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Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg

Eine Analyse auf der Basis der Wahlen von 2010 bis 2015 – Teil 1: Bürgermeisterwahlen und die Bewerber

Bürgermeisterwahlen1 in Baden-Württemberg sind ein eher unerforschtes Feld. Während natürlich alle Parlamentswahlen, aber auch die Kommunalwahlen (Wahl der Gemeinderäte, Ortschaftsräte, Kreistage) sowohl von der staatlichen Statistik als auch von der Kommunalstatistik der größeren Städte auf der Grundlage der amtlichen Wahldaten umfassend dokumentiert werden, existiert für Bürgermeisterwahlen keinerlei durch eine gesetzliche Grundlage legitimierte und institutionalisierte Dokumentation der Wahldaten. Bürgermeisterwahlen sind ausschließlich lokale Wahlereignisse und werden auch nur dort in amtlicher Form als öffentliche Bekanntmachungen sowie im Regelfall als Internet-Tabellen (allerdings oftmals ohne Historie), in größeren Städten auch als Wahlberichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die folgende Analyse basiert auf der laufenden systematischen Berichterstattung des »Staatsanzeiger Baden-Württemberg« über die im Land stattgefundenen Bürgermeisterwahlen. Auf Grund der vielfältigen und differenzierten Informationen dazu erfolgt die Darstellung der Analyseergebnisse in zwei Teilen. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Wahlrhythmus und den Bewerberzahlen der 813 zwischen 2010 und 2015 durchgeführten Bürgermeisterwahlen. Im zweiten Teil, der im nächsten Statistischen Monatsheft erscheinen wird, geht es um die Ergebnisse der Wahlen und die Wahlbeteiligung.

Systematische Datenerhebungen erstrecken sich entweder auf Einzelstudien, wie zuletzt die Analyse der »Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg« von Alexandra Klein (2014) auf der Datenbasis (nahezu) aller Bürgermeisterwahlen von 1990 bis 2009 (Vollerhebung mit Daten zu ca. 2 730 Wahlen von geschätzten 3 100 Wahlen in diesem Zeitabschnitt) oder auf Teilerhebungen wie die Umfragen des Städtetags Baden-Württemberg zur Wahlbeteiligung bei Parlaments- und Kommunalwahlen in den Mitgliedstädten 1995 (Erhebungszeitraum 1987 bis 1995) und 2007 (Erhebungszeitraum 1996 bis 2007); in letzterer Erhebung wurden (unter anderem) Daten zu Bürgermeisterwahlen in 153 Städten ab der Größenordnung von 10 000 Einwohner, hauptsächlich aber für die größeren Städte ab 20 000 Einwohner und für die Stadtkreise erhoben (Brugger 2008).

Datengrundlage

Als »Glücksfall« erweist sich angesichts des Fehlens von systematischen Datenerhebungen, dass der Staatsanzeiger für Baden-Württemberg – das amtliche Publikationsorgan des Landes – systematisch ab Januar 2005 über die einzelnen Bürgermeisterwahlen, die im Land stattgefunden haben, Woche für Woche in einer kurzen, die wesentlichen Eckdaten enthaltenen Ergebnistabelle und einer inhaltlichen und bildlichen Vorstellung des neu gewählten Bürgermeisters berichtet. Dass diese Berichterstattung das komplette Bild aller stattgefunden Wahlen widergibt, liegt daran, dass in Baden-Württemberg alle hauptamtlichen Bürgermeisterstellen spätestens 2 Monate vor der Wahl auszuschreiben sind (§ 47 Abs. 1 GemO) und dabei gewährleistet sein muss, dass ein größerer Kreis interessierter Personen von der Veröffentlichung Kenntnis nehmen kann. Eine Veröffentlichung in einem lokalen Blatt (Mitteilungsblatt oder Tageszeitung) reicht hierfür nicht aus; die Verwaltungsvorschrift zu § 47 GemO empfiehlt ein Einrücken in den Staatsanzeiger für Baden-Württemberg.

