel unter der der 65-Jährigen und Älteren.

Was wäre, wenn ….?

Was sind die Gründe für die stetige Alterung der Bevölkerung? Diese wird durch die Altersstruktur zu einem bestimmten Zeitpunkt sowie durch die seitherige natürliche Bevölkerungsbewegung (Geburten, Sterbefälle) und die Zu- bzw. Abwanderung determiniert. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Bevölkerungsentwicklung in Baden-Württemberg verlaufen wäre, wenn

das Geburtenniveau auf dem relativ hohen Niveau von 2,1 Kindern je Frau im Jahr 1970 verharrt wäre (Szenario 1),

die Lebenserwartung in den letzten 4 Jahrzehnten konstant geblieben wäre (Szenario 2) und

es keine Wanderungsgewinne gegeben hätte (Szenario 3).

Um den Einfluss dieser einzelnen Komponenten auf die Bevölkerungsentwicklung berechnen zu können, musste zunächst die vergangene Entwicklung möglichst exakt abgebildet werden. Diese Simulation wurde anhand von über 24 000 Einzelwerten aus der sogenannten Bevölkerungsfortschreibung sowie aus den amtlichen Statistiken zu den Lebendgeborenen, Gestorbenen und den Wanderungsbewegungen durchgeführt (siehe i-Punkt).

Szenario 1: Geburtenhäufigkeit auf dem Niveau von 1970

1970 lag die Geburtenrate bei 2,1 Kindern je Frau. Danach ist die durchschnittliche Kinderzahl je Frau aber innerhalb weniger Jahre deutlich zurückgegangen. Bereits 1978 brachte jede Baden-Württembergerin im Schnitt nur noch 1,4 Kinder zur Welt. Seither schwankt die Geburtenrate um dieses Niveau.

Wird nun in einem Szenario 1 unterstellt, dass die Geburtenrate das relativ hohe Niveau von 1970 beibehalten hätte und nicht – wie in der Realität – drastisch abgesunken wäre, so wären die Geborenenzahlen in Baden-Württemberg erheblich höher ausgefallen. Unter ansonsten unveränderten Bedingungen wären im Jahr 2010 nicht nur knapp 91 000 Kinder auf die Welt gekommen, sondern 192 000 und damit mehr als doppelt so viele!

Schaubild 2 zeigt, dass – erwartungsgemäß – die Zahl der Geborenen nach dem Szenario 1 in jedem Jahr deutlich über der tatsächlichen Kinderzahl gelegen hätte. Von 1970 bis etwa Mitte der 1990er-Jahre wäre sie bei einer Geburtenrate von 2,1 Kindern je Frau »nur« um etwa 40 % höher gelegen. Danach wird die Diskrepanz aber deutlich größer – einfach deshalb, weil die zusätzlich geborenen Kinder in das gebärfähige Alter gekommen wären und annahmegemäß selbst wieder im Schnitt 2,1 Kinder bekommen hätten.

Im gesamten Betrachtungszeitraum wären nach dem Szenario 1 annähernd 2,3 Mill. Kinder mehr als in der Realität geboren worden. Die Bevölkerungszahl läge dann derzeit nicht bei knapp 10,8 Mill. sondern bei etwa 13,3 Mill.. Und die Bevölkerung wäre erheblich jünger – im Durchschnitt weniger als 38 Jahre und nicht knapp 43 Jahre alt! Der Anteil der Kinder und Jugendlichen im Alter von unter 15 Jahren würde heute immerhin knapp 21 % und nicht nur etwas mehr als 14 % betragen.

Szenario 2: Konstante Lebenserwartung seit 1970/72

Ein neugeborener Junge kann heute in Baden-Württemberg auf eine durchschnittliche Lebenserwartung von 78,9 Jahren hoffen, ein neugeborenes Mädchen sogar auf 83,5 Jahre. Damit liegt die Lebenserwartung Neugeborener um 9 bzw. 10 Jahre höher als zu Beginn der 1970er-Jahre. Seinerzeit betrug die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt 68,5 Jahre für Jungen und 74,5 Jahre für Mädchen.

Wird nun im Szenario 2 unterstellt, dass die Lebenserwartung seit 1970/721 unverändert geblieben wäre, hätte dies erwartungsgemäß enorme Auswirkungen auf die Zahl der Sterbefälle gehabt. Statt knapp 99 000 Baden-Württemberger wären im Jahr 2010 immerhin rund 135 000 Einwohner gestorben. Im gesamten Betrachtungszeitraum, also innerhalb von knapp 4 Jahrzehnten, hätte die Zahl der Gestorbenen um annähernd 900 000 höher gelegen. Entsprechend geringer wäre heute die Einwohnerzahl des Landes (9,8 Mill.).

