:: 1/2015

Erweiterung der Verdienststrukturerhebung zur Mindestlohnstatistik

Mit der Einführung eines Mindestlohns und der Fortschreibung in den kommenden Jahren werden auch statistische Daten benötigt, welche für die Beurteilung der Auswirkung dieser gesetzlichen Vorgabe auf das gesamte Lohngefüge als notwendig angesehen werden. Bereits bisher liefert die Verdienststrukturerhebung entsprechende Daten für Betriebe mit zehn und mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Zukünftig sollen auch Kleinbetriebe in die Erhebung einbezogen werden, um ein Gesamtbild der Verdienstsituation in Deutschland zu erhalten.

Verdiensterhebung 2014 auch für Betriebe mit weniger als zehn Beschäftigten

Die meldepflichtigen Betriebe für die Verdienststrukturerhebung 2014 werden Anfang 2015 angeschrieben und gebeten, die Daten für das Berichtsjahr und einen repräsentativen Monat an die Statistischen Landesämter in elektronischer Form zu übermitteln. Die in 4-jährigem Turnus europaweit durchgeführte Erhebung soll erstmalig auch Betriebe betreffen, die weniger als zehn Mitarbeiter sozialversicherungspflichtig beschäftigen. Hintergrund ist der Datenbedarf im Zusammenhang mit der Einführung eines bundesweit einheitlichen Mindestlohns. Die Bundesregierung will der Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) valide empirische Daten bereitstellen, die Anhaltspunkte über die Wirkungen des Mindestlohns geben. Da empirische Daten zu Stundenverdiensten kurzfristig ohne den Aufbau eines neuen Berichtssystems nur aus der Verdienststrukturerhebung repräsentativ gewonnen werden können, ist es naheliegend und kostengünstig, durch eine Ausweitung einer bereits bestehenden Erhebung den Datenbedarf zu befriedigen. Daher wird die bisher gültige Höchstgrenze der zu befragenden Betriebe auf Bundesebene von 34 000 auf 60 000 erhöht. Für Baden-Württemberg bedeutet dies, dass statt bisher 3 300 Betriebe knapp 6 900 in die Erhebung einbezogen werden.

Wie bisher sollen die auskunftspflichtigen Betriebe mittels eines mathematisch-statistischen Zufallsverfahrens bestimmt werden. Die Vergrößerung der Stichprobe ist notwendig, da in Baden-Württemberg fast 90 % der Betriebe weniger als zehn sozialversicherungspflichtig Beschäftige haben. In diesen Betrieben sind etwa ein Sechstel der Arbeitnehmer im Land beschäftigt.

In den zufällig ausgewählten Betrieben müssen in Abhängigkeit von der Beschäftigtenzahl nicht alle Arbeitnehmer für die Verdienststrukturerhebung gemeldet werden. Während von Betrieben mit weniger als zehn Arbeitnehmern jeder sozialversicherungspflichtige Beschäftigte gemeldet werden muss, genügt es bei Betrieben, die 1 000 und mehr Arbeitnehmer beschäftigen, nur jeden 40. Arbeitnehmer zur Statistik zu melden, um den vorgegebenen Genauigkeitsanforderungen des Stichprobenmodells zu genügen. In den dazwischenliegenden Beschäftigtengrößenklassen sinkt der Auswahlsatz mit wachsender Beschäftigtenzahl.

Was wird bei der Verdienststrukturerhebung erfragt?

Da die Einführung des Mindestlohns zu Beginn des Jahres 2015 geplant ist, kann mit Hilfe der Verdienststrukturerhebung 2014 die Situation vor Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns statistisch erfasst werden. Damit stünden Daten für einen zukünftigen Vergleich der Stundenverdienste vor und nach Einführung des flächendeckenden Mindestlohns zur Verfügung.

