:: 5/2014

Die Gemeinschaftsschule: Eine neue Schulart in Baden-Württemberg

Sinkende Schülerzahlen, damit einhergehend die teilweise Gefährdung von Schulstandorten, ein langjähriger Abwärtstrend bei den Übergängen auf die Werkreal-/Hauptschule und steigende Übergänge auf das Gymnasium, der Vorwurf von Chancenungleichheit und mangelnder Durchlässigkeit: Das dreigliedrige Schulsystem Baden-Württembergs ist seit Langem in der Diskussion. Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2011 folgte die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung und die Einführung der neuen Schulart Gemeinschaftsschule. Diese startete im Schuljahr 2012/13 mit 42 Einrichtungen und knapp 2 100 Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I. Im laufenden Schuljahr 2013/14 stieg die Zahl der Gemeinschaftsschulen auf 131 mit rund 8 600 Schülerinnen und Schülern. In der Gemeinschaftsschule werden alle Bildungsstandards angeboten. Sie soll individuelle Lern- und Förderpläne für alle Schülerinnen und Schüler bieten. Die Gemeinschaftsschule versteht sich als inklusive Schule, arbeitet in Lerngruppen, Noten (außer in den Abschlussklassen) müssen nicht gegeben werden. Auch »Sitzenbleiben« gibt es nicht.

Sinkende Schülerzahlen: Ein Grund für den Wechsel der Schulstruktur

Im Schuljahr 2003/04 erreichte die Schülerzahl an den allgemeinbildenden Schulen mit fast 1 307 600 den höchsten Stand seit Anfang der 1980er-Jahre. Seither sind die Schülerzahlen aufgrund der demografischen Entwicklung von Jahr zu Jahr gefallen, bis zum Schuljahr 2012/13 insgesamt um gut 11 %. Während der Rückgang der Schülerzahlen von 1980/81 (gut 1 395 200 Schüler) auf 2012/13 an den Realschulen mit knapp 5 % und an den Gymnasien mit gut 6 % noch vergleichsweise moderat verlief, hat sich die Schülerzahl an den Werkreal-/Hauptschulen im selben Zeitraum halbiert. Von 1980/81 bis zum aktuellen Schuljahr 2013/14 ist die Insgesamt-Zahl der Schülerinnen und Schüler (einschließlich Grundschulen) um gut 18 % zurückgegangen.

Die sinkenden Schülerzahlen brachten auch eine Diskussion über die Schließung schulischer Einrichtungen mit sich. Zwar hat sich von 2005/06 auf 2012/13 die Zahl der Realschulen und Gymnasien um 35 bzw. 22 auf 503 bzw. 455 leicht erhöht, die Anzahl der Werkreal-/Hauptschulen ist aber im selben Zeitraum um 320 auf nur noch 906 rasant zurückgegangen. Von 2012/13 auf das aktuelle Schuljahr 2013/14 ist die Zahl der Realschulen gleich geblieben, während bei den Gymnasien drei hinzugekommen sind. Bei den Werkreal-/Hauptschulen hat sich die Zahl der Dienststellen dagegen um weitere 38 reduziert.1

Wahlverhalten bei Übergängen auf weiterführende Schulen ändert sich stark

Auch die Übergänge von Grundschulen auf weiterführende Schulen zeigen seit vielen Jahren einen eindeutigen Abwärtstrend bei den Werkreal-/Hauptschulen und eine Zunahme der Übergänge auf Gymnasien. Zum Schuljahr 1980/81 waren noch 41 % der Viertklässler auf eine Hauptschule gewechselt, gut 25 % auf eine Realschule und rund 29 % auf ein Gymnasium. Die Hauptschule stellte also die eindeutig dominierende Schulart dar. Zum Schuljahr 2011/12 (dem letzten Schuljahr vor Einführung der Gemeinschaftsschule) war die Übergangsquote auf die Werkreal-/Hauptschule auf knapp 24 % gesunken, während die Übergänge auf die Realschule auf gut 34 %, die Übergänge auf das Gymnasium auf 41 % gestiegen waren.