Zahl der Bürgermeisterwahlen

In dem 6 Jahre umfassenden Erhebungszeitraum 2010 bis 2015 dieser Untersuchung wurden insgesamt 813 Bürgermeisterwahlen und weitere 90 Neuwahlen absolviert. Analog zur Zahl der jeweiligen Gemeinden wurden dabei die meisten Bürgermeisterwahlen im Regierungsbezirk Stuttgart durchgeführt (262); es folgen die Regierungsbezirke Freiburg (209), Tübingen (178) und Karlsruhe (164). Mit Abstand am häufigsten finden Bürgermeisterwahlen in Gemeinden mit 2 000 bis unter 5 000 Einwohner (310) und mit 5 000 bis unter 10 000 Einwohner (203) statt.

Auch über die Einzeljahre verteilt schwankte die Zahl der Stadtoberhauptswahlen zwischen 103 (2013) beziehungsweise 106 (2011) und 165 (2015) beziehungsweise 189 (2010) beträchtlich. Die Häufung 2015 mit 165 Wahlen ist kein Zufall, sondern erklärt sich als Spätfolge der baden-württembergischen Gemeindereform zum 1. Januar 1975, als viele Kommunen nach ihrer Neugliederung 1975 den ersten Bürgermeister der neu gebildeten Gesamtgemeinde wählten.2 Eine zweite, noch größere Häufung von Bürgermeisterwahlen trat im Jahre 2010 mit 189 Wahlen auf, die zurückzuführen ist auf den Wahlrhythmus in vielen Städten und Gemeinden in der Nachkriegszeit, als 1948 erstmals die Bürgermeister in den drei Ländern Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Baden für 6 Jahre und dann 1954 auf der Rechtsgrundlage des Gesetzes zur vorläufigen Angleichung des Kommunalrechts (GAK), dem Vorläufer der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, die Bürgermeister für 8 Jahre, bei Wiederwahlen für 12 Jahre gewählt wurden. Mit der Neufassung der Gemeindeordnung vom 22. Dezember 1975 wurde die Wahlperiode auch bei Wiederwahlen auf 8 Jahre vereinheitlicht (vgl. auch i-Punkt).

Neuwahlen

Neuwahlen werden nur selten notwendig. Rechnerisch höchst unwahrscheinlich sind Neuwahlen in jedem Fall, wenn bei einer Bürgermeisterwahl nur ein oder nur zwei Kandidat(en) vorkommen (dann müsste schon eine Person über die freie Zeile eine völlig ungewöhnlich hohe Stimmenzahl erzielen). Tatsächlich waren im 6-jährigen Betrachtungszeitraum (2010 bis 2015) nur zwei Neuwahlen notwendig geworden, bei denen zwei Kandidaten im ersten Wahlgang auftraten; über ein Drittel (36 %) aller Bürgermeisterwahlen im Land waren 2015 solche mit nur zwei Kandidaten; Wahlen mit einem Kandidaten machten 21 % aller Wahlen 2015 aus.

Bei Wahlen mit drei und mehr Kandidaten steigt also die Neuwahl-Eintrittswahrscheinlichkeit stark an: Bei 17 von 64 ersten Wahlgängen 2015 mit drei oder mehr Kandidaten fiel die Entscheidung erst im zweiten Wahlgang, oder anders ausgedrückt: Bei 27 % dieser Wahlen schaffte kein Bewerber auf Anhieb mehr als 50 % der gültigen Stimmen.

Insgesamt 11 % aller Bürgermeisterwahlen im 6-jährigen Betrachtungszeitraum wurden erst im zweiten Wahlgang entschieden. Offensichtlich hat sich die Neuwahlquote in den letzten Jahren stark reduziert; so stellte Klein (2014, S. 170) fest, dass im Zeitraum 1990 bis 2009 knapp 20 % der Bürgermeisterwahlen »in die Verlängerung« gingen.

Während die Gemeindegröße die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Neuwahl nicht erhöht, kommt es in fast einem Drittel (31 %) der Wahlen, bei denen der Amtsinhaber nicht wieder antritt, zu einer Neuwahl. Oder aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: Bei drei von vier Neuwahlen (76 %) hat der bisherige Amtsinhaber bei der anstehenden Bürgermeisterwahl nicht mehr kandidiert.

