:: 7/2013

Die »große Rezession«: Fand sie bei uns nicht statt?

Die Rezession im Jahre 2009 hat sowohl in den USA als auch in Europa deutliche Spuren hinterlassen. Während sie allerdings in Deutschland, das vergleichsweise gut durch die Krise gekommen ist, mittlerweile vor allem als Auslöser für die (südeuropäische) Schuldenkrise wahrgenommen wird, hat sie in den Vereinigten Staaten eine Diskussion um die Grundlagen des Wachstums ausgelöst. Im Jahr 2011 erschien in den USA ein schmaler Band mit dem Titel »The Great Stagnation«1, in dem die langfristigen Wachstumsperspektiven insbesondere der USA, aber auch der übrigen westlichen Industrieländer pessimistisch beurteilt werden. Das Buch löste ein breites Medienecho aus. Als Replik erschien der Titel »The Race Against The Machine«2, in dem die Informationstechnologie und besonders das Internet als Innovationsquelle und damit Wachstumsgarant für die nächsten Jahrzehnte identifiziert werden. Besitzen die Kernaussagen der beiden Analysen für Europa und insbesondere für Baden-Württemberg Relevanz? Dieser Frage soll in einer lockeren Folge von Beiträgen nachgegangen werden.

Verdoppelung der Arbeitslosigkeit in den USA

Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, was die Autoren der beiden Bücher zu ihren Analysen veranlasst hat und weshalb es in den USA, nicht jedoch in Europa, zu einer Diskussion um die Grundlagen des wirtschaftlichen Wachstums gekommen ist.

Die Vereinigten Staaten haben 2008 und 2009 ebenso wie Europa eine schwere Rezession erlebt, die von einer Finanzkrise begleitet wurde. Die Krise setzte, gemessen an der Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorquartal, Anfang 2008 ein, erreichte zum Jahreswechsel 2008/2009 ihren Höhepunkt und klang schließlich Mitte 2009 mit dem Wiederanstieg der Wirtschaftsleistung aus. Auch in Deutschland und Baden-Württemberg kam es, abgesehen von dem etwas späteren Einsetzen der Rezession, zu keinen größeren Abweichungen von diesem Verlauf.

In den Vereinigten Staaten wird die Rezession, in der die Wirtschaftsleistung in einigen Quartalen um rund 4 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum sank, mittlerweile als »Great Recession« bezeichnet, was an die »Great Depression« der 1930er-Jahre denken lässt und ein Hinweis auf die große Verunsicherung ist, den die Rezession ausgelöst hat. Entsprechend trafen die in den beiden Publikationen »The Great Stagnation« und »The Race Against The Machine« dargelegten Argumente, insbesondere zu den technologischen Grundlagen des wirtschaftlichen Wachstums, auf große Resonanz.3

Den entscheidenden Anstoß zu der Diskussion in den Vereinigten Staaten gab die Arbeitsmarktentwicklung während und nach der »großen Rezession«. Zwischen dem 1. Quartal 2008, dem letzten »Vorkrisen«-Quartal, und dem 4. Quartal 2009 kam es in den USA glatt zu einer Verdoppelung der Arbeitslosigkeit. Die von der OECD ausgewiesene, international vergleichbare »harmonisierte Arbeitslosenquote«4 kletterte innerhalb eines Jahres von 5 % auf den für US-amerikanische Verhältnisse ausgesprochen hohen Wert von 9,9 %. Fast noch schockierender für die Amerikaner war jedoch, dass die Arbeitslosigkeit auch dann hartnäckig auf diesem sehr hohen Niveau verharrte, als die Wirtschaftsleistung wieder zulegte und sich eine wirtschaftliche Erholung ankündigte. Erst 2011 ging die Arbeitslosigkeit wieder leicht zurück und die harmonisierte Arbeitslosenquote lag im 4. Quartal des Jahres 2011 erstmals seit zweieinhalb Jahren wieder unter der Marke von 9 %.

In Deutschland und Baden-Württemberg konnte dagegen verhindert werden, dass der Produktionseinbruch während der Krise nennenswert auf den Arbeitsmarkt übergriff. Das wurde durch den massiven Einsatz von Kurzarbeit erreicht. Zwar stieg auch hierzulande während der Rezession die Arbeitslosigkeit leicht an. So kletterte die harmonisierte Arbeitslosenquote in Deutschland aber lediglich auf 8 % im 3. Quartal 2009 und ging dann wieder zurück. Auch in Baden-Württemberg nahm die Erwerbslosigkeit im Verlauf der Rezession nur moderat zu. Die von der Bundesagentur für Arbeit berechnete Arbeitslosenquote (bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen) erhöhte sich bis zum 1. Quartal 2010 auf 5,5 % und lag damit nur um 1 Prozentpunkt über dem Wert 2 Jahre zuvor, also vor dem Ausbruch der Rezession.