Zum aktuellen Schuljahr 2013/14 (in diesem Schuljahr existierten bereits an 131 Standorten Gemeinschaftsschulen, die Grundschulempfehlung war seit 2012/13 nicht mehr verbindlich) sind dagegen nur noch 11,9 % der Viertklässler von der Grundschule auf eine Werkreal-/Hauptschule gewechselt. Die Übergänge auf Realschulen lagen bei 36,2 %, für das Gymnasium entschieden sich 44,6 % der Viertklässler. Auf die Sekundarstufe I einer Gemeinschaftsschule waren 5,7 % der Viertklässler übergegangen. Im Vorjahr, das heißt im ersten Jahr des Bestehens der Gemeinschaftsschulen, lag diese Quote bei 1,7 %.

Vorwurf sozialer Disparitäten in verschiedenen Bildungsstudien

Nationale und internationale Studien enthielten seit geraumer Zeit den Vorwurf der Chancenungleichheit und der mangelnden Durchlässigkeit der Schulstrukturen in Deutschland. Bereits die erste, im Jahr 2001 veröffentlichte PISA-Studie machte deutlich, dass der Zusammenhang zwischen schulischem Erfolg und Merkmalen des sozialen Hintergrunds wie Sozialschicht oder Migrationshintergrund in Deutschland besonders ausgeprägt ist.2

Auch der im Jahr 2013 erschienene Ländervergleich 2012 des Berliner Instituts für Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB) bestätigt soziale Disparitäten. So gebe es bundesweit im Fach Mathematik einen Leistungsvorsprung von fast 3 Schuljahren zugunsten der Schülerinnen und Schüler aus sozial besser gestellten Familien.3

Einführung der Gemeinschaftsschule zum Schuljahr 2012/13

All diese Entwicklungen und Erkenntnisse haben dazu beigetragen, dass das dreigliedrige Schulsystem in Baden-Württemberg schon seit Langem in der Diskussion ist. Die grün-rote Landesregierung hatte nach dem Regierungswechsel im Jahr 2011 die Abschaffung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung sowie die Einführung der neuen Schulart Gemeinschaftsschule beschlossen. »Unsere bildungspolitischen Ziele lassen sich in der Gemeinschaftsschule für alle Kinder bis Klasse 10 am besten erreichen. Sie erschließt ein großes Potenzial: Sie schafft mehr Chancengleichheit, gewährleistet mit einer guten Ressourcenausstattung die bestmögliche individuelle Förderung und sichert insbesondere in ländlichen Räumen wohnortnahe Schulstandorte mit einem breiten Angebot an Schulabschlüssen.«4

Mit der Änderung des Schulgesetzes im April 2012 wurde zum Schuljahr 2012/13 die neue Schulart »Gemeinschaftsschule« eingeführt (i-Punkt). An 42 »Starterschulen« – davon 41 in öffentlicher und eine in privater Trägerschaft – wurden damals knapp 2 100 Kinder in der 5. Klassenstufe der Sekundarstufe I einer Gemeinschaftsschule unterrichtet. Bereits vorhandene Bildungsgänge einer Werkreal-/Hauptschule oder einer Realschule wurden auslaufend weitergeführt. Vorhandene Grundschulen wurden in der Regel »im Verbund mit der Gemeinschaftsschule (Primarstufe)« geführt. An dieser Primarstufe wurden 2012/13 gut 6 500 Kinder unterrichtet.

In der zweiten Tranche kamen zum Schuljahr 2013/14 weitere 87 öffentliche und zwei private Gemeinschaftsschulen hinzu. Rund 8 600 Kinder und Jugendliche werden in den Klassenstufen 5 und 6 der Sekundarstufe I einer Gemeinschaftsschule unterrichtet, an der Primar-stufe knapp 20 500.

