:: 10/2014

Von der Vergangenheit in die Zukunft

Rahmenbedingungen und methodische Herausforderungen der regionalen Bevölkerungsvorausrechnung auf Basis 2012

Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg führt in mehrjährigen Abständen eine Aktualisierung der regionalen Bevölkerungsvorausrechnungen durch. Die aktuellsten Ergebnisse wurden Ende Juli 2014 der Presse vorgestellt und auch in einem Beitrag im vorangegangenen Monatsheft präsentiert. Gegenüber vorausgegangenen regionalen Vorausrechnungen wurde dieses Mal eine methodische Neuausrichtung vorgenommen. Dies war zum einen wegen Besonderheiten in der Datenlage und der regionalen Entwicklung erforderlich. Zum anderen wurde angestrebt die Datenbasis für die regionale Planung zu verbessern und Ergebnisse für alle Gemeinden zur Verfügung zu stellen. Dieser Beitrag stellt differenziert die Annahmen und angewendeten Methoden der aktuellen regionalen Bevölkerungsvorausrechnung vor.

Regionale Bevölkerungsvorausrechnung bis zum Jahr 2030

Ausgangspunkt für die neue regionale Bevölkerungsvorausrechnung ist der Bevölkerungsstand in den Kommunen zum 31. Dezember 2012 gegliedert nach 100 Altersjahren und Geschlecht. Die Daten stammen aus der Statistik der Bevölkerungsfortschreibung auf Basis des Zensus 2011.1 Die hier detailliert vorgestellten Regionalergebnisse orientieren sich an den Annahmen zu Sterblichkeit, Geburten und Wanderungsgeschehen der Hauptvariante der aktuellen Landesvorausrechnung.2 Die regionale Vorausrechnung erfolgt allerdings nur bis zum Jahr 2030. Folgende Bedingungen stellen den äußeren Rahmen:

  • Hinsichtlich der Lebenserwartung wurde von einem weiteren Anstieg bis zum Jahr 2030 um ca. 2 Jahre ausgegangen. Für einen neugeborenen Jungen ergäbe sich so für 2030 eine Lebenserwartung von 81,4 Jahren und für ein neugeborenes Mädchen von 85,7 Jahren.
  • Es wurde von der Konstanz des derzeitigen Geburtenniveaus von knapp 1,4 Kindern je Frau ausgegangen. Da die Entwicklung der Geburtenziffern differenziert nach Alter der Mutter nach wie vor eine deutliche Entwicklung hin zu späteren Geburten aufweist, wurden die altersspezifischen Geburtenraten etwas in diese Richtung dynamisiert. Der Dynamisierungszeitraum umfasst 10 Jahre, danach bleiben die Raten auf dem dann erreichten Stand. Bei konstanter Höhe der zusammengefassten Geburtenziffer ergibt sich insgesamt eine Verschiebung des Durchschnittsalters der Mütter bei der Geburt um etwa 1,2 Jahre.
  • Für das erste Vorausrechnungsjahr, das Jahr 2013, wurde in der Hauptvariante von einem Wanderungsgewinn von 70 000 Personen ausgegangen. Orientiert am längerfristigen Trend wurde für die Folgejahre der Wanderungsgewinn linear abgesenkt, bis zum Vorausrechnungsjahr 2020 auf 30 000. Für die weiteren Vorausrechnungsjahre bis 2030 wurde konstant ein Wanderungsgewinn von 20 000 Personen jährlich angenommen.

Die Vorausrechnungsergebnisse für das Land nach Altersjahren und Geschlecht wurden in der Regionalrechnung als Eckwerte vorgegeben und limitieren insofern die regionale Entwicklung. Es handelt sich somit um eine Top-Down-Rechnung. Für die Berechnung der regionalen Bevölkerungsentwicklung diente das vom KOSIS-Verbund entwickelte Programm SIKURS als technische Plattform.3