Konjunkturelle Erholung ohne Beschäftigungsaufbau?

Für die amerikanische Öffentlichkeit zeigte sich die Krise vor allem in der für die USA sehr hohen und anhaltenden Arbeitslosigkeit. Sie wurde maßgeblich durch den Beschäftigungsabbau verursacht, der während der Rezession besonders kräftig ausfiel. 2009 sank die Zahl der Erwerbstätigen in den USA in jedem Quartal um rund 4 % gegenüber dem jeweiligen Vorjahresquartal. Damit war der Beschäftigungsrückgang nicht nur in seiner Stärke, sondern auch in seiner Dauer mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland und Baden-Württemberg. Sogar in Europa war 2009 die Beschäftigungsentwicklung noch besser als in den USA. Zwar fiel auch in der Eurozone in allen 4 Quartalen die Zahl der Erwerbstätigen, die Rückgänge waren mit jeweils rund 2 % jedoch nur halb so hoch wie in den Vereinigten Staaten.

So problematisch der starke Beschäftigungsabbau und die daraus resultierende hohe Arbeitslosigkeit für die amerikanische Öffentlichkeit war, für die Ökonomen war der Beschäftigungsrückgang in der Krise noch kein Anlass zur Beunruhigung. Im Gegenteil: Da der Beschäftigungsabbau mit einer starken Abnahme der Wirtschaftsleistung einherging, konnte er sogar als Bestätigung des sogenannten »Gesetzes von Okun«5 betrachtet werden, aus dem sich ein stabiler, gleichgerichteter Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsleistung und der Beschäftigung ableiten lässt.

Mit dem Einsetzen der wirtschaftlichen Erholung hätte es entsprechend des Gesetzes von Okun wieder zu einem Beschäftigungsaufbau und einer Verminderung der Arbeitslosigkeit kommen müssen. Doch dieser Beschäftigungsanstieg blieb aus, als 2010 und in der ersten Hälfte 2011 die Wirtschaftsleistung in den USA wieder spürbar zunahm und sich die Anzeichen für eine konjunkturelle Erholung verdichteten. So nahm 2010 die Zahl der Erwerbstätigen sogar trotz steigender Wirtschaftsleistung in den ersten 3 Quartalen weiter ab und die USA mussten bis 2011 warten, bis die Beschäftigung wieder spürbar stieg. Das Phänomen des Wirtschaftswachstums bzw. der konjunkturellen Erholung ohne Beschäftigungsaufbau wird im Englischen als »jobless growth« oder »jobless recovery« bezeichnet. Bereits nach den Rezessionen 1991 und 2001 war es in den USA stark diskutiert worden und galt als das Symptom der Deindustrialisierung der US-amerikanischen Wirtschaft schlechthin.

Obwohl auch hierzulande die Zahl der Erwerbstätigen erst 2011 wieder spürbar zunahm, also rund 1 Jahr, nachdem die Wirtschaftsleistung wieder zu wachsen begonnen hatte, spielte das Phänomen des »jobless growth« in der wirtschaftspolitischen Diskussion keine Rolle. Stattdessen dominierte die Finanz- und Schuldenkrise die öffentliche Wahrnehmung der Rezession. Das gilt auch für Europa. Gerade im Euroraum sank oder stagnierte jedoch in den Jahren 2010 und 2011 die Zahl der Erwerbstätigen trotz des Wiederanstiegs der Wirtschaftsleistung.

Günstige Produktivitätsentwicklung in den USA

Die Kehrseite der Beschäftigungssicherung in Deutschland und Baden-Württemberg war ein starker Rückgang der Arbeitsproduktivität (i-Punkt). In den ersten Quartalen 2009, also auf dem Höhepunkt der Rezession, ist die Wirtschaftsleistung je Erwerbstätigem in Deutschland und Baden-Württemberg um rund ein Zehntel gesunken. Dieser Einbruch, der eine Begleiterscheinung der sprunghaften Zunahme der Kurzarbeit war, wurde jedoch bewusst in Kauf genommen, um das Ziel der Beschäftigungsstabilisierung zu erreichen. Allerdings hat sich der Rückgang der Arbeitsproduktivität nicht auf das Jahr 2009 beschränkt. Besonders in Deutschland ist die Wirtschaftsleistung je Erwerbstätigem auch noch 2011 und 2012 leicht gesunken. Auch die ausgesprochen günstige Beschäftigungsentwicklung in diesen Jahren ging also mit einer nur schwachen Produktivitätsentwicklung einher.

