:: 12/2012

Agrarpolitik für 12 Mill. landwirtschaftliche Betriebe in der Europäischen Union?

Gegenwärtig läuft die Diskussion um die künftige Gestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik auf Hochtouren. Es liegen die Vorschläge der EU-Kommission auf dem Tisch, die innerhalb Deutschlands, aber auch zwischen den Mitgliedsstaaten kontrovers diskutiert werden. Im Vorfeld der Neuausrichtung der Agrarpolitik gab es eine Bestandsaufnahme der landwirtschaftlichen Strukturen in einem umfassenden europäischen Agrarzensus. Die ersten vorläufigen Ergebnisse liegen vor und zeigen, dass es Grund für unterschiedliche Bewertungen gibt: Allein bei der Zahl landwirtschaftlicher Betriebe zeigen sich sehr heterogene Verhältnisse in der EU. In Deutschland war dieser Agrarzensus die Landwirtschaftszählung 2010.

Mittlerweile liegen für fast alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erste vorläufige Zahlen des großen Agrarzensus vor. Lediglich für Irland und die Slowakei gibt es noch keine Angaben. Ohne diese beiden Staaten beziffert sich die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe in der EU auf 11,9 Mill. Legt man die letzten verfügbaren Zahlen der beiden fehlenden Staaten aus dem Jahr 2007 (Irland 128 000, Slowakei 69 000) zugrunde, dann dürfte sich die Gesamtzahl landwirtschaftlicher Betriebe in der EU um das Jahr 2010 auf rund 12,1 Mill. beziffern. Der Mitgliedsstaat mit den meisten landwirtschaftlichen Betrieben ist Rumänien mit knapp 3,9 Mill. Betrieben, der Mitgliedsstaat mit der kleinsten Zahl landwirtschaftlicher Betriebe ist Luxemburg mit 2 200 Betrieben. Auf Rumänien entfällt fast ein Drittel aller landwirtschaftlichen Betriebe, Luxemburg ist mit einem Anteil von 0,2 Promille nur eine Randgröße. In Deutschland wurden 299 134 Betriebe1 gezählt. Im europäischen Maßstab entspricht dies einem Anteil von 2,5 %. Baden-Württemberg hält mit 44 512 Betrieben einen Anteil von 0,4 %.

Einheitliche Rechtsgrundlage…

Obwohl die Erhebungen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU auf der Grundlage einer einheitlichen EU-Verordnung (VO Nr.  1166/2008 vom 19.  November 2008 über die Betriebsstrukturerhebungen und die Erhebung über landwirtschaftliche Produktionsmethoden) durchgeführt wurden, sind die Zahlen zu den landwirtschaftlichen Betrieben doch mit einer gewissen Zurückhaltung zu betrachten. Da die Verordnung nur einen Rahmen vorgibt, der von den Mitgliedsstaaten in unterschiedlichem Umfang gefüllt werden kann, ist die Vergleichbarkeit zwischen den Mitgliedsstaaten eingeschränkt. Die allgemeine Forderung besteht darin, die Betriebe zu erfassen, die

  • mehr als 1 Hektar (ha) landwirtschaftliche genutzte Fläche bewirtschaften oder
  • einen gewissen Anteil für den Verkauf produzieren oder
  • bestimmte physische Schwellenwerte überschreiten.

Die Mitgliedsstaaten können höhere Abschneidegrenzen festlegen, wenn dadurch nicht mehr als 2 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche oder des Viehbestandes nicht mehr erfasst werden. Als Mindestanforderung gilt jedoch, dass in jedem Fall alle landwirtschaftlichen Betriebe zu erfassen sind, wenn sie mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllen:

  • 5 ha landwirtschaftlich genutzte Fläche,
  • 1 ha Dauerkulturen in Summe,
  • 50 Ar Sonderkulturen im Einzelnen (Wein, Obst, Gemüse, Hopfen, etc.),
  • 10 Ar Unter Glas,
  • 10 Rinder,
  • 50 Schweine oder 10 Zuchtsauen,
  • 20 Schafe oder 20 Ziegen,
  • 1 000 Stück Geflügel.

Deutschland hat von dieser Regelung Gebrauch gemacht und für 2010 die Erfassungsgrenze soweit angehoben, dass nur Betriebe oberhalb der EU-weiten Mindestanforderung erhoben werden. Innerhalb der EU haben nur wenige andere Mitgliedsstaaten ähnlich hohe Erfassungsgrenzen, zum Beispiel das Vereinigte Königreich, Dänemark oder Schweden. Die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten hat tiefere, aber deshalb auch nicht unbedingt einheitliche Erfassungsgrenzen2.

