:: 6/2014

Alterssicherung und die Entwicklung in Europa

Bericht über die Jahrestagung des Forschungsnetzwerkes Alterssicherung (FNA) 2014

Wie viel politischen und rechtlichen Einfluss soll Europa, die Europäische Union auf die sozialen Sicherungssysteme der Nationalstaaten haben? Die Entwicklung der Alterssicherungssysteme vor und während der Finanzkrise zeigt ein Zusammenspiel von nationaler Eigenständigkeit und Kooperation auf europäischer Ebene. Ein Ergebnis ist eine zunehmende Angleichung der Alterssicherungssysteme bei Beibehaltung zentraler Unterschiede. Ein weiteres Ergebnis ist der gestiegene Schutz des Einzelnen durch europäische Gerichte vor Gefährdungen infolge nationalstaatlicher Reformen der Alterssicherungssysteme.

Europa ist auch ein sozialer Auftrag, seine rechtliche Form als Europäische Union ein sozialpolitisches Projekt. Winston Churchill forderte in Zürich am 19. September 1949 die Vereinigten Staaten von Europa, in denen »seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße genössen«. Denn »nur auf diese Weise (würden) Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen«.1 Schon der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 enthielt in den Artikeln 2 bis 4 sozialpolitische Forderungen nach Hebung der Lebenshaltung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter sowie Schutz der Verbraucher. Auch die in den folgenden Jahrzehnten geschlossenen Gründungsverträge enthalten wirtschaftliche Freiheiten und wirtschaftspolitische Grundsätze, die umfassend für alle Bereiche des Lebens gelten. Gleichzeitig verfügt die Europäische Union (EU) bis heute nur über begrenzte rechtliche und faktische Möglichkeiten zur Ausformung sozialstaatlicher Strukturen. Der soziale Schutz bleibt im Verantwortungsbereich der Staaten. Der Sozialstaat gilt als nationale Errungenschaft und nationale Angelegenheit.2 Doch unbestritten ist, dass spätestens seit dem Vertrag von Lissabon – 2009 in Kraft getreten – und im Zuge dessen mit den sozialen Rechten der Europäischen Grundrechtecharta die politische Gestaltungsmacht der EU auf die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten erheblich gewachsen ist, ohne jedoch die einzelstaatlichen Gepflogenheiten im Kern zu bestimmen.3 Der sozialpolitische Einfluss der EU auf ihre Mitgliedstaaten zeigt sich vor allem in einer eigenständigen Antidiskriminierungspolitik, in der Unterstützung besonders bedürftiger Personengruppen und bei der rechtlichen Durchsetzung des gleichen Zugangs zu Sozialleistungen. Die Gerichtsbarkeit der EU kontrolliert die Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten in ihren Sozialleistungssystemen. Die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) reichen mittlerweile weit in das nationale Sozialrecht hinein und stellen unionsrechtliche Anforderungen beispielsweise an Freizügigkeit, Aufenthalt und Zugang zu Sozialleistungen mit rechtlichen und finanziellen Folgen etwa für die einzelstaatlichen Rentenversicherungs- und Grundsicherungssysteme.4

Dieser politische und rechtliche Rahmen, ergänzt um die jüngsten Rentenreformen in Deutschland und der weiterhin virulenten weltweiten ökonomischen Krise, bildete den Hintergrund für die Jahrestagung des Forschungsnetzwerkes Alterssicherung (FNA) Anfang dieses Jahres in Berlin. Das Thema lautete »Alterssicherung und die Entwicklung in Europa« und wurde anhand von drei Punkten behandelt:

  • Jüngere Entwicklungen der Alterssicherung in Europa
  • Auswirkungen der europäischen Politik auf die deutsche Sozialpolitik
  • Entwicklung von Solidarität in Europa.