In den USA ist es dagegen lediglich während des Höhepunkts der Rezession zum Jahreswechsel 2008/2009 zu einem Rückgang der Arbeitsproduktivität gekommen. Dieser fiel mit Abnahmen von unter 5 %, verglichen mit Deutschland und Baden-Württemberg, zudem sehr moderat aus. In den meisten Quartalen der Jahre von 2008 bis 2012 ist die Wirtschaftsleistung je Erwerbstätigem sogar gestiegen. Zwar wird darauf hingewiesen, dass es sich dabei zu einem nicht unerheblichen Teil um sogenannte »Freisetzungsproduktivität« handele, also um eine Zunahme der Arbeitsproduktivität, die durch einen Beschäftigungsabbau erreicht wird. Und in der Tat traten im 2. Halbjahr 2009 und in den ersten 3 Quartalen 2010 die Produktivitätssteigerungen in Kombination mit Rückgängen bei der Beschäftigung auf. Allerdings machen diese Quartale nur rund ein Drittel des gesamten Zeitraums mit Produktivitätssteigerungen in der US-Wirtschaft aus. Im Euroraum spielt die »Freisetzungsproduktivität« demgegenüber eine deutlich größere Rolle. Dort ist es in rund der Hälfte des Zeitraums von knapp 3 Jahren, in dem zwischen 2008 und 2012 Produktivitätszuwächse zu verzeichnen waren, gleichzeitig zu Beschäftigungsrückgängen gekommen.

Die Frage der technologischen Grundlagen des Wachstums ist hochaktuell…

Was lässt sich nun aus der konjunkturellen Entwicklung seit dem Beginn der »großen Rezession« über die Wachstumsperspektiven der einzelnen Regionen ableiten? Auch der Vergleich der mittleren, quartalsbezogenen Veränderungsraten von Wirtschaftsleistung, Erwerbstätigenzahl und Arbeitsproduktivität für die Jahre von 2009 bis 20126 zeigt, dass die Rezession in den Regionen bis Ende 2012, also in der eigentlichen Rezessionsphase und der nachfolgenden Erholungsphase, sehr unterschiedliche Auswirkungen hatte. Während in den USA, Deutschland und Baden-Württemberg die Wirtschaftsleistung im Mittel über den gesamten Zeitraum sogar stieg, ging sie in der gesamten Eurozone leicht zurück. Die Schwäche der konjunkturellen Erholung im Euroraum zeigt sich auch darin, dass die Wirtschaftsleistung dort nicht nur, wie in den USA, Deutschland und Baden-Württemberg in den eigentlichen Krisenquartalen sank, sondern auch in den letzten 3 Quartalen 2012. Diese Rückkehr der Rezession könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich die Finanz- und Schuldenkrise im Euroraum zu einer anhaltenden realwirtschaftlichen Wachstumskrise entwickelt hat.7

Aber auch in den anderen Regionen weist die Krisenbewältigung Schwachstellen auf. Zwar hat sich die Diagnose des »jobless growth«, die sowohl für »The Great Stagnation« als auch für »The Race Against The Machine« als Aufhänger fungierten, für die USA im Nachhinein als unbegründet erwiesen – 2012 stieg die Zahl der Erwerbstätigen um rund 2 % an. Dieser Beschäftigungsaufbau war jedoch nur mit einer vergleichsweise geringen Zunahme der Arbeitsproduktivität verbunden, die deutlich unter dem Durchschnittswert von 1,3 % lag. Im Sinne von »The Great Stagnation« ließe sich dies als Beleg dafür deuten, dass der Aufschwung nicht durch einen autonomen Wachstumsimpuls vorangetrieben wird, der zu einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität, zu höheren Löhnen und damit zu einer steigenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führt. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass die Erhöhung der Beschäftigung auch in den USA lediglich konjunktureller Natur ist, also nur durch die geringe Zunahme der Arbeitsproduktivität ermöglicht wird.