Die Verdienststrukturerhebung ermöglicht den europaweiten Vergleich von Verdiensten abhängig Beschäftigter sowie die individuellen und betriebsbedingten Faktoren, welche die Verdiensthöhe maßgeblich beeinflussen. Die gesetzlich festgelegten Merkmale beziehen sich schwerpunktmäßig auf den einzelnen Arbeitnehmer. Zusätzlich werden betriebsbezogene Daten erhoben. Die Statistik umfasst zwei Erhebungszeiträume, das Berichtsjahr und einen repräsentativen Berichtsmonat. In der Vergangenheit, zuletzt 2010, wurden monatsbezogene Daten für den Oktober erhoben. Für die Erhebung 2014 wurde der Monat April als repräsentativer Monat ausgewählt, um den zeitlichen Abstand zum Einführungszeitpunkt des gesetzlichen Mindestlohns zu vergrößern. Die meisten Merkmale beziehen sich auf den Berichtsmonat. Eine Änderung gibt es auch bei den Wirtschaftszweigen. Die Verdiensterhebung in der Landwirtschaft wird als eigenständige Erhebung eingestellt und analog den übrigen Branchen in die Verdienststrukturerhebung integriert. Derzeit arbeiten etwa 0,4 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Baden-Württemberg in der Landwirtschaft.

Mit Blick auf die Mindestlohndiskussion liegt der Interessenschwerpunkt auf dem Bruttomonatsverdienst und den Angaben zur Arbeitszeit. Aus diesen Daten lässt sich der Bruttostundenverdienst ermitteln. Wichtig in der Diskussion um den Mindestlohn ist auch die Branchenzugehörigkeit der zu befragenden Betriebe, da inzwischen tariflich vereinbarte Mindestlöhne für einzelne Wirtschaftszweige abgeschlossen wurden (siehe Übersicht »Mindestlöhne in Deutschland am 1. Oktober 2014 nach Branchen«).

Allgemeinverbindliche Mindestlohnregelung bereits vor Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns möglich

In einigen Branchen sind von den Tarifvertragsparteien bereits vor Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns Mindestlöhne vereinbart worden. In Deutschland regelten bisher verschiedene Gesetze, unter welchen Bedingungen branchenspezifische Mindestlöhne festgesetzt werden können. Wurden die Regelungen in der jeweiligen Branche für allgemeingültig erklärt, mussten sich alle Unternehmen der Branche an die Mindestlohnregelung halten. Im Rahmen des Tarifvertragsgesetzes konnte die Allgemeingültigkeit eines Tarifvertrages nur dann erklärt werden, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung im öffentlichen Interesse geboten war. Im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und Arbeitnehmerüberlassungsgesetz waren bisher allgemeinverbindliche Mindestlöhne auch dann möglich, wenn weniger als 50 % der Arbeitnehmer nach einem Tarifvertrag entlohnt worden sind.

Nach den Ergebnissen der Verdienststrukturerhebung 2010 waren in Baden-Württemberg etwas weniger als die Hälfte der Beschäftigten tarifgebunden. Da die Verdienststrukturerhebung jedoch nur Betriebe mit zehn und mehr Beschäftigten erfasst, dürfte der Anteil in der gesamten Wirtschaft eher noch geringer sein. Mit zunehmender Betriebsgröße steigt in der Regel der Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmer. In den wichtigen Branchen des Landes wie dem Fahrzeug- oder Maschinenbau werden die Arbeitnehmer überwiegend tariflich bezahlt.