Auswirkungen der Finanz- und Schuldenkrise auf die Alterssicherungssysteme

In seinem Überblick über die systematische Rechtsentwicklung der Alterssicherungssysteme in Europa betont Ulrich Becker (Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik) zunächst zwei Sachverhalte. Erstens: Die Reform der Alterssicherungssysteme ist eine Dauerbaustelle. Nicht erst seit der Finanzkrise, sondern schon seit den 1990er-Jahren reformieren die meisten europäischen Staaten laufend ihre gesetzlichen Rentensysteme. Zweitens: In den europäischen Staaten gibt es eine große Anzahl und Vielfalt bei den Alterssicherungssystemen. Grundformen sind die öffentlich-rechtliche, umlagefinanzierte Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge und die private Vorsorge. Erst das Zusammenspiel dieser drei Bestandteile bestimmt das Niveau der Sicherung. Allerdings unterscheiden sich die Mischungsverhältnisse zwischen den einzelnen Vorsorgesystemen von Staat zu Staat erheblich. Gleichzeitig gleichen sich die Systeme zunehmend an als Folge der EU-Mitgliedschaft und der Koordinierung der Staaten.5

Reformen schon vor der Finanzkrise

Umfassende nationale Reformen, schon lange vor der Schulden- und Finanzkrise, weisen trotz unterschiedlicher Hintergründe und Motive gewisse Gemeinsamkeiten auf.

  • Die Alterssicherung stützt sich zunehmend auf mehrere Säulen. Der Aufbau und Ausbau betrieblicher und privater Vorsorge soll vor allem Leistungskürzungen in den staatlichen umlagefinanzierten Systemen auffangen.
  • Der Bezug zwischen Beiträgen und Leistungen, die sogenannte Beitragsäquivalenz, wurde gestärkt, und damit das Versicherungsprinzip. Für die Berechnung der Höhe der Renten wurden Beitragszeiten ausgedehnt oder beitragsfreie Zeiten gekürzt oder nicht mehr anerkannt.6
  • Für die Erstberechnung der Renten oder deren Anpassung sind Faktoren eingeführt worden, welche die demografischen Entwicklungen berücksichtigen.
  • Die Altersgrenzen für den gesetzlichen Rentenzugang sind in vielen Staaten angehoben worden aufgrund einer politisch gewollten Gleichstellung von Frauen und Männern, aber auch wegen der steigenden Lebenserwartung. Das künftige Regelrentenalter ist in immer mehr europäischen Ländern 67 Jahre oder älter. Dabei ist nach Becker nicht immer ausreichend der Zusammenhang zur Arbeitsmarktpolitik und der Sicherung bei Erwerbsunfähigkeit sowie zur Gesundheitspolitik beachtet worden. So gehen die meisten Beschäftigten vor dem jeweils gültigen gesetzlichen Renteneintrittsalter mit entsprechenden Abschlägen in Rente. Ergänzend zu Becker sei an dieser Stelle auch angemerkt, dass bei der zunehmenden Angleichung der Altersgrenzen demografische Unterschiede zwischen den Staaten wohl nicht ausreichend berücksichtigt werden. Beispielsweise hat Frankreich mit seinen vergleichsweise hohen Geburtenraten nicht die gleichen Notwendigkeiten, das Renteneintrittsalter an die Regelungen anzupassen, wie sie derzeit beispielsweise in Deutschland gelten. Berücksichtigte man die demografischen Unterschiede, so könnte in Frankreich das mögliche Renteneintrittsalter »bis zu mehr als 4 Jahren unter dem in Deutschland liegen«.7

Die Reformen erschweren in ihrer Tendenz eine Frühverrentung und stellen die Nachhaltigkeit der (umlagefinanzierten) Rentensysteme sicher. Gleichzeitig federn Ausnahmen soziale Härten ab. So führten einige Staaten eine Flexibilisierung der Altersgrenzen und einen vorgezogenen Bezug unter bestimmten Bedingungen wie Versicherungszeiten, Mindestalter und Entwicklung der Lebenserwartung ein.

