:: 12/2013

Bettelei und Landstreicherei im Großherzogtum Baden und im Königreich Württemberg

Bettelei und Landstreicherei sind gesellschaftliche Phänomene, die nicht erst in unserer heutigen Gesellschaft auftreten. Bereits in den Statistischen Jahrbüchern Badens und Württembergs im vorletzten Jahrhundert wurden die hierzu statistisch erhobenen Daten veröffentlicht. Bettelei und Landstreicherei haben jedoch noch sehr viel ältere historische Wurzeln. Die Ursachen des Bettelns sind vielfältig, besonders in wirtschaftlich unterentwickelten Ländern sind Bettler und wohnsitzlose Landstreicher sehr stark verbreitet. Oftmals ist und war die Obdachlosigkeit der Hauptgrund für das Landstreichern und Betteln. Weitere Gründe liegen wohl in der Arbeitslosigkeit, der Invalidisierung, der Altersarmut und der Verweigerung von sozialer Unterstützung.

Fast so alt wie die Menschheit…

Bereits vor Jahrtausenden gab es wohnsitzlose Bettler die umherzogen. Schon in der Bibel – kulturgeschichtlich wohl das umfangreichste frühe schriftliche Zeugnis der Menschen – wird sowohl im Alten als auch im Neuen Testament von Bettlern erzählt. In früheren Jahrtausenden, ohne Absicherung wirtschaftlicher und sozialer Risiken, wuchs die Zahl der Bettler in verarmten Gesellschaften schnell an. Im Mittelalter begann man in vielen europäischen Städten durch polizeiliche Anordnungen die Bettelei zu unterdrücken. Hilflosen und gebrechlichen Menschen billigte man jedoch durch Ausstellung behördlicher Bettelbriefe das Recht zu, öffentlich um mildtätige Gaben zu bitten. Die älteste bekannte Bettelordnung in Deutschland stammt aus dem Jahr 1478 und wurde vom Rat der Stadt Nürnberg erlassen.

Trotz dieser behördlichen Maßnahmen gegen das Betteln und die Landstreicherei nahm beides nach dem Dreißigjährigen Krieg im 17. und 18. Jahrhundert in weiten Teilen Deutschlands und somit auch in Baden und Württemberg zu. Dem Versuch, Bettler und Landstreicher aus der Öffentlichkeit zu entfernen, indem sie in Arbeitshäusern untergebracht wurden, entzogen sich viele durch Flucht und einen noch unstetigeren Lebenswandel.

Entwurzelung durch beginnende Industrialisierung

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es in Deutschland und somit auch in Baden und Württemberg zu großen politischen und sozialen Umwälzungen. Der Zunftzwang wurde gelockert und erste Ansätze einer Gewerbefreiheit zeichneten sich ab. Durch den Beitritt der beiden souveränen Staaten zum Deutschen Zollverein öffneten sich auch völlig neue Wege zu größeren Absatzmärkten. Durch diese neue Wettbewerbssituation kam es in den bis dahin stark landwirtschaftlich geprägten Staaten Württemberg und Baden zur Gründung einer Vielzahl von neuen Fabrikationsstätten. Eine weitere Folge dieser Umwälzungen war eine rapide Zunahme der Bevölkerung, sodass in großer Zahl die verarmte Landbevölkerung in die Städte drängte, um sich dort eine Existenz zu suchen. Die hier neu entstehenden Arbeitsplätze in der sich entwickelnden Industrie reichten aber noch nicht aus, um die Nachfrage zu befriedigen. So blieben viele Menschen ohne Beschäftigung. Aber auch schlechte und oftmals menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, zu geringe Bezahlung, Krankheiten und Hunger1 trieben viele Menschen in die Obdachlosigkeit und als Folge davon zum Betteln und in die Landstreicherei.

Bestrafungen für Bettler und Landstreicher

Juristisch betrachtet zählten Bettelei und Landstreicherei im deutschen Kaiserreich strafrechtlich nicht zu den Verbrechen und Vergehen. Sie wurden vielmehr milder als Übertretungen eingestuft aber sehr wohl juristisch sanktioniert. Die Landstreicherei wurde nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch (§ 361, Nr. 3; § 362) mit Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Verurteilte Personen konnten in diesem Zusammenhang für einen Zeitraum von bis zu 2 Jahren in ein Arbeitshaus eingewiesen werden, um sie dort gemeinnützige Arbeiten verrichten zu lassen. Landstreichernde Ausländer konnten nach Verbüßung der Haftstrafe aus dem Reichsgebiet ausgewiesen werden. So gab es alleine im Königreich Württemberg 1897 in 4 425 Fällen eine Festnahme wegen Bettelei und Landstreicherei. Daraus resultierten im gleichen Jahr 882 Anzeigen. Dies sind in Relation zu anderen wesentlich gravierenderen Straftaten wie zum Beispiel Raub und Erpressung recht hohe Fallzahlen, wurden doch im gleichen Zeitraum nur 342 Personen wegen Raub und Erpressung in Württemberg angezeigt. Noch häufiger wurden Bettelei und Landstreicherei im Großherzogtum Baden verfolgt. Hier wurden 1897 in über 5 100 Fällen Bestrafungen verhängt. Diese doch sehr hohe Zahl in Baden ist wohl auch auf den höheren Industrialisierungsgrad zurückzuführen, der in der Gründerzeit eine Verarmung gewisser Bevölkerungsschichten begünstigte.

Der Versuch der Eindämmung

Es gab in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vielfältige Anstrengungen der einzelnen Staaten des deutschen Kaiserreiches, die Auswüchse der Bettelei und Landstreicherei einzudämmen. Die schon weiter oben erwähnte Einweisung in Arbeitshäuser war wohl der rigideste Versuch. Darüber hinaus gab es noch staatlich reglementierte Unterstützungen durch die Gemeindebehörden und auch vielerlei Formen der Naturalverpflegung dieser verarmten Bevölkerungsgruppen durch die Kreisverwaltungen. Landstreicher und Bettler erhielten auch Hilfe und Unterstützung durch die sogenannten Antibettelvereine, die als halbstaatliche Institutionen in vielen größeren Städten Badens und Württembergs gegründet wurden. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderten sich die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in ganz Deutschland für die ärmeren Bevölkerungsschichten zum Besseren. Der Hauptgrund war die anziehende Konjunktur in allen Staaten des Deutschen Reiches. Die Gründe des Aufschwungs waren die rapide zunehmende Industrialisierung und die nun verstärkt wirkendenden Investitionen aus den französischen Reparationsleistungen nach dem deutsch‑französischen Krieg 1870/1871. Sie führten zu einer Blüte von Handwerk, Industrie und Handel. Es sollte allerdings noch sehr lange dauern, bis Bettelei und Landstreicherei nicht mehr strafrechtlich verfolgt wurden. Erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden beide Delikte im Zusammenhang mit den in der Bundesrepublik erfolgten Strafrechtsreformen nicht mehr unter Strafe gestellt.

1 Brüning, Rainer/Exner, Peter (Hrsg.): Wege aus der Armut. Baden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Karlsruhe, 2007, S. 11.