Regionalisierung ist die besondere Herausforderung

Je kleinräumiger vorausgerechnet werden soll, desto schwieriger ist das Definieren der weiteren Annahmen und das Modell wird komplexer. Die aktuell vorliegende regionale Bevölkerungsvorausrechnung stand darüber hinaus noch vor besonderen Herausforderungen. Zum einen handelt es sich um die erste Bevölkerungsvorausrechnung nach dem Zensus; dabei waren zum Zeitpunkt der Durchführung der Berechnungen nur für 2 Jahre auf Zensusbasis fortgeschriebene Bevölkerungszahlen verfügbar, nämlich die Bestände zum Jahresende 2011 und 2012. Zum anderen traten in diesen beiden Jahren auch noch Sondereffekte auf, die das regionale Wanderungsgeschehen beeinflussten. Im Jahr 2011 war es die Aussetzung der Wehrpflicht und 2012 der doppelte Abiturientenjahrgang, die jeweils zu einer Kumulation der Ausbildungsstarter und damit stärkeren Wanderungsbewegungen dieser Altersgruppen führten. So stieg auch die Zahl der Studienanfänger im ersten Hochschulsemester und entsprechend stark war der Zuzug an den Hochschulstandorten. Von 57 500 im Wintersemester 2010/11 wuchs ihre Zahl auf 67 900 im Wintersemester 2012/13 an. Im Wintersemester 2013/14 sank sie nur leicht auf 65 700.4

Traditionell wird die Bevölkerungsvorausrechnung im Statistischen Landesamt mit einem Status-quo-Ansatz gerechnet. Das heißt, die relative Entwicklung innerhalb des Landes wird, gestützt auf einen zurückliegenden Zeitraum von mehreren Jahren, in die Zukunft fortgeschrieben. In der aktuellen Vorausrechnung wurden unterschiedliche Stützzeiträume verwendet, um die oben skizzierten Sondereffekte angemessen zu berücksichtigen.

Die für die Berechnung der Geburten nach Alter der Mutter benötigten Geburtenhäufigkeiten beruhen, ebenso wie die Sterbewahrscheinlichkeiten, auf dem Stützzeitraum 2011 und 2012. Das heißt, entsprechend der Status-quo-Logik, dort wo bisher ein hohes Geburtenniveau vorlag, wird auch für die Zukunft davon ausgegangen. Durch die weiter vorne schon beschriebene Altersdynamisierung der Geburtenhäufigkeiten und Sterbewahrscheinlichkeiten wird dem noch eine Entwicklungskomponente hinzugefügt. Es wird eben nicht nur das Niveau sondern auch die gemessene Verschiebung von Geburten und Sterbefällen in ein höheres Lebensalter, wenn auch in abgeschwächter Form, in das Modell integriert.

Für die Modellierung der Wanderungsannahmen waren die oben beschriebenen Sondereffekte der Jahre 2011 und 2012 zu berücksichtigen. Besondere Bedeutung hat dies für die Hochschulstandorte. Sie haben in den Jahren 2011, 2012 und voraussichtlich auch 2013 von ungewöhnlich hoher Zuwanderung profitiert. Bei einer Verwendung des Stützzeitraums 2011 und 2012 würde das für alle Vorausrechnungsjahre unvermindert fortgeschrieben. Nach aktuellem Kenntnisstand ist das aber nicht auf Dauer zu erwarten. Für das erste Vorausrechnungsjahr, also das Jahr 2013, wurde daher die Fortsetzung der Wanderungsverhältnisse aus den Jahren 2011 und 2012 angenommen, da ähnlich viele Studienanfänger gezählt wurden wie 2012. Damit dürfte der Überhang aus dem doppelten Abiturientenjahrgang weitgehend abgebaut sein. Für die Berechnung der Wanderungsraten innerhalb des Landes ab dem Jahr 2014 wurde dann auf die Jahre 2006 bis 2010 zurückgegriffen.5 Die Wanderungsraten dieser Jahre sind von den erwähnten Sondereffekten unbeeinflusst und berücksichtigen dennoch die in den letzten Jahren gestiegene Zuzugsneigung in die Großstädte.6

Als Echo auf die durch die gestiegenen Studienanfängerzahlen verstärkte Zuwanderung an Hochschulstandorte ist für die Jahre nach 2014 mit höheren Absolventenzahlen und damit auch verstärkter Abwanderung aus diesen Standorten zu rechnen. Analysen haben gezeigt, dass derzeit keine erhöhte Bleibetendenz am Studienort festgestellt werden kann.7 Für die Vorausrechnungsjahre 2014 bis 2018 wurden die Wanderungsraten daher modifiziert. Zunächst wurde errechnet, wie stark die Zuwanderung im Studienanfängeralter in den Jahren 2011 und 2012 von den Vorjahren abwich. Die Abweichung wurde dann auf die Abwanderungsraten anteilig aufgeschlagen. Das heißt, dass für die Vorausrechnung der Wanderungen innerhalb des Landes je Gemeinde drei unterschiedliche Raten eingesetzt wurden. Somit wird kein reiner Status-quo-Ansatz verfolgt, sondern sich bereits abzeichnende Folgen der Sondereffekte durch die Aussetzung der Wehrpflicht und den doppelten Abiturientenjahrgang werden antizipiert.