Verdienststrukturerhebung 2010: Rund 9 % verdienten weniger als 8,50 Euro

Seit 2010, dem Jahr der letzten Verdienststrukturerhebung, hat sich die Tariflandschaft weiter entwickelt. Inzwischen gab es Tariferhöhungen und in einigen Branchen sind auch Vereinbarungen über Mindestlöhne abgeschlossen worden. Deshalb ist davon auszugehen, dass der Anteil der Beschäftigten, die weniger als 8,50 Euro verdienen, seit 2010 zurückgegangen ist. Unter anderem wurden für die Abfallwirtschaft, die Zeitarbeit, die Gebäudereinigung, die Pflegebranche und bei Sicherheitsdienstleistungen tariflich Mindestlöhne festgelegt. Dies sind Branchen, in denen vor Abschluss entsprechender Vereinbarungen durchaus auch weniger als der ab diesem Jahr gültige Mindestlohn bezahlt wurde. So lag zum Beispiel der Anteil der Beschäftigten in der Zeitarbeitsbranche, die weniger als 8,50 Euro verdienten, 2010 noch bei über 40 %. Außerdem hat die Diskussion über Mindestlöhne die breite Öffentlichkeit erreicht, sodass der gesellschaftliche Druck zur Anhebung von niedrigen Löhnen zugenommen hat. Insbesondere ist es schwer zu vermitteln, warum vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer ergänzend Hartz IV benötigen. Auch wenn die Anzahl der Arbeitnehmer (in Betrieben mit zehn und mehr Beschäftigten), die weniger als 8,50 Euro pro Stunde – insbesondere im Hochlohnland Baden-Württemberg – verdienen, schon vor Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes vermutlich deutlich zurückgegangen ist, lassen sich wichtige Erkenntnisse über die Betroffenheit einzelner Arbeitnehmergruppen aus den Zahlen der Verdienststrukturerhebung 2010 gewinnen.

Rund jeder elfte Arbeitnehmer (ohne Auszubildende) hatte im Oktober 2010 einen Bruttostundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Bei den Frauen lag dieser Anteil mehr als doppelt so hoch wie bei den Männern. Vor allem junge und ältere Arbeitnehmer hatten überproportional häufig Stundenlöhne unter dem aktuell diskutierten Mindestlohn. Bei den ersteren handelt es sich in der Mehrzahl um Schüler und Studenten, während Personen im Rentenalter zur Aufbesserung der Rente auch eine schlechte Bezahlung akzeptieren.

Nach den Ergebnissen der Verdienststrukturerhebung 2010 lag der Anteil der Beschäftigten unterhalb der Mindestlohnschwelle in großen Unternehmen deutlich niedriger als bei kleinen Unternehmen. Daraus kann geschlossen werden, dass in den nicht erfassten Kleinbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten der Anteil der unterhalb des Mindestlohns entlohnten Personen tendenziell höher war. Unter den fest angestellten Arbeitnehmern hatten bereits 2010 vergleichsweise wenige unterhalb des Mindestlohns verdient (3 %). Bei befristet Beschäftigten lag dieser Anteil mit 13 % schon deutlich höher. Bei geringfügig Beschäftigten hatte die Mehrzahl 2010 weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdient (52 %).

Verteilung der Stundenverdienste

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns wirkt sich auf das gesamte Lohngefüge aus. Daher genügt es nicht, ausschließlich Verdienste unterhalb der Schwelle von 8,50 Euro zu analysieren. Durch die gesetzliche Festlegung eines Mindestlohns wird das Lohngefüge auch oberhalb des Mindestlohns beeinflusst, da die Verdienstabstände durch die Einführung einer Lohnuntergrenze verändert werden. Aus den Ergebnissen der Verdienststrukturerhebung 2010 lässt sich die gesamte Verteilung der Bruttostundenverdienste ermitteln.

Im Oktober 2010 verdienten knapp 9 % der Beschäftigten weniger als 8,50 Euro. Weitere fast 15 % verfügten über einen Stundenverdienst zwischen 8,50 und 12 Euro. Die Verdienstklasse mit den meisten Beschäftigten lag zwischen 14 und 16 Euro. Hätte es bereits 2010 einen Mindestlohn in der jetzt festgelegten Höhe gegeben, würde das rein rechnerisch bedeuten, dass fast jeder vierte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in baden-württembergischen Betrieben mit zehn und mehr Beschäftigten im Jahr 2010 zwischen 8,50 und 12 Euro pro Stunde verdient hätte. Als Folge würde die Streuung innerhalb der Gruppe der Personen, die weniger als 12 Euro pro Stunde verdienen, deutlich abnehmen. Der Verdienstabstand etwa zwischen ungelernten Beschäftigten und Personen, die eine Lehre absolviert haben, würde sich verringern. Wenn diese Situation insbesondere im gleichen Betrieb eintritt, dürfte der Druck der qualifizierteren Beschäftigten zunehmen, den Lohnabstand wieder zu vergrößern.