Gemeinschaftsschule – Was ist das eigentlich?5

  • Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg vermittelt in einem gemeinsamen Bildungsgang Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I eine der Hauptschule, der Realschule oder dem Gymnasium entsprechende Bildung.
  • Kern der Gemeinschaftsschule ist die Sekundarstufe I (Klassenstufen 5 bis 10). In allen Fällen, in denen eine Grundschule zur Gemeinschaftsschule gehören soll, bildet diese Grundschule die Primarstufe der Gemeinschaftsschule (Klassenstufen 1 bis 4).
  • Eine Sekundarstufe II (Klassenstufen 11 bis 13) kann angeboten werden, wenn die Gemeinschaftsschule nach der Klassenstufe 10 jährlich mindestens 60 Schülerinnen und Schüler mit Gymnasialniveau hat.
  • Die Gemeinschaftsschule ist in den Klassenstufen 5 bis 10 an 3 oder 4 Tagen in der Woche eine verpflichtende Ganztagsschule mit rhythmisiertem Schulalltag (also einem Wechsel zwischen Unterricht und außerschulischen Betreuungsangeboten).
  • Schülerzentrierte Unterrichtsmethoden, indivi­duelle Lern- und Förderpläne und selbstverantwortliches Lernen sollen der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler gerecht werden.
  • Lerngruppen statt Klassen sollen die Möglichkeit und Pflicht geben, sich in unterschiedlichen Gruppierungen mittels indi­vidueller und kooperativer Lernformen weitgehend selbstverantwortlich zu betätigen.
  • Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg steht auch Schülerinnen und Schüler offen, die ein Recht auf den Besuch einer Sonderschule haben.
  • Noten müssen (außer in den Abschlussklassen) nicht gegeben werden. Anstelle eines Zeugnisses mit Noten gibt es einen detaillierten Lernentwicklungsbericht, welcher auf Wunsch der Eltern um Noten ergänzt werden kann.
  • Alle Abschlüsse sind möglich:
    • Hauptschulabschluss nach Klasse 9 oder 10,
    • Realschulabschluss nach Klasse 10,
    • Abitur, sofern eine Sekundarstufe II an­geboten wird.

Zusätzliche Lehrerstunden

Über die in der Stundentafel vorgegebenen Stunden hinaus erhalten die Gemeinschaftsschulen zusätzliche Lehrerwochenstunden (LWS):6

  • 2 LWS je Klasse für individuelle Förderung und Differenzierung;
  • 2 LWS je Klasse für besondere pädagogische Aufgaben;
  • für die Weiterentwicklung zur Gemeinschaftsschule einmalig
    • 3 LWS je Klasse 5 im 1. Jahr der Genehmigung der Schule,
    • 2 LWS je Klasse 6 im 2. Jahr der Genehmigung der Schule und
    • 1 LWS je Klasse 7 im 3. Jahr der Genehmigung der Schule;
  • 5 LWS je Klasse für 4 Tage bzw. 2 LWS je Klasse für 3 Tage verbindlichen Ganztagsunterricht in der Sekundarstufe I.

Schülerzahlen von 2012/13 auf 2013/14 mehr als vervierfacht

Im 1. Jahr der Einführung der Gemeinschaftsschule gab es an der Sekundarstufe I nur die Klassenstufe 5. Von den knapp 2 100 Fünftklässlern der 42 Gemeinschaftsschulen im Schuljahr 2012/13 waren rund 900 bzw. knapp 45 % weiblich. Rund 7 % waren Ausländer, das heißt sie besaßen keine deutsche Staatsbürgerschaft. Im Jahr 2012/13 wurde erstmals in der Schulstatistik der Migrationshintergrund erhoben, allerdings vorerst nur an den öffentlichen Schulen. Die 41 öffentlichen Gemeinschaftsschulen mit ihren insgesamt gut 2 000 Schülern im Schuljahr 2012/13 hatten knapp 300 Schüler mit Migrationshintergrund, dies entspricht einem Anteil von gut 14 %. Dieser Anteil setzte sich zusammen aus 7 % Ausländern (139) und weiteren gut 7 % mit sonstigem Migrationshintergrund. An den öffentlichen allgemeinbildenden Schulen insgesamt lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund bei knapp 19 % (10 % Ausländer und knapp 9 % mit sonstigem Migrationshintergrund). Bei diesem Vergleich ist zu bedenken, dass die Gemeinschaftsschulen mit den 42 Starterschulen bei Weitem noch nicht flächendeckend in Baden-Württemberg vertreten waren.

Die Gemeinschaftsschulen sind Schulen mit einem inklusiven Bildungsangebot. Im Schuljahr 2012/13 wurden dort in der Sekundar­stufe I 70 Kinder mit festgestelltem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot inklusiv unterrichtet. Im Schuljahr 2013/14 – dem 2. Jahr der Existenz der Gemeinschaftsschulen – waren in der Sekundarstufe I bereits die Klassenstufen 5 und 6 vertreten. Knapp 2 200 Sechstklässler und fast 6 400 Fünftklässler werden derzeit an den 131 Gemeinschaftsschulen unterrichtet. Damit hat sich hier die Schülerzahl aufgrund der kleinen Ausgangszahl im Vorjahr und des Ausbaus zum laufenden Schuljahr mehr als vervierfacht.