Ohne Typisierung geht es nicht

Geburten und insbesondere Wanderungen schwanken im Zeitablauf deutlich und je kleinräumiger die Betrachtung ist, umso mehr. Um eine belastbare Basis für die Berechnung der entsprechenden Raten für die Vorausrechnung zu haben, ist daher eine hohe Zahl von Fällen und eine hohe Basisbevölkerung notwendig. Das heißt, es können nicht für jede einzelne Gemeinde Raten berechnet werden. Entsprechend wurden die Gemeinden zu Typen mit »ähnlichen Fällen« zusammengefasst. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Gemeinden innerhalb eines Typs im Hinblick auf das Geburtenverhalten bzw. das Wanderungsgeschehen möglichst homogen sind, die gebildeten Typen sich aber deutlich voneinander unterscheiden, damit die regionalen Besonderheiten ausreichend abgebildet werden können. Erstmals erfolgte die Typisierung im Rahmen einer Vorausrechnung auf der Basis von Strukturmerkmalen der Gemeinden.

Im Wesentlichen wurden die Typen auf der Basis einer Clusteranalyse8 zusammengestellt. In vorab durchgeführten Testrechnungen wurden, bezogen auf die Altersstruktur der Wanderungssalden, drei unabhängige Variablen als besonders erklärungsrelevant und besonders trennscharf für die Wanderungen herausgelöst und für die abschließende Clusterung herangezogen. Dabei handelt es sich um den Anteil der Einfamilienhäuser am Wohnungsbestand, das Arbeitsplatzangebot in der Gemeinde und im Umfeld (gewichtet nach Entfernung) sowie die Platzdichte in Senioreneinrichtungen. Letztere ist die für die Wanderung hoher Altersgruppen besonders relevante Größe. Um speziellen funktionalen Aspekten gerecht zu werden, wurden die Stadtkreise, Oberzentren und sonstige größere Hochschulstandorte getrennt betrachtet und im Zusammenwirken mit den Wanderungssalden nach Altersgruppen separat analysiert. Stuttgart und Karlsruhe verfügten über genug Ausgangsfälle, um stabile Raten zu berechnen. Sie werden darum als eigene Typen geführt. Alle anderen Städte wurden auf Basis der gefundenen Ähnlichkeit zu Typen zusammengefasst.9 Die Charakterisierung der Wanderungstypen ist der Übersicht, die räumliche Verteilung dem Schaubild 1 zu entnehmen.

Hinter dieser Typisierungsmethode steht die Annahme, dass es strukturelle Faktoren gibt, die das Wanderungsverhalten in erheblichem Maße beeinflussen. Dies konnte schon bei Analysen mit den Raumkategorien bzw. der Zentrum-Umland-Struktur des Landesentwicklungsplanes (LEP 2002) gezeigt werden.10 Mittels der hier vorgenommenen Clusteranalyse konnten Strukturfaktoren identifiziert werden, die insbesondere das Wanderungsgeschehen deutlicher beeinflussen als die dort eingesetzten Raumkategorien. Welche Bevölkerungsentwicklung für die jeweiligen Typen ausgehend vom Bevölkerungsstand 2012 vorausgerechnet wurde, ist in Schaubild 2 dargestellt.

Vergleichbar wurde bei der Typisierung der Gemeinden nach Geburten vorgegangen. Auch hier brachte die beschriebene Clusteranalyse trennschärfere Typen hervor als zum Beispiel Typisierungen und Clusterungen auf der Basis von Raumkategorien und Zentralfunktionen des LEP 2002 und/oder mittels weiterer und anderer Indikatoren (zum Beispiel Teilzeitquoten oder Betreuungsangebot). Nicht von Bedeutung für die Geburtenentwicklung ist die Pflegeplatzdichte, sodass die in der Übersicht ausgewiesenen Wanderungstypen 8 und 10 aufgrund der vergleichbaren Geburtenentwicklung zu einem Typ zusammengefasst wurden. Stattdessen wurde ein Typ aus Städten mit außergewöhnlich niedrigen Geburtenraten gebildet, der zum Beispiel die Universitätsstadt Heidelberg beinhaltet.