Finanzkrise beschleunigt Reformen

Welche Auswirkungen hat nun die Finanz- und Schuldenkrise auf die europäischen Alterssicherungssysteme besonders in Südeuropa? Hier sind Maßnahmen zu unterscheiden, die kurzfristig zur Sicherung der Systemstabilität beitragen, von jenen, die langfristig die Nachhaltigkeit der Alterssicherungssysteme gewährleisten. Ad hoc gab es starke Einschnitte als Teil der vereinbarten Konsolidierungsprogramme der Europäischen Kommission. Sowohl in Griechenland als auch in Spanien löste erst die Schuldenkrise zentrale Reformen aus. Daneben wurden zum Beispiel in Italien und Portugal bereits vor der Krise durchgesetzte Reformen korrigiert und beschleunigt.8 Zur kurzfristigen Sicherung wurden Renten eingefroren oder gekürzt. Die mittel- und osteuropäischen Staaten (zum Beispiel Ungarn) stärkten die staatlichen umlagefinanzierten Systeme durch Verschiebungen von erworbenen Ansprüchen aus der kapitalgedeckten Vorsorge. Gleichzeitig schränkten sie die umlagefinanzierten Leistungen ein und stärkten deren Nachhaltigkeit. Notwendige Versicherungszeiten für den Rentenzugang wurden ausgedehnt, das Standardrentenalter erhöht und Anpassungen laufender Renten verringert.

Die Reformen haben Gefährdungen ausgelöst. Auf dem Spiel stehen etwa der Schutz vor Umwidmung von Anwartschaften aus der kapitalgedeckten Vorsorge oder der Schutz vor Rentenkürzungen, und damit Eigentums- und Sozialrechte des Einzelnen. Die nationalen Gerichte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verhinderten in ihrer Rechtsprechung zwar nicht Reformen, aber sie prüften sie auf ihre Verhältnismäßigkeit und ihre Untergrenze.9 Hervorzuheben sind die Entscheidungen des EGMR zur Sicherung eines Existenzminimums im Alter durch nationalstaatliche Mindestleistungen. In ihnen zeigt sich der gewachsene Einfluss Europas auf die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten, und damit der Schutz des Einzelnen durch Europa vor nationalstaatlichen Entscheidungen.10

Die jüngsten Rentenformen senken fast überall in Europa das Sicherungsniveau und verringern dadurch den Abstand zwischen Regelsicherung und Mindestsicherung. Indem die Reformen gleichzeitig das Versicherungsprinzip stärken, nach dem die Höhe der Rentenleistungen von den Beitragszahlungen abhängt, ist dort ein ausreichendes Sicherungsniveau zusätzlich gefährdet, wo eine Erwerbsbeteiligung zu keinen dauerhaften und ausreichenden Erwerbseinkommen führt. Durch den derzeitigen Wandel der Alterssicherung und Alterseinkommen in Europa entsteht nach Bernhard Ebbinghaus (Universität Mannheim) ein Zielkonflikt zwischen finanzieller und sozialer Nachhaltigkeit besonders in den staatlichen Rentensystemen. Europa verfolgt trotz aller Anpassungen, hauptsächlich durch das Einführen der Mehrsäulenarchitektur, weiterhin unterschiedlich das Doppelziel von Armutsvermeidung und Einkommenssicherung im Alter. Ungeachtet dessen bleiben jedoch die gleichen Gefährdungen: die Instabilität und Pluralisierung der individuellen Biografien mit Blick auf Familie, Erwerbstätigkeit und individuelle Vorsorge. Zu nennen sind hier beispielsweise Scheidung, Arbeitslosigkeit und die Unterbrechung der Prämienzeiten. Hinzu kommt die Trendumkehr in der Frühverrentung mit der Notwendigkeit eines längeren Arbeitslebens. Die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen ist in den meisten europäischen Staaten im letzten Jahrzehnt gestiegen (Schaubild 3 und 4). All dies erfordert politische Maßnahmen, wie die Einführung/Fortführung einer Mindestsicherung, eine Integrationspolitik für ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, welche ihre Beschäftigungsfähigkeit verbessert und erhält, sowie gesetzliche Regelungen für den Zugang und die Ausgestaltung privater Zusatzversicherungen. Diese Maßnahmen entscheiden je nach ihren Ausprägungen über soziale Ungleichheiten und über die Gefahr einer Individualisierung finanzieller und sozialer Risiken.

