:: 11/2012

Indikatoren zum materiellen Wohlstand: mehr als das BIP je Einwohner

Der folgende Beitrag1 zeigt ausgewählte Indikatoren, die über das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner hinaus Auskunft über den durchschnittlichen wirtschaftlichen Wohlstand der privaten Haushalte in den Bundesländern geben. Einkommensaggregate aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sind Grundlage dieser Indikatoren. Der Saldo der Zu- und Abflüsse von Einkommen über die Landesgrenzen, wesentlicher Unterschied zwischen BIP und Einkommensgrößen, führt zu spürbaren Veränderungen im Länderranking. Der Preis für die größere Genauigkeit der Einkommensindikatoren gegenüber dem BIP je Einwohner ist die geringere Aktualität ihrer Daten.

»Wirtschaftlicher Wohlstand« oder ein »ausreichendes Einkommen« als Bestandteil der Lebensqualität gehören zu den Zielen der Nachhaltigkeitsstrategien der Europäischen Union und Deutschlands. Zur Darstellung, inwieweit diese Ziele erreicht sind, dient an erster Stelle der Indikator »BIP je Einwohner«.

Daneben stehen die Forderungen unter anderem der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, bei der Wahl von Indikatoren zur Messung des materiellen Wohlstands auf Netto- anstatt auf Bruttogrößen sowie auf Einkommen und Konsum abzustellen und weniger auf die Produktion.

Unterschiedliche Aussagen mit Brutto- und Nettoinlandsprodukt

Die Abschreibungen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen messen die Wertminderung des Anlagevermögens durch normalen Verschleiß in der Produktion oder wirtschaftliches Veralten. Die Gegenüberstellung von Brutto- und Nettoinlandsprodukt zeigt, inwiefern die Abschreibungen Aussagen über die Höhe und die Entwicklung der Wirtschaftsleistung beeinflussen können. Alle später vorgestellten Einkommensbegriffe basieren auf dem Nettokonzept, enthalten also nicht die Abschreibungen.

Im Bundesländervergleich für ein Jahr bewirken die Abschreibungen im Indikator »BIP je Einwohner« im Vergleich zum Indikator »Nettoinlandsprodukt (NIP) je Einwohner« im wesentlichen einen Niveaueffekt. Die Positionen der Bundesländer im Ranking nach den beiden Indikatoren weichen in den Jahren 2001 – 2009 nur in Einzelfällen um maximal zwei Rangplätze voneinander ab. Schaubild 1 zeigt als Beispiel den Bundesländervergleich für das Jahr 2009. Lediglich zwischen Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen-Anhalt gibt es hier Unterschiede im Ranking nach dem »NIP je Einwohner« gegenüber dem »BIP je Einwohner«.

Anders sieht es in der zeitlichen Entwicklung im Untersuchungszeitraum von 1991 bis 2009 aus. Ein über längere Zeit steigender bzw. sinkender Anteil der Abschreibungen am Bruttoinlandsprodukt lässt dessen nominale Veränderung systematisch größer oder kleiner erscheinen als die Veränderung des Nettoinlandsprodukts. Die Veränderung des Indikators »BIP je Einwohner« über- bzw. unterschätzt in diesem Fall das Wachstum. So ist für die neuen Bundesländer ab Mitte der 1990er-Jahre bis 2001 ein deutlicher Anstieg des Anteils der Abschreibungen zu verzeichnen. Dies ist eine Wirkung der stark erhöhten Investitionen nach der Wende. Wo viel neues Kapital ist, wird entsprechend mehr abgeschrieben. Demnach betrug das nominale, jährliche Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern (ohne Berlin) zwischen 1994 und 2001 laut Veränderung des Bruttoinlandsprodukts 3,2 %, laut Veränderung des Nettoinlandsprodukts aber nur 2,3 %.2

Das Nettonationaleinkommen als umfassendster Einkommensbegriff …

Das Nettonationaleinkommen (NNE) – auch als Primäreinkommen der Volkswirtschaft bezeichnet – ist das umfassendste der hier vorgestellten Einkommenskonzepte. Es bezeichnet die Summe der Einkommen aller Inländer in einer Periode. Seine Bestandteile sind primäre Einkommensarten: Das sind die Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die privaten Haushalten, Kapitalgesellschaften oder auch dem Staat zufließen können, sowie die vom Staat empfangenen Produktions- und Importabgaben abzüglich der geleisteten Subventionen. Der Indikator »NNE je Einwohner« gibt an, wie viel Einkommen die Inländer erwirtschaften. Er zeigt also, wie groß der »Kuchen« ist, der den Inländern als Einkommen zur Verfügung steht, bzw. der für Umverteilungsmaßnahmen (Steuern, Transfers, Finanzausgleich) verfügbar sein könnte. Wie hoch das Einkommen nach den Umverteilungsmaßnahmen ist, würde die Größe »Verfügbares Einkommen der Volkswirtschaft« zeigen, die jedoch für die Bundesländer nicht berechnet wird.