So erfreulich die gestiegene Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten war – sie hat naturgemäß, ähnlich wie eine höhere Geburtenrate, dazu geführt, dass die Bevölkerung »gealtert« ist. Wäre die Lebenserwartung seit Anfang der 1970er-Jahre nicht gestiegen, läge das Durchschnittsalter um immerhin gut 2 Jahre niedriger (40,5 statt 42,8). Vor allem der Anteil der 65-Jährigen und Älteren wäre deutlich geringer. Nur knapp 15 % der Baden-Württemberger würden heute dieser Altersgruppe angehören; tatsächlich sind es aber gut 19 %.

Szenario 3: Keine Berücksichtigung der Zu- und Fortzüge

Baden-Württemberg hat in den vergangenen Jahrzehnten erheblich von Zuwanderungen profitiert. Seit Ende 1970 sind rund 10,8 Mill. Menschen aus anderen Bundesländern oder aus dem Ausland in den Südwesten gezogen. Im gleichen Zeitraum haben 9,3 Mill. Personen das Land verlassen, sodass in den letzten 4 Jahrzehnten per Saldo 1,5 Mill. Menschen zugezogen sind. Dieser Zuzug hat nicht nur einen enormen Anstieg der Einwohnerzahl bewirkt, sondern auch, dass die Alterung der Bevölkerung abgeschwächt wurde. Denn die Zugezogenen waren und sind im Schnitt deutlich jünger als die einheimische Bevölkerung. So lag beispielsweise das Durchschnittsalter der zugezogenen Personen im Jahr 2010 bei knapp 32 Jahren und damit annähernd 11 Jahre niedriger verglichen mit der bereits in Baden-Württemberg lebenden Bevölkerung.

Wie hätte sich nun die Bevölkerungszahl und -struktur Baden-Württembergs »aus dem Bestand heraus«, also ohne Berücksichtigung der Zu- und Fortzüge über die Landesgrenze, entwickelt? Schaubild 3 zeigt, dass sich die Einwohnerzahl nach diesem Szenario 3 bis etwa Mitte der 1990er-Jahre kaum verändert hätte und lediglich aufgrund von leichten Geburtenüberschüssen geringfügig auf etwas mehr als 9 Mill. angestiegen wäre. Danach wäre die Einwohnerzahl bis heute auf 8,75 Mill. zurückgegangen. Ursächlich für diesen Rückgang ist, dass die Zahl der Gestorbenen die der Lebendgeborenen bereits ab Mitte bzw. Ende der 1990er-Jahre aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung übertroffen hätte.

In der Realität weist Baden-Württemberg aber erst seit dem Jahr 2006 ein Geburtendefizit auf. Das heißt, dass der Zuzug aus dem übrigen Bundesgebiet und aus dem Ausland nicht nur zu einem Anstieg der Bevölkerungszahl geführt hat. Vielmehr hat die Zuwanderung auch das Zahlenverhältnis zwischen Geborenen und Gestorbenen deutlich verbessert. Allein im Jahr 2010 wären im Südwesten ohne Zuwanderung statt knapp 91 000 nur etwa 63 000 Kinder auf die Welt gekommen! Im gesamten Betrachtungszeitraum wäre die Zahl der Lebendgeborenen nicht bei 4,1 Mill., sondern nur bei etwa 3,5 Mill. gelegen.

Die deutlich kleinere Einwohnerzahl nach dem Szenario 3 würde dagegen nur mit einem eher geringen Rückgang bei der Gestorbenenzahl einhergehen. Im Jahr 2010 wäre die Zahl der Gestorbenen »nur« um rund 3 000 und im gesamten Betrachtungszeitraum lediglich um etwa 97 000 niedriger als in der Realität gewesen. Der Grund hierfür ist, dass über 80 % der Wanderungsgewinne in den letzten 4 Jahrzehnten auf die Altersgruppe der unter 30-Jährigen und damit auf eine Altersgruppe mit einer geringen Sterblichkeit entfiel. Dies gilt auch dann, wenn berücksichtigen wird, dass diese »wanderungsaktive« Bevölkerungsgruppe innerhalb des relativ langen Betrachtungszeitraums entsprechend älter geworden ist.

Welche Konsequenzen hätte das Szenario 3 für den Alterungsprozess gehabt? Ohne Zuwanderung läge das Durchschnittsalter der Bevölkerung heute nicht bei knapp 43 sondern sogar bei über 45 Jahren. Vor allem der Anteil der 65-Jährigen und Älteren wäre deutlich höher (23,9 % statt 19,4 %). Die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte hat sich damit nachweislich in erheblichem Umfang »dämpfend« auf die Alterung der Bevölkerung ausgewirkt.

