:: 12/2015

Streuobstwiesen

Von der früheren Normalität bis zur heutigen Einzigartigkeit

Noch vor wenigen Jahrzehnten gehörte zu fast jedem landwirtschaftlichen Betrieb in Baden‑Württemberg eine Streuobstwiese. Streuobstwiesen sind durch Menschen geschaffene Kulturbiotope, die heute rar geworden sind. Ein Teil des Bestandes ist stark gefährdet. Streuobstwiesen hatten und haben gerade in Baden‑Württemberg einen hohen Stellenwert, zur Mitte des letzten Jahrhunderts war mehr als die Hälfte der Streuobstwiesenfläche Deutschlands in Baden‑Württemberg. Gerade die Streuobstwiesen mit alten, knorrigen Bäumen, die vielen Pflanzen und Tieren einen Lebensraum bieten, haben eine große ökologische Bedeutung, die mit dem Alter der Obstwiesen zunimmt. Zur Bestandserhaltung benötigen sie regelmäßige Pflege und Neupflanzungen.

Geschichtliche Entwicklung des Streuobstbaus

In Deutschland brachten die Römer den kultivierten Obstbau in ihre germanischen Kolonien. Hier war er bis zum 15. Jahrhundert auf die nähere Umgebung der Siedlungen beschränkt. Im 15. und 16. Jahrhundert begann sich der Obstbau dann unter der Förderung der Landesherren in die freie Landschaft auszudehnen, auch wenn im Dreißigjährigen Krieg zahlreiche Pflanzungen wieder zerstört wurden oder aufgrund der mangelnden Pflege verkamen. Der Neuaufbau des Obstbaus begann Ende des 18. Jahrhunderts. Vielfach musste er der Bevölkerung in vielen Landesteilen unter heftigem Widerstreben aufgezwungen werden, da er der Pflugarbeit hinderlich war. Denn zunächst entstanden nämlich Baumäcker, die erst später in die heute üblichen Baumwiesen umgewandelt wurden. In weiten Gebieten Deutschlands wurde der Weinbau um das Jahr 1800 aufgegeben. Das führte dazu, dass auf den ehemaligen Weinbergen vielerorts Obstbäume gepflanzt wurden. Zu einer weiteren Ausweitung des Obstanbaus kam es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als durch künstliche Düngung Ackerbau auf nährstoffarmen Böden möglich wurde und dadurch schwer zu bearbeitende Hänge mit Obstbäumen bepflanzt wurden. Diese Neuanpflanzungen sollten zur Verbesserung der Ernährung in breiten Bevölkerungsschichten beitragen.

Die Wiesen- und Weidenutzung statt der Ackernutzung auf Streuobstflächen erlebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen großen Aufschwung. Die Streuobstkultur hatte ihren Höhepunkt etwa in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als schon der Intensivobstbau mit Plantagenwirtschaft begann. Bis dahin waren durch die fortschreitende wissenschaftliche Entwicklung über 6 000 Obstsorten, darunter mindestens 2 700 Apfel-, 800 Birnen-, 400 Süßkirschen- und 400 Pflaumensorten in Deutschland entstanden. Der Obstanbau selbst in Höhenlagen der Mittelgebirge wurde dadurch ermöglicht. In den 1920er-Jahren begann dann die Trendwende hin zur Obstplantage mit Intensivobstanbau. Das große Sortiment an Kernobst wurde im Intensivobstanbau auf wenige Sorten beschränkt.

Den stärksten Rückgang der deutschen Streuobstwiesen verursachte am 15. Oktober 1953 der Emser Beschluss des Bundesernährungsministeriums in dem es heißt: »Für Hoch- und Halbstämme wird kein Platz mehr sein. Streuanbau, Straßenanbau und Mischkultur sind zu verwerfen«. Um den Intensivobstanbau in Obstplantagen zu fördern, subventionierte die Europäische Gemeinschaft bis 1974 die Rodung von Hochstämmen der Streuobstsorten. Streuobstwiesen auf fruchtbareren Böden wurden in Obstplantagen umgewandelt. Eine drastische Reduktion der Streuobstflächen war die Folge. Es blieben zwar kleinere Streuobstwiesen erhalten, die Unternutzung erfolgte hier oft durch Rinder oder Schafe. Nach Schätzungen des NABU gingen daher die deutschen Streuobstbestände von ca. 1,5 Mill. ha um das Jahr 1950 auf weniger als ein Drittel des ehemaligen Bestandes zum Anfang der 2000er-Jahre zurück.