Die Neuwahl muss frühestens am zweiten und spätestens am vierten Sonntag nach der Bürgermeisterwahl stattfinden. Aus wahlorganisatorischer Sicht ermöglicht ein 3-wöchiger Abstand eine geregelte Vorbereitung insbesondere mit Blick auf die Abwicklung der Briefwahl und die öffentliche Bekanntmachung der zugelassenen Bewerber (ohne das Erfordernis einer eventuellen Sonderausgabe des Amtsblatts zur Bekanntmachung der zugelassenen Bewerber). Ein 2-wöchiger Abstand erfordert hingegen hinsichtlich einer fristgerechten und rechtssicheren Wahldurchführung eine sehr straffe Organisation, dürfte aber überwiegend im Interesse der Öffentlichkeit und der Bewerber an einem möglichst zeitnahen Abschluss der Wahl und einer zeitlichen Begrenzung des Wahlkampfes sein. Deshalb überwiegen eindeutig Neuwahlen mit 2-Wochen-Abstand in der Praxis (außer 2015). Im Betrachtungszeitraum 2010 bis 2015 wurden 72 % der Neuwahlen 2 Wochen nach der Bürgermeisterwahl anberaumt.

Wenn in einem 3-Wochen-Abstand gewählt wird (2010 bis 2015: 26 % der Neuwahlen), hat das häufig terminliche Gründe, da am Oster- und Pfingstsonntag und am Totengedenktag keine Wahlen durchgeführt werden dürfen (§ 2 Abs. 3 KomWG) oder kirchliche und sonstige Feiertage (Allerheiligen, 1. Mai) oder die Faschingszeit vor dem Wahltermin eine ordnungsgemäße Wahlvorbereitung erschweren. Der gesetzlich mögliche 4-Wochen-Abstand wurde zuletzt je einmal 2010 und 2011, ebenfalls aufgrund terminlicher Notwendigkeiten, in Anspruch genommen.

Bewerbungen für Bürgermeisterwahlen – Amtsinhaber kandidiert wieder oder kandidiert nicht mehr

Bei der Besetzung der Bürgermeisterposten in Baden-Württemberg ist eine hohe personelle Kontinuität kennzeichnend. Bei beinahe zwei Drittel der Wahlen im 6-jährigen Betrachtungszeitraum (65 %) kandidierte der Amtsinhaber erneut; nur bei gut einem Drittel (35 %) der Wahlen wurden die »Karten neu gemischt«.

Amtszeiten der Bürgermeister

Für 40 % der Gewählten beginnt im Betrachtungszeitraum die erste Amtsperiode. Die übrigen 60 % sind in der Hauptsache entweder wiedergewählt für eine zweite (37 %) oder dritte Amtsperiode (16 %). Dass Bürgermeister für eine vierte (6 %) oder gar für eine fünfte (2 %) oder sechste (0,1 %) Amtszeit gewählt werden, kommt nur höchst selten vor und dann beinahe ausschließlich in Gemeinden unter 10 000 Einwohnern. Nur in Kommunen von 10 000 bis unter 20 000 Einwohner kandidieren hin und wieder auch Bürgermeister (erfolgreich) viermal hintereinander, haben also bereits 24 Amtsjahre zum Zeitpunkt der Wiederwahl hinter sich.

Eine Quote von durchschnittlich 40 % neu gewählter Bürgermeister im Betrachtungszeitfenster 2010 bis 2015 bedeutet, dass die Amtszeiten der Bürgermeister im Langfristvergleich weiter abgenommen haben. Klein (2014, S. 134) stellte für Ende 2009 nur eine entsprechende Quote von 36 % und für Anfang der 1990er-Jahre sogar nur von 33 %3 fest und erklärt dies vor allem mit einer höheren Amtsbelastung und der dadurch geringeren Neigung mehr als die versorgungsrechtlich notwendigen zwei Amtsperioden zu machen.4

Zahl der Kandidaten

Im Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2015 traten 2,5 Kandidaten bei baden-württembergischen Bürgermeisterwahlen an. In den Jahren 2010 bis 2012 schwankte dieser Wert zwischen 2,2 und 2,5. Ab 2013, mit dem Auftreten der Nein-Idee-Partei (vgl. den folgenden Abschnitt), stieg der Wert auf 2,6 bis 3,2 Kandidaten pro Wahl an.