Die altersdifferenzierten Geburten- und zusätzlich geschlechtsdifferenzierten Wanderungsfälle innerhalb eines Typs in den oben beschriebenen Stützzeiträumen dienten als Berechnungsgrundlage für Geburten- und Wanderungsraten der Vorausrechnung.

Die Sterbewahrscheinlichkeiten sind zwischen den Typen relativ ähnlich, lediglich der Gemeindetyp 8, der sich durch eine besonders hohe Pflegeplatzdichte auszeichnet, hat signifikant höhere Sterberaten. Dies erklärt sich dadurch, dass Personen, die in ein Pflegeheim ziehen, im Durchschnitt einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand aufweisen als sonstige gleichaltrige Personen und daher auch eine höhere Sterbewahrscheinlichkeit haben. Für diesen Gemeindetyp wurden ab dem Alter von 65 Jahren die für diesen Typ spezifischen, höheren Sterbewahrscheinlichkeiten angesetzt. Für alle anderen Gemeinden wurden die Sterberaten entsprechend der ­Landesvorausrechnung übernommen.

Neue Typisierungsmethode ermöglicht erstmals Ergebnisse mit Wanderung für alle Gemeinden

In früheren Vorausrechnungen des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg wurde für die Typisierung der Gemeinden primär die Entwicklung der Geburten und Wanderungen herangezogen. Um zufällige Entwicklungen und Ausreißer auszugleichen, wurde für die Typisierung und auch für die Ratenberechnung nicht nur der Wert des Basisjahres, sondern eines längeren Referenzeitraums herangezogen. Dies reduziert den Einfluss zufälliger Schwankungen, kann aber strukturelle Änderungen im Wanderungsgeschehen im Sinne neuer Trends nur abbilden, wenn diese bereits im Bezugszeitraum ausreichend sichtbar sind.11 So wurde zum Beispiel die im Vergleich zu ländlichen Gebieten verstärkte Zuzugsneigung in die großen Städte und verdichteten Gebiete im Zuge der vergangenen Bevölkerungsvorausrechnung auf Basis 2008 zwar abgebildet, aber doch unterschätzt, weil im Referenzzeitraum noch einige Jahre enthalten waren, in denen sich dieser Trend nur sehr schwach abzeichnete. Die ebenfalls unerwartet und massiv gestiegene Außenzuwanderung mit entsprechender räumlicher Konzentration tat das Übrige.

Wie vorstehend beschrieben wurde die Typisierung in der aktuellen Vorausrechnung nun von den Wanderungen losgelöst und orientiert sich an relativ stabilen Strukturmerkmalen. Damit wird der Einfluss des Referenzzeitraums zumindest bei der Typisierung vermieden. Dies ermöglicht erstmals auch für kleine Gemeinden eine Vorausrechnung mit Wanderung durchzuführen.12 Es bleibt aber dennoch festzuhalten, dass je kleiner eine Gemeinde ist, desto stärker ist die Entwicklung von singulären und nicht vorhersehbaren Einflüssen geprägt. Die Entscheidung zur Bestimmung eines Entwicklungskorridors (Details zur Berechnung weiter unten) fußt auf diesen Überlegungen. Der Entwicklungskorridor zeigt unter Vorbehalt der Annahmen der Vorausrechnung eine Spannweite der aus heutiger Sicht wahrscheinlichen Entwicklung einer Gemeinde auf und ergänzt so die Ergebnisse der Hauptvariante. Er gibt nicht an, dass sich die Entwicklung in den einzelnen Gemeinden ganz sicher innerhalb diese Rahmens abspielen wird, sondern lediglich, dass eine Entwicklung innerhalb dieses Korridors unter den getroffenen Annahmen wahrscheinlicher ist als eine Entwicklung, die weit davon abweicht.