…und nationale Spielräume

Die Wahl der Erfassungsgrenze hat im Hinblick auf die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe eine erhebliche Bedeutung. Je tiefer die Erfassungsgrenze liegt, desto mehr Betriebe werden nachgewiesen. Während in Deutschland auf 5 ha landwirtschaftlich genutzter Fläche (ohne Sonderkulturen) maximal ein Betrieb vorhanden sein kann, können in anderen Staaten auf dieser Fläche bis zu fünf Betriebe gezählt werden.

Besonders augenfällig können die Unterschiede beim Vergleich von Staaten mit ähnlicher Vergangenheit und ähnlichen natürlichen Bedingungen werden. Dies trifft beispielsweise für die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zu. Vor wenigen Jahrzehnten noch Bestandteil der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) sind diese Staaten mittlerweile unabhängige demokratische Staaten und seit 2004 Mitglieder der Europäischen Union. Nach den Ergebnissen des Agrarzensus gibt es in Estland im Jahr 2010 knapp 20 000 landwirtschaftliche Betriebe, während es in Lettland rund 83 000 und in Litauen beinahe 200 000 sind. Selbst wenn man die unterschiedliche Größe der Länder ins Kalkül zieht – Litauen ist etwa anderthalbmal so groß wie Estland – weichen die Betriebszahlen deutlich voneinander ab.

Vom Baltikum …

In allen drei baltischen Staaten wurden Betriebe ab einer landwirtschaftlich genutzten Fläche von 1 ha erfasst. Alle drei bleiben damit deutlich unterhalb der von der EU gesetzten Erfassungsgrenze von 5 ha. Die drei baltischen Staaten unterscheiden sich allerdings darin, welche Betriebe unterhalb dieser Flächengrenze zu erheben waren. In Estland3 waren es »…agricultural holdings where … agricultural products are mainly (over a half) produced for sale«, in Lettland4»…agricultural holdings in which … standard output (SO) … exceeded 70 Euro …« und in Litauen5 galt: »Even farms producing agricultural products only for their own needs were interviewed.« Damit war in Estland also die überwiegende Marktproduktion das entscheidende Kriterium, während in Lettland schon eine gewisse Bruttoproduktion für die Erfassung genügte. Nach deutschen Maßstäben würden schon wenige Doppelzentner Weizen ausreichen, um einen Standardoutput von 70 Euro zu erzielen. Die sehr extensiv definierte Erfassungsgrenze in Litauen galt in dieser Form jedoch nur für den nationalen Agrarzensus. Nach den Definitionen der EU zählen auch Haus- und Nutzgärten zur landwirtschaftlich genutzten Fläche, daher könnte bei dieser Abgrenzung auch ein großer, bunter Bauerngarten genügen, um in Litauen als landwirtschaftlicher Betrieb zu gelten. Für die Zwecke der EU wurde jedoch eine höhere Erfassungsgrenze angewandt. Das entscheidende Kriterium waren jährliche landwirtschaftliche Einnahmen (»annual agricultural income«) von 5 000 LTL, was etwa 1 450 Euro entspricht.

In den baltischen Staaten liegen bereits endgültige Ergebnisse und damit auch Strukturtabellen für den Agrarzensus vor. Es zeigt sich, dass die Unterschiede in den Betriebszahlen auf die untersten Größenklassen zurückzuführen sind. Welche Auswirkungen die Anwendung unterschiedlicher Erfassungsgrenzen zur Folge haben können, zeigt das Beispiel Litauen mehr als deutlich: Schon nach den Kriterien der EU ist Litauen der baltische Staat mit den meisten Betrieben (199 900), nach nationalen Kriterien sind es sogar über 364 000 Betriebe, also noch einmal rund 80 % mehr.

… bis Frankreich

Auch in unserem Nachbarland Frankreich erfahren kleine Betriebe eine größere Aufmerksamkeit als in Deutschland. Die generelle Erfassungsgrenze liegt wie im Baltikum und der Mehrzahl der Mitgliedstaaten bei 1 ha landwirtschaftlich genutzter Fläche. Mit großer Detailliertheit werden daneben die Kriterien6 für jene Betriebe aufgeführt, die unterhalb dieser Flächengrenze zu erfassen waren. Es sind zum einen Betriebe ab 20 Ar Sonderkulturen insgesamt – zum Vergleich: in Deutschland werden mindestens 50 Ar für jede einzelne Sonderkultur vorausgesetzt – sowie Betriebe mit bestimmten Produktionswerten. Die Liste der Produktionswerte ist lang und ein Spiegelbild der Vielfalt französischer Denk- und Lebensart. Sie reicht von AOC-Weinen (10 Ar), Champagner (5 Ar), Bienenstöcken (10) bis zu Mutterkaninchen (10) und Stopfgänsen bzw. -enten (50). Obwohl in Frankreich der »recensement agricole 2010« abgeschlossen ist und auch erste endgültige Ergebnisse vorliegen, sind differenzierte Ergebnisse nach Betriebsgrößenklassen, die Aufschluss über die zahlenmäßige Bedeutung der kleinen und kleinsten Betriebe geben würden, (noch) nicht verfügbar.