Knapp ein Drittel (31 %) aller Bürgermeisterwahlen von 2010 bis 2015 waren Ein-Kandidaten-Wahlen; bei 28 % dieser Wahlen traten zwei und bei 19 % drei Kandidaten auf. Bei weniger als einem Viertel der Bürgermeisterwahlen traten vier oder mehr Bewerber auf).

Ist eine Neuwahl erforderlich, nimmt in aller Regel die Bewerberzahl beim zweiten Durchgang ab, und zwar um durchschnittlich 2,6 Bewerber. Nur bei 18 % der Neuwahlen von 2010 bis 2015 stagnierte die Bewerberzahl oder nahm sogar zu. Allerdings sind bei Bürgermeisterwahlen, bei denen eine Neuwahl erforderlich war, die Kandidatenzahlen mit durchschnittlich 5,6 Kandidaten mehr als doppelt so hoch als im Durchschnitt aller Bürgermeisterwahlen (2,5).

Das größte Kandidateninteresse ist nachvollziehbarerweise dann festzustellen, wenn bei einer Bürgermeisterwahl der Amtierende nicht mehr antritt; bei dieser Ausgangslage bewerben sich durchschnittlich 3,8 Bewerber pro Wahl und damit doppelt so viele als bei Wahlen mit wiederkandidierenden Amtsinhabern.

Auch bei der Betrachtung der Bewerberzahlen nach der Amtszeit des Gewählten erkennt man eine abrupte Abnahme der Bewerberzahlen von durchschnittlich 3,7 auf 1,8 Kandidaten pro Wahl ab der zweiten Kandidatur des Amtsinhabers. Die gleiche Kandidatenzahl wird im Mittel bei der dritten Kandidatur des Amtsinhabers erreicht. Bei weiteren Kandidaturen geht die Kandidatenzahl weiter zurück; aus Tabelle 6 wird deutlich, dass sich seit 2013 Kandidaturen von Vertretern der Nein-Idee-Partei vor allem in der Erhöhung der Kandidatenzahl bei wiederholten Bewerbungen von Amtsinhabern niederschlagen.

Je größer die Einwohnerzahl einer Gemeinde ist, desto größer ist tendenziell auch das Bewerberfeld bei einer Bürgermeisterwahl. In den Kleingemeinden unter 2 000 Einwohnern kandidieren im Schnitt 2,3 Kandidaten pro Wahl. Bis zur Größenklasse 10 000 bis unter 20 000 Einwohner steigt die durchschnittliche Bewerberzahl auf 2,9; die höchsten Durchschnittswerte werden in den Städteklassen 50 000 bis 100 000 Einwohner (4,3) und 100 000 bis unter 500 000 Einwohner (3,3) erzielt, bei allerdings stark variierenden Werten unter den einzelnen Städten. Aus der Reihe fällt die Landeshauptstadt mit zuletzt 14 Bewerbungen bei der Oberbürgermeisterwahl 2012.

Dass Bürgermeisterwahlen in Baden auch heute noch stärker durch Gegenspieler geprägt sind als in Württemberg (Klein 2014, S. 174), kann man an den durchschnittlichen Bewerberzahlen ablesen, die von 2010 bis 2015 in den Regierungsbezirken Freiburg und Karlsruhe bei jeweils 2,7 lagen, während in den Regierungsbezirken Stuttgart und Tübingen nur jeweils 2,4 Bewerber pro Wahl auftraten.

Unter Heranziehung der Städtetagsuntersuchung (Brugger 2008, S. 128) lässt sich in der Langfristperspektive ein Abnahmetrend der Bewerberzahlen bei Bürgermeisterwahlen in größeren Städten ab 20 000 Einwohner feststellen. Bei der Städtegruppe A des Städtetags Baden-Würt­temberg (Stadtkreise bis auf Baden-Baden alles Städte über 100 000 Einwohner) halbierte sich die Bewerberzahl vom Zeitraum 1987/95 bis zum Zeitraum 1999/2007 förmlich (von 11,2 auf 5,4 Bewerber). Eine wichtige Rolle hat die Einführung eines Unterschriftsquorums für Bewerber bei (Ober-)Bürgermeisterwahlen ab 20 000 Einwohner im Jahre 19985 gespielt. In der aktuellen Erhebung 2010 bis 2015 wird nur noch eine durchschnittliche Bewerberzahl in der Größenklasse 100 000 bis unter 500 000 Einwohner von 4,3 Bewerber gemessen.