Niveauunterschiede innerhalb der Typen werden über Anpassungsfaktoren berücksichtigt

Mit der Typisierung wird ein Mittelwert der Entwicklung der einzelnen Gemeinden gebildet. Dies beinhaltet, dass es innerhalb der Typen eine Spannweite von Entwicklungen gibt, einige Gemeinden liegen über, einige unter dem Durchschnitt des Typs. Um dieser Tatsache gerecht zu werden, wurden zusätzlich zur Typisierung noch Anpassungsfaktoren berechnet, die einen Ausgleich innerhalb des jeweiligen Typs schaffen. Das heißt Gemeinden, deren Wanderungssaldo in der Vergangenheit günstiger war als im Durchschnitt des Typs, erhielten einen Faktor größer 1; Gemeinden, deren Wanderungssaldo niedriger war, einen Faktor kleiner 1.

In der Hauptvariante der regionalen Bevölkerungsvorausrechnung wurden diese Unterschiede dann langsam abgeschmolzen. Damit wird unterstellt, dass die individuellen Niveauunterschiede noch eine gewisse Zeit in die Zukunft fortwirken, sich dann aber die typspezifischen Eigenschaften als prägender erweisen. Da dies nur eine der möglichen Entwicklungen ist, wurden in Ergänzung noch Nebenvarianten zur voraussichtlichen Bevölkerungsentwicklung berechnet.

Berechnung unterschiedlicher Varianten in Anlehnung an die Landesvorausrechnung

Trotz dieser umfangreichen Maßnahmen bei Typisierung, Wahl des Referenzzeitraums und Ratenberechnung, die dazu dienen, eine möglichst gut basierte Vorausrechnung vorzulegen, bleibt es dabei: Eine Vorausrechnung ist keine Vorhersage. Sie zeigt nur eine mögliche und unter gegebenen Voraussetzungen und Annahmen wahrscheinliche Entwicklung auf. Insbesondere höhere oder geringere Wanderungsgewinne des Landes und Verschiebungen in den Präferenzen der Menschen oder auch die Nutzung der Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort können die regionale Entwicklung beeinflussen, sodass es schließlich zu Abweichungen von der Bevölkerungsvorausrechnung kommt. Daher wurden als Ergänzung zur vorgestellten Hauptvariante der Bevölkerungsvorausrechnung schon bei der Bevölkerungsvorausrechnung für das Land noch weitere Varianten mit Wanderung erstellt.

Die beiden Nebenvarianten für das Land unter­scheiden sich von der Hauptvariante nur durch die geringeren bzw. höheren Wanderungsannahmen.13 Alle drei Berechnungsvarianten mit Wanderung »starten« aber gleich mit einem Wanderungsgewinn von 70 000 Personen. Für die weiteren Vorausrechnungsjahre der Unteren bzw. Oberen Variante gelten dann auf Landesebene folgende abweichende Annahmen:

  • Bei der Unteren Variante schmilzt der Wanderungsgewinn bis 2020 auf 20 000 Personen im Jahr ab und liegt dann um 10 000 Personen unter der Hauptvariante. Ab 2021 wird nur noch ein Wanderungssaldo von 10 000 Personen angenommen. Der Unterschied zur Hauptvariante beträgt damit ab 2020 jährlich 10 000 Personen weniger.
  • Bei der Oberen Variante schmilzt der Wanderungsgewinn bis 2020 schwächer auf 40 000 Personen jährlich ab. Ab 2021 wurde auch bei dieser Berechnung der Wanderungsgewinn konstant gehalten und mit 30 000 jährlich angesetzt. Gegenüber der Hauptvariante sind dies 10 000 Personen mehr.

Die Wanderungsannahmen für die beiden Nebenvarianten bildeten auch eine der Grundlagen für die regional berechneten Varianten. Insbesondere je kleiner die Gemeinde, desto geringer ist jedoch bei einer Regionalisierung des zusätzlichen bzw. geringeren Wanderungsgewinns des Landes der Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung. Ein wesentlich größerer Einfluss geht von der regionalen Verteilung der Wanderungen aus.

Ein spezifischer Entwicklungskorridor je Gemeinde

Wegen der ungleich höheren Bedeutung für die gemeindliche Entwicklung wurden daher bei der Berechnung weiterer Varianten auch die Annahmen zur Wanderung innerhalb des Landes variiert. Folgende Modellvorgaben wurden bei den Wanderungen zur Berechnung des äußeren Entwicklungsrahmens der Gemeinden gemacht:

  • Typenspezifische Entwicklung: Hier wurde von Anfang an eine typenspezifische Entwicklung für jede Gemeinde angenommen und damit den strukturellen Einflüssen des Typs Vorrang gewährt. Diese Variante beschreibt, wie sich die Entwicklung einer Gemeinde gestalten würde, wenn die Wanderungsraten der Gemeinden künftig dem Mittelwert des Typs entsprächen. Gemeinden mit bisher, bezogen auf den Typ, unterdurchschnittlicher Wanderungsentwicklung würden sich nach diesem Modell zukünftig verhältnismäßig günstiger entwickeln. Bei Gemeinden mit in der Vergangenheit überdurchschnittlicher Entwicklung wäre es umgekehrt.
  • Beibehaltung des Status quo: In diesem Fall wurde über den gesamten Zeitraum angenommen, dass die typinternen Verhältnisse bestehen bleiben. Der Anpassungsfaktor wurde für den gesamten Zeitraum beibehalten. Die Gemeinden würden sich nach diesem Modell im bisherigen Verhältnis zur mittleren Entwicklung im Typ über- oder unterdurchschnittlich weiterentwickeln.

Beide Modelle wurden jeweils mit den Wanderungsannahmen über die Landesgrenze aus der Oberen bzw. Unteren Variante der Landesvorausrechnung kombiniert. Aus den Ergebnissen der Modelle ergibt sich nun der wahrscheinliche Entwicklungskorridor der jeweiligen Gemeinden:14

  • Für Gemeinden mit einem Anpassungsfaktor größer als 1 bildet sich der obere Rand der wahrscheinlichen Entwicklungen aus der Kombination der Wanderungsannahmen aus der Oberen Variante mit der Beibehaltung des Anpassungsfaktors bis 2030 (Status quo). Der untere Rand der wahrscheinlichen Entwicklungen ergibt sich aus den Wanderungsannahmen der Unteren Variante kombiniert mit dem Modell, das eine typenspezifische Entwicklung unterstellt und keinen Anpassungsfaktor berücksichtigt.
  • Für Gemeinden mit einem Anpassungsfaktor kleiner als 1 ergibt sich die wahrscheinlich günstigste Entwicklung ebenfalls unter Heranziehung der Wanderungsannahmen der Oberen Variante, jedoch kombiniert mit dem Modell ohne Berücksichtigung des Anpassungsfaktors (typenspezifische Entwicklung). Hingegen wird bei der wahrscheinlich ungünstigsten Entwicklung die Untere Variante und das Modell mit der Fortschreibung des Anpassungsfaktors bis 2030 herangezogen (Status quo).

Daten der Entwicklungskorridore sind nicht aggregierbar

Da für die Berechnung des oberen und unteren Randes der wahrscheinlichen Entwicklungen unterschiedliche Modelle herangezogen werden, ist eine Summierung der Gemeindewerte für den oberen oder unteren Rand des Entwicklungskorridors für mehrere Gebiete nicht sinnvoll möglich. Kreise, Regionen oder andere Aggregate können damit nicht berechnet werden. Es gibt den Entwicklungskorridor nur auf Gemeindeebene und auf Landesebene. Auf Landesebene resultiert er direkt aus der Landesvorausrechnung und der dort berechneten Oberen Variante und Unteren Variante. Aggregierbar über die Gebietseinheiten sind nur die Ergebnisse der Hauptvariante. Bei Aufsummierung aller Gemeinden ergibt sich dann aber eine geringe Abweichung zu den Eckwerten aus der Hauptvariante der Landesrechnung. Ursächlich dafür sind die Anpassungsvorgänge während der Rechnung und zusätzliche Vor­gaben für die regionale Rechnung.15 Da eine Vorausrechnung ohnehin keine »exakten« Werte liefert, ist dies aber nicht weiter relevant.

Auch die bekannte Modellrechnung gibt es noch

Das Statistische Landesamt führte zusätzlich noch eine Modellrechnung rein für die natürliche Bevölkerungsentwicklung für alle Gemeinden durch. Betrachtet wird hierbei die Entwicklung der Bevölkerung allein »aus ihrem Bestand heraus«, also nur unter Berücksichtigung der Geburten und Sterbefälle. Es ist eine Modellrechnung ohne jegliche Wanderung. Ansonsten entspricht die Methodik dieser Modellrechnung ohne Wanderungen der Vorgehensweise zur der Bevölkerungsvorausrechnung mit Wanderungen.