… gerade auch für den Euroraum

Noch mehr als im Fall der USA muss man bei der Eurozone, Deutschland und Baden-Württemberg davon ausgehen, dass sich in der geringen durchschnittlichen Zunahme der Arbeitsproduktivität und den häufigen Phasen ihres Rückgangs oder ihrer Stagnation das Fehlen autonomer Wachstumsimpulse manifestiert. Im Hinblick auf die wichtigste Quelle derartiger Wachstumsimpulse, den technologischen Fortschritt, warnt die Europäische Kommission insbesondere davor, dass in der Eurozone die südeuropäischen Krisenländer den Anschluss im Bereich der technologischen Innovationen verlieren. Die Kluft innerhalb Europas zwischen den innovationsstarken und den innovationsschwächeren Ländern habe sich erheblich vergrößert.8

Die Autoren von »The Race Against The Machine« würden wohl der Deutung der geringen Produktivitätssteigerungen als Indiz für das Fehlen von Wachstumsimpulsen ebenfalls zustimmen. Allerdings vertreten sie auch die Ansicht, dass es nach wie vor Technologien gibt, die über ein hohes Innovations- und Wachstumspotential verfügen. Insbesondere die Informations- und Kommunikationstechnologie zählt für sie zu diesen sogenannten »Schlüsseltechnologien«. Gleichzeitig weisen Brynjolfsson und McAfee allerdings auch darauf hin, dass die langfristige Herausforderung nicht nur darin besteht, das Innovationspotential der Schlüsseltechnologien zu nutzen, sondern auch den wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel, der durch den technologischen Fortschritt ausgelöst wird, zu bewältigen. Vor dieser Herausforderung stehen auch die Länder, die gegenwärtig von der Europäischen Kommission im Hinblick auf ihren Ressourceneinsatz im Bereich von Forschung und Entwicklung als führend betrachtet werden, wie das bei Deutschland und damit auch Baden-Württemberg der Fall ist.

1 Cowen, Tyler (2011): The Great Stagnation, Dutton (Verlag), New York.

2 Brynjolfsson, Eric/McAfee, Andrew (2011): The Race Against The Machine, Digital Frontier Press, Lexington, Massachusetts.

3 Vgl. Wikipedia (engl.) Artikel »The Great ­Stagnation”: «…the book was largely welcomed as timely and skilled in framing the debate around the future of the American economy.”

4 Die harmonisierte Arbeitslosenquote beruht auf dem ILO-Konzept der Arbeitslosigkeit. Dementsprechend ist eine Person zwischen 15 und 74 Jahren dann arbeitslos, wenn sie in einer Referenzwoche keine Arbeit hat und bereit ist, innerhalb der nächsten 2 Wochen eine Beschäftigung aufzunehmen, wenn sie in den letzten 4 Wochen aktiv nach Arbeit gesucht hat, oder wenn sie innerhalb der nächsten 3 Monate eine Beschäftigung antreten wird. Diese Arbeitslosenzahl wird zur Gesamtzahl aller Erwerbspersonen zwischen 15 und 74 Jahren in Beziehung gesetzt. Die harmonisierte Arbeitslosenrate ist saisonbereinigt. Die von der Bundesagentur für Arbeit für Deutschland und die Bundesländer berechnete Arbeitslosenquote gibt die Relation zwischen den bei der Bundesagentur als arbeitslos gemeldeten Personen und der Gesamtzahl der Erwerbspersonen wieder.

5 Okun, Arther Melvin, 1928–1980, US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler.

6 Für Baden-Württemberg liegen nach der aktuellen »Klassifikation der Wirtschaftszweige«, Ausgabe 2008, vierteljährliche Erwerbstätigenzahlen ab 2008 vor, sodass sich Veränderungsraten zum Vorjahreszeitraum ab 2009 berechnen lassen.

7 In Abbildung 6 gibt der obere Abschnitt der vertikalen Linie durch den Datenpunkt im Verhältnis zur gesamten Strecke den Anteil des Zeitraums mit negativen Veränderungsraten oder mit Stagnation am gesamten Zeitraum wieder. Zwischen 2009 und 2012 verzeichnete die Eurozone also deutlich mehr Quartale mit stagnierender oder sinkender Wirtschaftsleistung als die USA.

8 Europäische Kommission, Leistungsanzeiger: EU wird innovativer, aber Kluft zwischen den Ländern vertieft sich, Pressemitteilung vom 26. März 2013.