In der Städtegruppe B (zumeist Städte größer als 20 000 Einwohner) verringerten sich die Bewerberzahlen zwischen den beiden Städtetagsbefragungszeiträumen von 6,1 auf 3,3 Bewerber. In der aktuellen Untersuchung für den Zeitraum 2010 bis 2015 beträgt die durchschnittliche Bewerberzahl der Größenklassen 20 000 bis unter 50 000 und 50 000 bis unter 100 000 Einwohner zusammen nur noch 2,7 Bewerber. Auch hier muss offen bleiben, ob der Entwicklungstrend schon länger angelegt ist und nicht nur auf die Einführung des Unterschriftenquorums zurückgeht oder sich erst in der zurückliegenden Periode 2010 bis 2015 vollzog.

In der Städtetagsgruppe C (10 000 bis 20 000 Einwohner) stagnierte die Bewerberzahl bei 3,7 in den Zeiträumen 1987/1995 und 1999/2007; im Betrachtungszeitraum 2010 bis 2015 dieser Untersuchung wurden indessen nur noch 2,9 Bewerber im Schnitt ermittelt.

Die große Masse der kleineren Gemeinden unter 10 000 Einwohner deckt die Städtetagsbefragung nicht ab; insoweit können zu diesen keine längerfristigen Trendaussagen gemacht werden.

Betrachtet man die Bewerberzahlen der Einzeljahre 2010 bis 2015 bei Gemeinden bis 20 000 Einwohner, wird ab 2013 eindeutig der Effekt der Nein-Idee-Partei sichtbar.

Das Phänomen der Nein-Idee-Partei

Seit 13. Januar 2013 gibt es in vielen Gemeinden und kleineren Städten im Land das Phänomen der Nein-Idee-Partei bei Bürgermeisterwahlen; Premiere war in der Gemeinde Oberried (Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald). Im Zeitraum 2013 bis 2015 haben seither rund 130 Bürgermeisterwahlen mit (in der Regel einem) ortsfremden Kandidaten der Nein-Idee-Partei stattgefunden. Nach eigenem Bekunden treten die Nein-Kandidaten an, »um die Wahlen wieder zu echten und demokratischen Wahlen zu machen«, als Alternative zum Nichtwählen, vor allem bei Wahlen mit nur einem Kandidaten.6 Sollte der Fall eintreten, dass ein Nein-Kandidat gewählt würde, würde dieser die Wahl nicht annehmen und die Bürgermeisterwahl wäre neu anzusetzen. Nicht selten bleiben diese Bewerber auch den öffentlichen Bewerbervorstellungen in den Gemeinden vor den Wahlen fern.

Eine rechtliche Bewertung des Phänomens Nein-Idee-Partei fällt indessen eher ambivalent aus. Einerseits könnte man von einer rechtlichen »Grauzone« oder einer »Scheinkandidatur« sprechen7, andererseits liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der freien Wahl insoweit nicht vor, da die Vertreter der Nein-Idee-Partei die Nichtannahme des Amtes im Falle einer Wahl im Wahlkampf explizit kommunizieren.

Im Wesentlichen handelt sich bei den Nein-Bewerbern um wenige Personen, die abwechselnd in den verschiedenen Gemeinden kandidieren. Auf insgesamt vier (ausschließlich männliche) Kandidaten gehen von 2013 bis 2015 78 % aller Nein-Kandidaturen bei Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg zurück.

Im Zeitraum 2013 bis 2015 kandidierten bei 36 % aller Bürgermeisterwahlen in Gemeinden unter 20 000 Einwohner Bewerber der Nein-Idee-Partei. Nein-Kandidaten treten im Normalfall nicht auf in Städten ab 20 000 Einwohner, in denen als weitere Zulassungsvoraussetzung ein Unterschriftenquorum erforderlich ist.