An der Verteilung der Stundenverdienste wird deutlich, dass der Durchschnittsverdienst mit 20,11 Euro, berechnet als arithmetisches Mittel, leicht missverständlich interpretiert werden kann. Sehr gut verdienende sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ziehen diesen Durchschnitt nach oben, was tendenziell eher zu einer Überschätzung des Lohnniveaus führt, wenn die Gesamtverteilung nicht bekannt ist. Der Median ist bei Verdiensten als Durchschnittswert deshalb das geeignetere Maß zur Beschreibung der Verteilung und beträgt 17,42 Euro. Zur Interpretation: Im Oktober 2010 verdienten 50 % der Beschäftigten 17,42 Euro und mehr und 50 % weniger als 17,42 Euro in Betrieben mit zehn und mehr Beschäftigten im Land. Hätte es bereits im Oktober 2010 einen Mindestlohn von 8,50 Euro gegeben, würde sich der Wert für den Median nicht ändern, sofern unterstellt wird, dass die Stundenlöhne oberhalb des Mindestlohnes unverändert blieben. Das arithmetische Mittel würde dagegen ansteigen. Deshalb wäre das arithmetische Mittel für Vergleichszwecke vor und nach Einführung eines Mindestlohns geeignet, um die Veränderung sichtbar zu machen, während der Median für diesen Zweck nicht sinnvoll verwendet werden kann.

Mindestlohn verändert das Lohngefüge

Der Fokus der öffentlichen Mindestlohndiskussion liegt vor allem auf möglichen negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Gehen Arbeitsplätze in bestimmten Branchen verloren? Wie wird sich der Mindestlohn auf das Angebot an Praktikumsplätzen auswirken? Abgesehen von diesen in der Öffentlichkeit diskutierten Fragestellungen dürfte das Lohngefüge innerhalb eines Betriebes durch die Einführung eines Mindestlohns in einigen Fällen ebenfalls betroffen sein.

Da Beschäftigte, die bisher weniger als den Mindestlohn verdient haben, den Lohnabstand nach Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns zu den über dem Mindestlohn verdienenden Beschäftigten verringern, könnten Forderungen der übrigen Beschäftigten nach Lohnsteigerungen zur Lohnabstandswahrung nicht ohne weiteres ignoriert werden. Andererseits kann darauf verwiesen werden, dass in vielen Branchen bereits Mindestlöhne vereinbart wurden, sodass die Veränderung der Lohnabstände nur für einen vergleichsweise kleinen Anteil der Betriebe relevant ist.

Auffällig ist, dass die meisten Personen, die 2010 unter 8,50 Euro verdienten, geringfügig beschäftigt waren. Diese Gruppe müsste nach Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes stark zurückgehen. Junge Menschen unter 18 Jahren sollen weiterhin weniger als 8,50 Euro verdienen können, wenn sie über keine Berufsausbildung verfügen. Ebenso sollen Pflichtpraktika sowie freiwillige Praktika unter 6 Wochen von der Lohnuntergrenze unberührt bleiben. Im Jahre 2010 verdienten 24 % der unter 25-Jährigen weniger als den ab 2015 gültigen Mindestlohn. Dieser Anteil dürfte auch zukünftig nicht deutlich zurückgehen.

In Baden-Württemberg werden die meisten Branchen von der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes von 8,50 Euro nicht oder kaum betroffen sein, entweder weil die Branchenlöhne ohnehin höher sind oder inzwischen ein Tarifvertrag abgeschlossen wurde, der Löhne unterhalb der Mindestlohnschwelle verhindert.