Auswirkungen der europäischen Politik auf die deutsche Sozialpolitik

Auf eine weitere Gefährdung hat Gustav Horn (Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung) aufmerksam gemacht, als es im zweiten Teil der Tagung um die Auswirkungen der europäischen Politik auf die deutsche Sozialpolitik ging. Die Krise des Euroraums ist eine Wirtschafts-, Finanz- und Staatschuldenkrise, die zusammen zu einer Vertrauenskrise geführt haben. Die bisherige Bewältigung dieser Krise hat Folgen für die Alterssicherungssysteme. Die Sparmaßnahmen der Wirtschaft durch ausbleibende Investitionen, Entlassungen und Lohnzurückhaltungen, die Sparanstrengungen der Staatshaushalte durch Reduzierung der Defizite und Zuschüsse, die Zurückhaltung der Finanzsysteme bei der Kreditvergabe sowie eine expansive Geldpolitik mit niedrigen Zinsen führen insgesamt zu niedrigen Renten in den staatlichen Umlagesystemen und zu historisch niedrigen Renditen bei den Kapitaldeckungsverfahren. Sind die staatlichen Umlagesysteme bislang dennoch weniger von der Krise betroffen, so leiden nach Auffassung von Horn besonders die Kapitaldeckungsverfahren unter den niedrigen Zinsen. Bei zahlreichen Lebensversicherungen, die weiterhin zentral für die private Altersvorsorge sind, stellt mittlerweile schon der Garantiezins ein großes Problem dar. Deshalb müssten nach Horn die bisherigen Sparmaßnahmen ergänzt werden durch Investitionen, also durch Ausgaben des Staates, der Wirtschaft und des einzelnen Beschäftigten in Infrastruktur und Wissen. Solche Investitionen dürften nicht nur zu höheren Renditen in der Zukunft führen, sondern auch zu höheren Renditen und Renten in der Gegenwart.

Intensivere Kooperation der EU-Staaten

Auf die sozialpolitischen Folgen der europäischen Steuerungspolitik ging ebenso Ralf Jakob von der Europäischen Kommission ein. Neben den bereits getroffen Konsolidierungsmaßnahmen mit Vorschlägen und möglichen Sanktionen auch für die nationalen Rentensysteme beabsichtigen zahlreiche neue Instrumente und Frühwarnsysteme der EU, die wirtschafts- und sozialpolitische Koordinierung der Mitgliedstaaten zu stärken, um derartige Krisen rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Hervorzuheben ist hier das 2010 eingeführte »Europäische Semester«, das sicherstellt, dass die Mitgliedstaaten ihre haushalts- und wirtschaftspolitische Planung zu bestimmten, über das ganze Jahr verteilten Zeitpunkten mit den EU-Partnern erörtern. Die Kommission kann dadurch zeitnah politische Leitlinien vorlegen, bevor auf nationaler Ebene Entscheidungen fallen. Außerdem hat die Europäische Kommission 2012 ein Weißbuch zu angemessenen, sicheren und nachhaltigen Pensionen und Renten veröffentlicht. Das Augenmerk liegt darauf, was die EU und die Mitgliedstaaten tun können, um die wesentlichen Herausforderungen in den Ruhestandssystemen zu bewältigen. Des Weiteren ist die langfristige EU-Wachstumsstrategie »Europa 2020« zu nennen, mit der die Europäischen Kommission beobachtet, ob die Mitgliedstaaten auf die dort festgelegten Ziele für Beschäftigung, Bildung, Innovation, Klimaschutz und Armutsminderung hinarbeiten.

Derzeit läuft das Europäische Semester 2014. Die länderspezifischen Empfehlungen bieten konkrete Ratschläge auch für die nationale Rentenpolitik an. Im Mittelpunkt steht die nachhaltige Finanzierbarkeit der Rentenversicherungen mit ihren Risiken für die Haushalte der Staaten. An Bedeutung gewonnen hat die Angemessenheit der Renten vor dem Hintergrund eines steigenden Renteneintrittsalters und neuer Armutsrisiken im Alter. In den prüfenden Blick der Europäischen Kommission rücken daneben zunehmend andere Faktoren, die das reale Einkommen und den Lebensstandard der Menschen im Alter beträchtlich beeinflussen. Hierzu gehören Vermögen und Hausbesitz, der »Gender Pension Gap«, das Zusammenleben im Haushalt, Ermäßigungen etwa bei der Miete, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei kulturellen Angeboten und schließlich für die ältere Generation besonders wichtig: Leistungen der Gesundheits- und Pflegedienste.