So ist ein unmittelbarer Vergleich zwischen den knapp 300 000 Betrieben in Deutschland und den 490 000 Betrieben in Frankreich (ohne Überseegebiete) bei den markanten Unterschieden in der Erfassungsgrenze nicht möglich. Kritisch zu hinterfragen ist es, wenn – wie in der Originaltabelle von Eurostat – Veränderungsraten ohne jegliche Kommentierung nachgewiesen werden. Für Frankreich wird im Vergleich des Jahres 2003 mit 2010 eine Abnahmerate von – 16 % und für Deutschland von – 27 % errechnet. Es findet sich kein Hinweis darauf, dass in diesem Zeitraum in Deutschland eine signifikante Anhebung der Erfassungsgrenze7 vorgenommen wurde. Durch diese Anhebung fielen etwa 50 000 Betriebe (bezogen auf das Jahr 2007) aus der statistischen Beobachtung. Berücksichtigt man diesen Effekt in der Berechnung der Veränderungsrate, dann würde dies für den Zeitraum 2003 bis 2010 eine Verringerung um etwa – 15 % bedeuten. Der Strukturwandel würde also nicht verschärft, sondern in einem ähnlichen Tempo wie in Frankreich verlaufen.

Auch in unserem Nachbarland Österreich hat man die kleineren landwirtschaftlichen Betriebe noch stärker im Fokus der statistischen Beobachtung. Die allgemeine Flächengrenze für die Erfassung liegt bei 1 ha landwirtschaftlich genutzte Fläche, während bei den Sonderkulturen Betriebe ab Flächen zwischen 10 und 25 Ar erfasst werden. Die Grenzwerte bei den Viehbeständen sind ebenfalls deutlich niedriger als in Deutschland. Die in Österreich im Jahr 2010 angewandte Erfassungsgrenze ist noch niedriger als die in Deutschland praktizierte Erfassungsgrenze vor dem Jahr 1999.

Fazit

Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in einem Mitgliedsstaat wird erheblich von der Wahl der Erfassungsgrenze beeinflusst. Das gilt auch vor dem Hintergrund einer EU-weit einheitlichen Mindesterfassungsgrenze. Eine unmittelbare Vergleichbarkeit für alle Mitgliedsstaaten ist nur im Bereich der Betriebe größer als 5 ha landwirtschaftlich genutzte Fläche gegeben. Ein auf diesen Größenbereich begrenzter Vergleich wird allerdings den unterschiedlichen Strukturen in den Mitgliedsstaaten nicht gerecht, weil sich einige Staaten gerade durch ihre Klein- und Kleinststrukturen auszeichnen. Für die große Mehrzahl der Mitgliedsstaaten, aber eben nicht für alle, ist ein Vergleich der Betriebe ab 1 ha landwirtschaftlich genutzter Fläche möglich. Ein Vergleich nach Größenklassen setzt voraus, dass entsprechend untergliederte Ergebnisse vorliegen. Das ist auf europäischer Ebene noch nicht der Fall. Im Augenblick ist es lediglich möglich, die Gesamtzahlen aus den verschiedenen Grundgesamtheiten gegenüberzustellen. Dabei sind Einschränkungen in der Aussagekraft – trotz einheitlicher Rechtsgrundlage – nicht zu vermeiden. 12 Mill. landwirtschaftliche Betriebe in der EU können daher nicht mehr sein als eine Momentaufnahme.

1 Endgültiges Ergebnis der Landwirtschaftszählung 2010.

2 Die Beschreibung der Erfassungsgrenze ist Bestandteil der Methodendokumentation, die zum Zeitpunkt der Drucklegung auf europäischer Ebene nur in wenigen Einzelfällen verfügbar war. In den Mitgliedsstaaten ist die Dokumentation teilweise in englischer Sprache, teilweise nur in Landessprache und manches mal gar nicht auffindbar.

3 Datenquelle: Statistics Estonia.

4 Datenquelle: Statistics Lithuania.

5 Datenquelle: Agreste.

6 Datenquelle: Agreste.

7 2010 wurde die Erfassungsgrenze auf 5 ha landwirtschaftlich genutzte Fläche angehoben. Schon einmal zuvor, im Jahr 1999 hatte Deutschland eine Anhebung der Erfassungsgrenze von 1 auf 2 ha landwirtschaftlich genutzte Fläche vorgenommen. Bei näherer Betrachtung sind also auch die Basiswerte für das Jahr 2003 zwischen Frankreich und Deutschland nicht unmittelbar vergleichbar.