Fazit: Gravierende Auswirkungen insbesondere des Geburtenniveaus …

Schaubild 5 und 6 zeigen, dass die Bevölkerung Baden-Württembergs in demografischer Hinsicht ein ganz anderes »Gesicht« hätte, wenn die Geburtenhäufigkeit oder die Lebenserwartung seit 1970 unverändert geblieben wären oder das Land nicht von Zuwanderungen profitiert hätte.

Besonders gravierend waren und sind die Auswirkungen einer seit Jahrzehnten zu geringen Geburtenhäufigkeit.2 Sie ist – wie gezeigt – die Hauptursache für die enorme Alterung der Gesellschaft. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung läge heute immerhin um 5 Jahre niedriger, wenn in den letzten Jahrzehnten eine Geburtenrate von 2,1 Kindern je Frau erreicht worden wäre. Und dieser Wert ist nicht völlig unrealistisch, wie beispielsweise unser Nachbarland Frankreich zeigt. Dort wird dieses Niveau mit exakt 2,0 Kindern je Frau auch heute noch annähernd erreicht!3

Erfreulich ist dagegen der Anstieg der Lebenserwartung, auch wenn dieser naturgemäß ebenfalls eine Alterung der Bevölkerung bewirkt hat. Ebenfalls positiv zu bewerten ist in demografischer Hinsicht die Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte, die eine dämpfende Wirkung auf den Alterungsprozess ausgeübt hat.

… aber keine Allgemeingültigkeit der aufgezeigten Wirkungen

Die für Baden-Württemberg für den Zeitraum 1970 bis 2010 festgestellten Auswirkungen der im jeweiligen Szenario getroffenen Annahmen auf die demografische Entwicklung sind nicht allgemeingültig. Diese sind bezüglich ihrer Intensität vielmehr von der Ausgangsstruktur der Bevölkerung einerseits und der Länge des Betrachtungszeitraums andererseits abhängig.

Die Situation in Baden-Württemberg war im Jahr 1970 so, dass die Bevölkerung noch relativ jung und insbesondere die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter hoch war. Würde dagegen die Geburtenrate von heute an auf 2,1 Kinder je Frau ansteigen, wären die positiven Effekte in den nächsten Jahrzehnten deutlich schwächer – und zwar einfach deshalb, weil der derzeitige Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter erheblich geringer ist als noch 1970.

Die Länge des Betrachtungszeitraums hat deshalb unterschiedliche Auswirkungen auf die Altersstruktur, weil beispielsweise ein Anstieg der Geburtenrate nur kurz- und mittelfristig eine eindeutige Verjüngung der Bevölkerung bewirkt. Zwei Generationen später bedeutet dies dann aber, dass zwar bei einer konstanten Geburtenrate weiterhin viele Kinder geboren werden, dass aber auch relativ viele Einwohner in ein hohes Alter »hineingewachsen« sein werden, die dann den Altersdurchschnitt erhöht hätten.

Bezüglich der Sterblichkeit ergeben sich ebenfalls unterschiedliche Effekte in Abhängigkeit vom Betrachtungszeitraum. Zunächst erhöht sich bei einer sinkenden Sterblichkeit in den jüngeren Altersgruppen – wie bei einem Anstieg der Geburtenhäufigkeit – der Anteil der Jüngeren. Eine Generation beziehungsweise rund 30 Jahre später – diese Generation ist nach wie vor jünger als der Durchschnitt der Bevölkerung – verstärkt sich dieser Effekt durch die Geburt von weiteren Kindern. Diese Wirkung gilt auch für die nächste Generation. Gleichzeitig erhöht aber die in das höhere Alter »hineingewachsene« erste Generation den Alterdurchschnitt.

Angesichts der aktuellen Altersstruktur der baden-württembergischen Bevölkerung ist eine weitere Alterung der Gesellschaft »vorprogrammiert«. Denn die Bevölkerungszahl würde auch dann, wenn die Geburtenrate kurzfristig das bestandserhaltende Niveau von 2,1 Kindern je Frau erreichen würde, ohne Zuwanderung noch etwa 25 bis 30 Jahre lang zurückgehen – einfach deshalb, weil die nichtgeborenen Kinder ebenfalls keine Kinder bekommen können. Dennoch gilt auch im Hinblick auf die seit Jahrzehnten zu geringe Geburtenrate, was ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor 20 Jahren. Die zweitbeste ist jetzt.«

1 Ergebnisse der Sterbetafel 1970/72.

2 Gemessen an einer Geburtenrate von 2,1 Kindern je Frau, die für eine Bestandserhaltung ohne Zuwanderung erforderlich wäre.

3 Innerhalb der EU erzielte Irland mit 2,07 Kindern je Frau im Jahr 2010 die höchste Geburtenrate.