Die Streuobstwiese als wichtiges Biotop

Streuobstwiesen sind in vielerlei Hinsicht einzigartige Biotope. Auf den Streuobstwiesen befindet sich neben den Obstbäumen eine Feldschicht, auf der vielfältige Gräser und Wiesenkräuter zum Beispiel Löwenzahn, Wiesenschaumkraut oder Schafgarbe wachsen. Diese runden neben den Obstbäumen die biologische Vielfalt im Florabereich ab. Durch sie wird die Streuobstwiese zur perfekten Weidestelle für Schafe und Rinder. Oftmals wird von den Landwirten auch das Gras gemäht, um es als Heu zu verarbeiten. Durch die lockere Bepflanzung von Bäumen und Gräsern sind Streuobstwiesen auch ein idealer Lebensraum für viele Insektenarten. Diese wiederum bieten verschiedenen, zum Teil seltenen Vogelarten etwa Sumpfmeise, Sperling, Grünspecht, Kauz, Stieglitz oder Gimpel ein reichhaltiges Nahrungsangebot. Viele geschützte Vogelarten – beispielsweise Wendehals, Mittel-, Grün- und Grauspecht, Steinkauz, Neuntöter, Gartenrotschwanz, Halsbandschnäpper – nutzen die Streuobstwiesen als Fortpflanzungs- oder wichtiges Nahrungshabitat. Auf Streuobstwiesen leben auch Amphibien. Verschiedene Froscharten oder Reptilien, wie Schlangen und Echsen, finden hier ideale Lebensbedingungen. Last, but not least finden auch einige Säugetiere in Streuobstwiesen ein Zuhause. So trifft man hier Feldmäuse, Igel, Mauswiesel, Fledermäuse, Siebenschläfer oder Feldhasen. Ein weiterer großer Vorteil der Streuobstwiesen ist, dass die alten resistenten Baumsorten auf Streuobstwiesen auch ohne Pflanzenschutzmittel und Kunstdünger hohe Erträge bringen.

Streuobstwiesen in Baden‑Württemberg

Streuobstwiesen hatten und haben in Baden‑Württemberg und seinen Vorgängerländern immer einen hohen Stellenwert. Bereits in der reichsweiten Obstbaumerhebung 1900 gab es im Großherzogtum Baden und im Königreich Württemberg mehr als 19 Mill. Obstbäume, von denen die meisten auf Streuobstwiesen standen. Das waren rund 12 % aller im Deutschen Reich stehenden Obstbäume. Die im Anbau dominierende Obstbaumart war der Apfelbaum, gefolgt von den Zwetschgen- oder Pflaumenbäumen, einen nicht unbeträchtlichen Anteil machten auch die Kirsch- und Birnbäume aus (siehe Abbildung 1).

Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nahmen die Baumzahlen in Baden und Württemberg kontinuierlich zu, obwohl viele Obstbauern schon auf den intensiven Plantagenobstbau umgestiegen waren oder ihn zumindest alternativ betrieben. Im Zweiten Weltkrieg kam es im Streuobstbau zu erheblichen Bestandseinbußen, die jedoch bis Mitte der 1950er-Jahre wieder ausgeglichen wurden. Seit dieser Zeit stellte man den Erwerbsobstbau intensiv um, und die Hochstamm-Baumzahlen auf Streuobstwiesen nahmen rapide ab. Die Gründe dafür waren die zunehmende Intensivierung, Mechanisierung und Spezialisierung der Landwirtschaft, die Förderung des niederstämmigen Obstbaus in Plantagen. Hinzu kamen die Umorientierung des Handels auf Import von Obst und Apfelsaft, die Rodungsprämien für Hochstammobstbäume, die Bebauung der Ortsränder und die damit einhergehende fehlende Nachpflanzung von Hochstammobstbäumen.