Solidarität und Demokratie in Europa

Die nationale Rentenpolitik, lange Zeit auf europäischer Ebene ein Tabuthema, ist jetzt dort ein zentrales Thema. Doch wie viel europäische Sozialversicherung braucht es? Anregungen für eine Antwort auf diese Frage können aus dem dritten Teil der Tagung zu Solidarität und Demokratie in Europa gewonnen werden. Solidarität in Europa findet zuerst in der Familie statt, etwa in der gegenseitigen Unterstützung zwischen Eltern und Kindern, zwischen der mittleren Generation und der älteren Generation. Die Unterstützung Älterer durch ihre Kinder reicht von der alltäglichen sporadischen Hilfe bis zu einer intensiven Pflege. Die Unterstützung der Familienmitglieder, vornehmlich der Töchter, für die ältere Generation ist sachlich, zeitlich und sozial in Europa sehr unterschiedlich ausgeprägt (Martina Brandt, Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik). Ursächlich dafür sind neben kulturellen und ökonomischen Unterschieden vor allem der jeweilige Ausbau des Sozialstaats und die damit einhergehenden Dienstleistungen. So zeigt sich in den skandinavischen Staaten, dass ihre umfangreichen Dienstleistungen entlastend wirken, sodass die Hilfe der Familienangehörigen weniger zeitintensiv, aber eher häufiger ist als in Südeuropa mit seinen eher rudimentären Sozialsystemen. Gleichzeitig wird die Hilfe im Norden Europas eher als freiwillig wahrgenommen und im Süden Europas eher als verpflichtend. Im Zusammenspiel von Familie und Staat kann dieser weniger durch ersetzende, sondern mehr durch ergänzende Hilfe die Solidarität der Familienmitglieder untereinander stärken. Art und Umfang der »geteilten Verantwortung« für die Unterstützung Älterer bedingen die Motivation zu helfen, sodass zum Beispiel auch Söhne eher helfen. Eine solche Arbeitsteilung zwischen Staat und Familie ist dort wichtig, wo die Erwerbsbeteiligung der Frauen zunimmt und die Renten sinken. Wo es funktioniert, können die anderen Staaten in Europa von dieser »good practice« lernen.

Die Unterstützung älterer Menschen durch andere Menschen folgt aus der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen untereinander. Sie begründet die Solidarität, die wiederum das »Rückgrat der sozialrechtlichen Berechtigungen und Verpflichtungen« ist (Eberhard Eichenhofer, Friedrich-Schiller-Universität Jena). Das Alter ist als soziales Risiko in der Grundrechte-Charta der EU gesetzlich anerkannt; und das Recht auf soziale Sicherheit im Alter verlangt geachtet, geschützt und verwirklicht zu werden. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, auskömmliche Leistungen durch die Errichtung von Sozialversicherung, Beitragserhebung und Verwaltung für dieses Risiko zu schaffen. Die Demokratie kommt ins Spiel, da die Durchsetzung des individuellen Rechts auf soziale Sicherheit sich immer auch »an andere Menschen oder an Gruppen richtet, die freiwillig oder aufgrund Gesetz verbunden sind«. Das Recht auf eine gesetzliche Alterssicherung ist, so Eichenhofer, »auf die Vergemeinschaftung gleichartig Gefährdeter gerichtet und zu richten«. Die Rechtsprechung des EGMR begreift die sozialen Rechte als Eigentum, das als Individualrecht stets sozial gebunden ist, »weil es mit den Eigentumsrechten der anderen wie den Belangen der Allgemeinheit in Einklang steht und der Gebrauch der Freiheit des einen mit den Freiheiten des anderen verträglich zu machen ist«. Wie dies im Einzelnen auszugestalten ist, obliegt den Mitgliedstaaten und folgt den jeweiligen konkreten Vorstellungen von öffentlicher Wohlfahrt und der jeweiligen Leistungsfähigkeit der sie ermöglichenden Gesellschaft. Diese nationale Eigenständigkeit erklärt die Unterschiede und die Vielfalt der sozialen Sicherungssysteme in Europa. Durch ihre Mitgliedschaft in der EU haben sich die Staaten verpflichtet, sich an sozialen Standards zu messen. Die EU überprüft und sichert durch ihre Einrichtungen mittlerweile umfassend, dass die Staaten die von ihnen übernommenen europarechtlichen Garantien befolgen. So ist eine Diskriminierung in den nationalen Alterssicherungssystemen aufgrund der Staatsangehörigkeit strikt untersagt. Bei Kürzungen sozialer Leistungen wachen Gremien der EU darüber, dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt, dass sie beispielsweise nicht zur einseitigen Belastung der Leistungsempfänger unter Verschonung der Leistungsträger führen.