Beteiligung der Realschulen gestiegen

Im Schuljahr 2012/13 gab es an 40 der ins­gesamt 42 Gemeinschaftsschulen einen Bildungsgang »Werkreal-/Hauptschule«. Im Schuljahr 2013/14 ist dies an 124 Gemeinschaftsschulen der Fall, wobei dieser Bildungsgang in beiden Jahren immer nur auslaufend geführt wird.

Während unter den Gemeinschaftsschulen des Schuljahres 2012/13 nur drei mit einem (auslaufenden) Realschul-Bildungsgang waren, gibt es unter den 131 Gemeinschaftsschulen des Schuljahres 2013/14 nun elf Realschul-Bildungsgänge. Davon werden neun auslaufend geführt und zwei parallel zum Bildungs­gang »Gemeinschaftsschule-Sekundarstufe I«.

Einen gymnasialen Bildungsgang hatte 2012/13 nur eine Gemeinschaftsschule: Die Geschwister-Scholl-Schule in Tübingen, ein Schulverbund aus einem Gymnasium und einer Gemeinschaftsschule. Dort wird der gymnasiale Bildungsgang (im Gegensatz zum Realschul- und Werkrealschul-Bildungsgang) nicht auslaufend geführt, sondern parallel zum Bildungsgang »Gemeinschaftsschule-Sekundarstufe I«. Im Schuljahr 2013/14 sind zwei weitere Gemeinschaftsschulen dazugekommen, die ebenfalls parallel zur Sekundarstufe I der Gemeinschaftsschule einen Bildungsgang Gymnasium führen: Die Oscar-Paret-Schule in Freiberg am Neckar (Gymnasium mit 8-jährigem Bildungsgang) und die Paula-Fürst-Schule in Freiburg (3-jähriges Aufbaugymnasium).

Weitere 81 öffentliche Gemeinschaftsschulen für 2014/15 genehmigt

Zum kommenden Schuljahr 2014/15 sollen in der dritten Tranche laut Kultusministerium nochmals 81 öffentliche Gemeinschaftsschulen hinzukommen, darunter voraussichtlich zwölf bisherige Realschulen. Damit würde die Zahl der öffentlichen Gemeinschaftsschulen auf 209 steigen – und »im 3. Jahr nach der Einführung der neuen Schulart ein flächendeckendes Netz an Gemeinschaftsschulen« existieren.7

Die weitere Entwicklung der Schullandschaft in Baden-Württemberg dürfte neben der demo­grafischen Komponente davon abhängen, ob sich die Akzeptanz der Gemeinschaftsschulen in den nächsten Jahren noch steigern wird,8 aber auch davon, wie die weiterführenden Schularten Realschule und Gymnasium mit den Folgen der Abschaffung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung (stärkere Heterogenität der Schülerschaft) zurechtkommen werden.

1 Dienststellenzählung. Außenstellen und Stammschulen einer Schulart werden nicht getrennt gezählt.

2 Baumert, Jürgen/Stanat, Petra/Watermann, Rainer: Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen – Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000, Wies­baden, 2006.

3 Institut zur Qualitätssicherung im Bildungswesen: IQB-Ländervergleich 2012, Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I, 2013, Münster/New York/München/Berlin, S. 409.

4 Koalitionsvertrag zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD. Baden-Württemberg 2011 – 2016: Der Wechsel beginnt.

5 Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) in der Fassung vom 1. August 1983, zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. April 2012 (GBl. S. 209); Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.): Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg – eine Schulart stellt sich vor. www.kultusportal-bw.de/,Lde/831540 [Abruf vom 22.02.2014].

6 www.kultusportal-bw.de/,Lde/831540 [Abruf vom 22.02.2014].

7 Pressemitteilung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport vom 10.02.2014, www.kultusportal-bw.de/,Lde/Startseite/Presse/81+neue+Gemeinschaftsschulen [Abruf vom 27.03.2014].

8 So hatten zum Schuljahr 2013/14 nur 10 % der Übergänger von einer Grundschule auf eine Gemeinschaftsschule eine Grundschulempfehlung, die den Besuch eines Gymnasiums beinhaltete. Vergleiche: Pressemitteilung Nr. 25/2014 des Statistischen Landesamtes vom 27. Januar 2014, www.statistik-bw.de/Pressemitt/2014025.asp?BildungKultur [Abruf vom 27.03.2014].