Auch der Rückgang der Familiengrößen und das geringe Interesse an der Selbstversorgung mit Obst spielten eine Rolle. Nach den Ergebnissen der repräsentativen Streuobsterhebung 1990 betrug die Zahl der in Baden‑Württemberg stehenden Streuobstbäume knapp 11,4 Mill. Das waren bereits 6,6 Mill. oder etwa 37 % weniger Streuobstbäume als 1965. Damals wurden noch fast 18 Mill. Streuobstbäume gezählt (siehe Abbildung 2).

Zwischen 1965 und 1990 erfolgte in den Obstlandschaften Baden‑Württembergs eine recht unterschiedliche Entwicklung. Der Rückgang des Streuobstanbaus war im Anbaugebiet Bodensee mit 54 % erheblich höher als im Anbaugebiet Neckar-Taubertal. Hier war nur ein Rückgang um 27 % zu verzeichnen. Fast die Hälfte aller Streuobstbäume stand danach 1990 im Anbaugebiet Neckar-Taubertal.

Weiterer Rückgang der Streuobstbestände bis 2005

Im Jahr 2008 wurde auf Veranlassung des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz eine landesweite Streuobsterhebung durchgeführt, die 2009 abgeschlossen wurde. Als Datengrundlage diente die in den Jahren 2000 bis 2005 vom damaligen Landesvermessungsamt Baden‑Württemberg vorgenommene Laserscan-Befliegung der gesamten Landesfläche. Ziel dieses Forschungsprojektes war die Identifizierung und Abgrenzung aller einzeln stehenden Streuobstbäume aus diesen Laserscan-Daten mittels automatisierter Fernerkundungsverfahren sowie ihre quantitative Analyse und räumliche Charakterisierung innerhalb eines geografischen Informationssystems (GIS). Mit mehreren Analyseschritten wurden die Standorte aller einzeln stehenden Bäume bestimmt. Die Kombination der hierbei entstandenen Datensätze ergab den Bestand. Aus diesem wurden mittels regelbasierten GIS-Verfahren alle Bäume ausgesondert, welche nicht als Streuobstbäume klassifiziert werden konnten oder die als sonstige Laub- oder Nadelbäume erkannt wurden.

Die nach der dargestellten Methode für das Jahr 2005 erhobene Streuobst-Baumzahl umfasst 9,3 Mill. Bäume (ohne die Bestände innerhalb der Siedlungsgebiete) auf 116 000 Hektar. Im Vergleich zur letzten Erhebung im Jahr 1990 haben die Streuobstbestände 2005 damit um 2,1 Mill. Bäume abgenommen. Knapp die Hälfte der Bäume waren Apfelbäume, etwa 25 % Kirschbäume. Darauf folgten Zwetschge, Birne, Walnuss und andere Obstbaumarten. Bei einem Vergleich der 2005 ermittelten Daten mit der Obstbaumzählung von 1965 und der Obstbaumerhebung von 1990 ließen sich einige Veränderungen im Aufbau der Streuobstbestände feststellen. Wie bereits 1990 erkennbar, war im Hinblick auf die Artenzusammensetzung seit 1965 eine Zunahme des Kirsch- und Walnussanteils sowie eine Abnahme des Anteils an zwetschgenartigen und sonstigen Obstbäumen zu erkennen. Der Anteil der Apfel- und Birnbäume veränderte sich dagegen kaum. Da der Rückgang der Streuobstbestände in allen anderen Bundesländern noch wesentlich stärker ausfiel, stand 2005 fast jeder zweite Streuobstbaum Deutschlands in Baden‑Württemberg.

Erhaltenswerter Bestand

Die Streuobstwiesen Baden‑Württembergs haben in ihrer Einzigartigkeit viel zu bieten. Sie sind nicht nur außerordentlich artenreiche Kulturräume, sondern liefern auch regionales, gesundes Obst. Diesen Bestand gilt es für die nächsten Generationen zu bewahren und wenn möglich, auch wieder auszubauen. Vielfältige Fördermaßnahmen zum Naturschutz, der Landschaftspflege und der Landschaftsentwicklung dienen auch dem Erhalt und dem Ausbau der Streuobstwiesenflächen. Dazu gehört zum Beispiel das Wiederherrichten von aus der Bewirtschaftung gefallenen Streuobstflächen mit anschließender Nutzung. Ob all diese Maßnahmen erfolgreich sein werden, wird sich erst in einigen Jahren zeigen.