… ist beeinflusst durch Einkommensströme über die Landesgrenze

Das Nettonationaleinkommen errechnet sich aus dem Nettoinlandsprodukt durch Hinzufügen des Saldo der Zu- und Abflüsse von Einkommen über die Grenze. Dazu gehören einmal die Erwerbseinkommen von Pendlern über die Landesgrenzen. In Deutschland haben Hamburg, Bremen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg mit mehr Einpendlern als Auspendlern einen positiven Pendlersaldo. Dem Saldo des Arbeitnehmerentgelts nach müsste in diesen Ländern das Nettoinlandsprodukt größer sein als das Nettonationaleinkommen. Schaubild 2 zeigt, dass dies für Bayern und Baden-Württemberg nicht zutrifft. Hier fließt per Saldo so viel Unternehmens- und Vermögenseinkommen zu, dass der Abfluss an Arbeitnehmerentgelt aus dem Einpendlerüberhang überkompensiert wird. Für die vier Länder am unteren Ende der Skala gilt das Umgekehrte. Trotz des per Saldo zufließenden Arbeitnehmerentgelts ist das Nettoinlandsprodukt größer als das Nettonationaleinkommen. Hier fließt per Saldo so viel Unternehmens- und Vermögenseinkommen ab, dass der Auspendlersaldo überkompensiert wird.

Die Verschiebungen, die sich durch die Einkommensströme über die Grenzen der Bundesländer ergeben, sind so groß, dass sich auch im Ranking der Bundesländer spürbare Verschiebungen ergeben. Der Indikator »NNE je Einwohner« liefert demnach signifikant andere Ergebnisse als der Indikator »NIP je Einwohner«.

Erwirtschaftetes Einkommen der privaten Haushalte …

Die Einkommensaggregate Primäreinkommen der privaten Haushalte und Verfügbares Einkommen der privaten Haushalte3 zielen im Unterschied zum Nettonationaleinkommen ausschließlich auf die Einkommen der privaten Haushalte bzw. Konsumenten ab. Das Primäreinkommen der privaten Haushalte bezeichnet den Teil des Primäreinkommens der Volkswirtschaft, der inländischen privaten Haushalten zugeflossen ist. Zu diesen Einkommen gehören im Einzelnen

  • das Arbeitnehmerentgelt,
  • die Einkommen der Einzelunternehmen und Selbstständigen (inklusive Vergütung für die mithelfenden Familienangehörigen),
  • der Betriebsüberschuss aus der Produktion von Dienstleistungen aus eigengenutztem Wohneigentum sowie
  • die netto empfangenen Vermögenseinkommen.

Der Indikator »Primäreinkommen der privaten Haushalte je Einwohner« misst daher das durchschnittliche Einkommen, das den privaten Haushalten aus ihrer wirtschaftlichen Aktivität und der »Aktivität« ihres Vermögens zufließt.

… versus Verfügbares Einkommen

Das Verfügbare Einkommen der privaten Haushalte enthält alle im Primäreinkommen genannten Einkommensarten zuzüglich empfangener laufender Transfers abzüglich geleisteter Transfers. Zu den empfangenen laufenden Transfers gehören alle Geldleistungen der gesetzlichen Sozialversicherungen, öffentliche Pensionen und die betriebliche Altersversorgung, Leistungen im Rahmen der Grundsicherung sowie eine Vielzahl weiterer staatlicher Geldleistungen. Geleistete Transfers beinhalten vor allem alle Formen der Einkommensteuer und Sozialbeiträge. Der Indikator »Verfügbares Einkommen der privaten Haushalte je Einwohner« zeigt, welches Einkommen den privaten Haushalten im Durchschnitt letztendlich zum Konsumieren oder Sparen zur Verfügung steht.

Allerdings sind in dem so definierten Verfügbaren Einkommen nach dem Ausgabenkonzept soziale Sachleistungen4 nicht enthalten, von denen private Haushalte profitieren, zum Beispiel Leistungen von den gesetzlichen Krankenkassen oder des staatlichen Bildungswesens. Da soziale Sachleistungen durchaus »wohlstandswirksam« sind, werden sie in der Einkommensgröße »Verfügbares Einkommen der Privaten Haushalte nach dem Verbrauchskonzept« zusätzlich berücksichtigt. Daten zum Verfügbaren Einkommen nach dem Verbrauchskonzept stehen jedoch nur für Deutschland insgesamt zur Verfügung.