Diese Modellrechnung kann insbesondere für kleinere Gemeinden hilfreich sein. Die Rechnung ist quasi wanderungsneutral und kann als weiterer Orientierungspunkt für die politisch Verantwortlichen vor Ort dienen, um unerwünschte Entwicklungen zu erkennen und diesen entgegenzusteuern. Zum Beispiel kann sie für eine von Abwanderung betroffene Gemeinde das Entwicklungspotenzial aufzeigen für den Fall, dass es gelänge, die Menschen vor Ort zu halten. Das Wanderungsgeschehen kann die gemeindliche Entwicklung in beide Richtungen beeinflussen, sodass die Ergebnisse dieser Modellrechnung sowohl über als auch unter den Werten aus der Bevölkerungsvorausrechnung mit Wanderungen liegen können. Dies gilt auch bezüglich der auf das Basisjahr 2012 folgenden realen Entwicklung der Bevölkerungszahlen.

Vorausrechnung »richtig« nutzen

Keine Bevölkerungsvorausrechnung kommt ohne Annahmen zur zukünftigen Entwicklung aus. Der Rechnung werden die zum Zeitpunkt der Berechnung plausiblen Einschätzungen zur weiteren Entwicklung von Geburten, Sterbefällen, Zu- und Abwanderung zugrunde gelegt. Entsprechend liefern Vorausrechnungen immer Wenn-Dann-Ergebnisse. Nur wenn die getroffenen Annahmen 1:1 eintreten, kann das rechnerische Ergebnis zutreffen. Die tatsächliche Entwicklung wird schließlich nie exakt so verlaufen, wie zum Berechnungszeitpunkt angenommen. Das liegt in der Natur der Vorausrechnung.

Die regionale Bevölkerungsvorausrechnung des Statistischen Landesamtes erfolgt für alle Gemeinden methodisch einheitlich und neutral. Damit ist die regionale Vergleichbarkeit der Daten gegeben, zu erwartende strukturelle Veränderungen im Land werden sichtbar (zum Beispiel Stadt-Land-Entwicklung) und die voraussichtliche Entwicklung der einzelnen Kommune ist eingebettet in die regionalen Verflechtungen und die erwartete Gesamtentwicklung des Landes. Gleichwohl führt dies zu einer gewissen Nivellierung spezifischer Entwicklungen, was einerseits methodisch sinnvoll ist, im Einzelfall aber schwierig sein kann. Planungen und Besonderheiten vor Ort können nicht eingehen.

Vorausrechnungen liefern somit grundsätzlich Informationen zu möglichen Entwicklungen. Je länger der Zeitabstand zum Basisjahr der Vorausrechnung ist, desto stärker muss zudem die tatsächliche und aktuelle Entwicklung in die Betrachtung einbezogen werden. Insbesondere gilt das für das Wanderungsgeschehen – und je kleinräumiger der Betrachtungsraum, umso mehr. Trendumbrüche können nicht vorausgesehen und gerechnet werden. Die natürliche Bevölkerungsentwicklung und die Altersstruktur sind demgegenüber vergleichsweise gut vorausrechenbar, denn die heutige Zusammensetzung der Bevölkerung nach Alter und Geschlecht ist hierfür stark bestimmend. Die Vorausrechnungsergebnisse zur Altersstruktur sind von entsprechend hoher Treffsicherheit.16 Aber auch hier gilt, je kleiner die Grundgesamtheit, desto stärker ist ggf. der Einfluss von Strukturänderungen durch Wanderungen. Auch sei davor gewarnt, die reale Entwicklung, die sich in der Fortschreibung des Bevölkerungsstands späterer Jahre zeigt, mit der vorausrechnungsimmanenten Entwicklung rechnerisch zu verknüpfen. Dies führt zwangsläufig zu Fehlinterpretationen. Allenfalls kann – ausgehend vom aktuellen Zeitpunkt – die noch zu erwartende relative Entwicklung, die aus zwei Werten aus der Vorausrechnung ermittelt wurde, zur Niveauanpassung mit dem späteren realen Bevölkerungsbestand in Verbindung gebracht werden. Auch das sollte nicht ungeprüft geschehen.

Das Statistische Landesamt hat insofern nicht den Anspruch vorherzusagen, was geschehen wird, sondern will mögliche Entwicklungen aufzeigen und mit der Bereitstellung von Daten eine Hilfestellung für regionalpolitisches Handeln leisten. In der konkreten Planung bedarf es aber immer der Ergänzung durch Vorortwissen, das kann in einer solchen übergreifenden Rechnung nicht erfolgen.