In dem die Tagung abschließenden Vortrag ergänzte Ingolf Pernice (Humboldt-Universität zu Berlin) die Aspekte Solidarität und Demokratie in Europa. Solidarität beruht nach seiner Auffassung nicht auf Nächstenliebe, sondern auf Eigennutz. Es ist das Versprechen, sich gegenseitig zu unterstützen. Weil der Einzelne bei Bedürftigkeit auch geschützt werden möchte, verspricht er zu helfen, solange er nicht bedürftig ist. Die Unterstützung folgt dem Subsidiaritätsprinzip als Spiegel einer gestuften Solidarität. So sind bestimmte Aufgaben auf europäischer Ebene leichter zu handhaben als in der Familie und auf nationaler Ebene. Die Vergemeinschaftung der Aufgaben beruht deshalb nicht auf freiwilliger, sondern auf notwendiger Solidarität, die vertraglich festgelegt und durchsetzbar gemacht ist. Die Demokratie in der Union löst damit auch Defizite in den Mitgliedstaaten.

Im Übrigen ist eines auf der Tagung deutlich sichtbar geworden: Trotz Krise und krasser Ungleichgewichte in der EU ist das Zusammenspiel von autonomem nationalem Handeln und Kooperation auf EU-Ebene beispielhaft für erfolgreiche Globalisierung. Oder mit den Worten einer Amerikanerin, die Europa von außen betrachtet: »Postwar Europe has been the most politically benign and prosperous example of globalization that the world has ever known, everyone should hope it does.«”11

1 www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Geschichte/bis1950/Pdf/Churchill_Rede_Zuerich.pdf

2 Beispielsweise sucht man vergeblich im Rentenversicherungsbericht 2013 der Bundesregierung die Worte »Europa« und »europäisch«.

3 Siehe hierzu auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, nach dem die sozialpolitischen Entscheidungen primäre Aufgabe der Mitgliedstaaten bleiben und in eigener Verantwortung der Gesetzgebungsorgane getroffen werden müssen; BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. Juni 2009, Absatz-Nr. (1 – 421).

4 Siehe zum Beispiel das Urteil des EuGH, Rs. C-140/12 vom 19. September 2013, www.curia.europa.eu; sowie den von der Europäischen Kommission im Januar 2014 bereitgestellten Leitfaden zur Feststellung des gewöhnlichen Aufenthaltsortes für die Zwecke der sozialen Sicherheit, www.europa.eu

5 Siehe auch Becker, Ulrich (2012): Leistungen für langjährige Rentenversicherte in Südeuropa – eine rechtsvergleichende Analyse. Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht, 26 (1): S. 1–120.

6 Zum Beispiel werden in Deutschland seit 2009 Zeiten einer Schul- und Hochschulausbildung nicht mehr bei der Berechnung der Rentenhöhe anerkannt.

7 Schreiber, Sven/Beyerle, Hubert (2014): Europas künftige Rentenkluft. IMK Policy Brief. Düsseldorf. www.boeckler.de/imk_5036.htm

8 Zu den Reformen in den einzelnen Staaten siehe Hinrichs, Karl/Brosig, Magnus (2013): Die Staatsschuldenkrise und die Reformen von Alterssicherungssystemen in europäischen Ländern. ZeS-Arbeitspapier, No. 2 sowie OECD (2013): Pensions at a Glance 2013: OECD and G 20 Indicators. OECD publishing.

9 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist eine Institution des Europarats, der Europäische Gerichthof (EuGH) in Luxemburg ist das oberste Gericht der Europäischen Union. Alle Mitgliedstaaten der EU sind Vertragsparteien des EGMR.

10 Zum Beispiel: Koufak and Adedy v. Greece (dec.) – 57665/12, 57557/12 ECHR (7.5.2013) sowie Da Conceição Mateus and Santos Januário v. Portugal (dec.) – 57725/12, 62235/12 ECHR (8.10.2013).

11 Foroohar, Rana: How to end the crisis now. Time, 15. Januar 2014.