Vier Einkommensaggregate im Vergleich

Schaubild 3 veranschaulicht die Größenverhältnisse und die Entwicklung der bisher betrachteten Einkommensaggregate Nettonationaleinkommen, Primäreinkommen der privaten Haushalte sowie Verfügbares Einkommen der privaten Haushalte nach dem Ausgabenkonzept und dem Verbrauchskonzept für Deutschland. Im Zeitablauf zeigen alle Einkommensaggregate grob den gleichen Entwicklungstrend, jedoch mit unterschiedlicher Schwankungsbreite. Der Vergleich von Nettonationaleinkommen und Primäreinkommen der privaten Haushalte zeigt außerdem eine Verschiebung der Größenverhältnisse. Von 1995 bis 2003 lagen die Primäreinkommen der privaten Haushalte bei knapp 90 %, 2007 bei knapp 83 %, und derzeit bei etwas 85 % des Primäreinkommens der Gesamtwirtschaft. Hauptursache hierfür ist die Entwicklung der Unternehmens- und Vermögenseinkommen der Kapitalgesellschaften. Diese stellen auch den volatilsten Teil des Primäreinkommens dar, was im Schaubild 3 nicht nur der Höhenflug 2007, sondern auch der »Crash« 2009 zeigt.

Einkommensumverteilung zwischen privaten Haushalten …

Das Verfügbare Einkommen der privaten Haushalte nach dem Ausgabenkonzept liegt im betrachteten Zeitraum um 12 bis 15 % unter dem Primäreinkommen der privaten Haushalte. Diese Differenz ergibt sich im Rahmen der Einkommensumverteilung. Grob gesagt ist die Summe der Steuern und Abgaben, die private Haushalte bezahlen, höher als die Summe der Transferzahlungen an private Haushalte. Allerdings sinkt der materielle Wohlstand der privaten Haushalte in der Gesamtheit nicht in dem Maße, wie es diese Differenz suggeriert. Dies zeigt das Verfügbare Einkommen der privaten Haushalte nach dem Verbrauchskonzept, das sich auf dem Niveau des Primäreinkommens bewegt. Leider liegen diese Daten nicht für die Bundesländer vor.

… hat auch regionale Verteilungswirkungen

Der Grad der regionalen Umverteilung zwischen den Bundesländern wird beim Vergleich des Primäreinkommens und des Verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte, im Schaubild 4 jeweils normiert am Bundesdurchschnitt, deutlich. Die drei Bundesländer am unteren Ende der Skala werden durch Transferzahlungen von 70 % des Bundesdurchschnitts beim Primäreinkommen auf 80 % des Bundesdurchschnitts beim Verfügbaren Einkommen angehoben. In Baden-Württemberg, Bayern und Hessen liegt das Verfügbare Einkommen der privaten Haushalte dagegen um einige Prozentpunkte weniger über dem Bundesdurchschnitt als das Primäreinkommen. Dennoch bleiben deutliche Unterschiede in der Höhe des durchschnittlichen Verfügbaren Einkommens. Die privaten Haushalte in Mecklenburg-Vorpommern verfügten 2009 über durchschnittlich 15 000 Euro je Einwohner, in Hamburg dagegen über 24 000 Euro.

Diese Unterschiede wirken sich auf den aktuellen materiellen Wohlstand aus, in Schaubild 5 gespiegelt durch die Höhe der durchschnittlichen Konsumausgaben. Sie wirken sich über das Sparen5 aber auch auf den künftigen materiellen Wohlstand aus. Die Sparquote reichte 2009 von 8,5 % in Bremen und 9,5 % in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 12,4 % in Baden-Württemberg.

Genauere Wohlstandsindikatoren, aber geringere Aktualität

An wenigen Beispielen wurde gezeigt, dass für die Bundesländer Einkommensindikatoren zur Verfügung stehen, die zum materiellen Wohlstand genauere Aussagen ermöglichen als das »BIP je Einwohner«. Die Daten für die vorgestellten Einkommensindikatoren stehen für die Bundesländer allerdings deutlich später als die Angaben zum BIP zur Verfügung. Erste vorläufige Werte für das BIP werden bereits 3 Monate nach Ende eines Berichtsjahres veröffentlicht, Daten zu den Einkommensindikatoren 17 Monate nach Ende des Berichtsjahres.6 Dies mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass Einkommensindikatoren in den aktuellen Indikatorensets selten auftauchen. Grundsätzlich geht es beim Thema Nachhaltigkeit allerdings um langfristige Entwicklungen. Insofern wäre es dennoch sinnvoll auf Indikatoren zurückzugreifen, die nicht ganz so zeitnah zur Verfügung stehen.

1 Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag »Ökonomische Nachhaltigkeitsindikatoren – Was »geht« mit der Amtlichen Statistik?« beim UGR-Kongress am 23. Mai 2012 in Düsseldorf.

2 Da das NIP nur zu jeweiligen Preisen berechnet und veröffentlicht wird, ist ein Vergleich der realen Veränderungsraten von BIP und NIP nicht möglich.

3 Der Begriff »private Haushalte« schließt im Folgenden die privaten Organisationen ohne Erwerbszweck mit ein.

4 Sachleistungen vor allem des Staates, die die privaten Haushalte individuell in Anspruch nehmen können.

5 Der nicht konsumierte Teil des Verfügbaren Einkommens zuzüglich der Zunahme betrieblicher Versorgungsansprüche stellt laut Definition der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen das Sparen der privaten Haushalte dar.

6 Diese Angaben beziehen sich auf den Normalfall. 2012 gelten wegen der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen andere Termine.