Infolge dieser Entwicklung ging die durchschnittliche Kandidatenzahl leicht nach oben (2012: 2,3; ab 2013: mindestens 2,6 Kandidaten pro Wahl). Vor allem gingen die Wahlen mit nur einem Kandidat – und das wiederum verstärkt im Jahre 2013 – zurück. Waren von 2010 bis 2012 knapp die Hälfte (45 %) der Wahlen Ein-Kandidaten-Wahlen, ging dieser Anteil 2013 bis 2015 auf 16 % zurück; entsprechend stark gestiegen ist der Anteil von Wahlen mit zwei Kandidaten von 20 % (2010 bis 2012) auf 37 % (2013 bis 2015).

Im Durchschnitt erzielten die Bewerber der Nein-Idee-Partei zwischen 4 und 5 % Stimmenanteile. Dabei ist allerdings eine ausgesprochen große Bandbreite an Stimmenanteilen festzustellen. Sie reicht von marginalen Stimmenanteilen von unter 1 % bis zu zweistelligen Ergebnissen zwischen 10 und 20 %; das höchste Ergebnis bislang waren 34,9 % (Ochsenhausen, 2015). In diesen Fällen konnten die Bewerber der Nein-Idee-Partei die vorhandenen Unzufriedenheitspotenziale mit den sich wiederbewerbenden Amtsinhabern auf sich ziehen.

Zusammenfassung

Die vorliegende Untersuchung zu den Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg basiert auf der systematischen wöchentlichen Berichterstattung im Staatsanzeiger für Baden-Württemberg über die stattgefundenen Wahlen im Land. 813 Wahlen gab es im Betrachtungszeitraum 2010 bis 2015. Dabei schwankte die Zahl der Wahlen pro Jahr beträchtlich (von 103 bis 189). Zweimal innerhalb eines 8-jährigen Amtszeitzyklus kommt es zu einer Häufung von Bürgermeisterwahlen, was seine Ursachen zum einen im historischen Wahlrhythmus seit den ersten Bürgermeisterdirektwahlen 1948 und zum anderen im Wahlrhythmus der vielen neu angesetzten Wahlen nach Abschluss der Gebietsreform 1975 hat.

Geprägt wird das Bild der Bürgermeisterwahlen von der Vielzahl an Wahlen in Gemeinden unter 10 000 Einwohner, auf die insgesamt gut drei Viertel (76 %) aller Bürgermeisterwahlen entfallen.

Nur sehr selten werden Bürgermeisterwahlen nicht auf Anhieb mit der absoluten Mehrheit der gültigen Stimmen entschieden, was eine Neuwahl, zumeist 2 Wochen nach dem ersten Wahlgang, zur Folge hat. Von 813 Bürgermeisterwahlen im Zeitraum 2010 bis 2015 werden nur 90 (11 %) erst durch eine Neuwahl entschieden. Zu Neuwahlen kommt es in der Regel nur, wenn mindestens drei Kandidaten auftreten, was im Übrigen nur auf gut 40 % aller Bürgermeisterwahlen im Land zutrifft. Tritt der Amtsinhaber nicht mehr an, kommt es fast bei jeder dritten Wahl (31 %) zu einer Entscheidung erst bei der Neuwahl. Bei gut drei Viertel (76 %) aller Neuwahlen war der bisherige Amtsinhaber nicht mehr angetreten.

Die Besetzung der Bürgermeisterposten im Land zeichnet nach wie vor eine hohe personelle Kontinuität aus: Bei zwei Drittel der Wahlen von 2010 bis 2015 kandidierte der Amtsinhaber erneut. Berücksichtigt man noch die Abwahlen, dann sind durchschnittlich 40 % der gewählten Bürgermeister erstmals in ihr Amt gewählt worden. Damit haben sich die Amtszeiten der Bürgermeister, wie der Vergleich mit älteren Studien zeigt, weiter verringert.

Im Schnitt traten bei den Bürgermeisterwahlen 2010 bis 2015 2,5 Kandidaten an. Eine Veränderung trat mit dem Auftauchen der Vertreter der Nein-Idee-Partei ab 2013 auf. Waren zwischen 2010 und 2012 noch durchschnittlich 2,2 bis 2,5 Kandidaten pro Wahl angetreten, steigerte sich dieser Wert ab 2013 auf 2,6 bis 3,2. Die Kandidatenzahl steigt mit der Einwohnerzahl einer Gemeinde tendenziell an. Tritt der Amtsinhaber nicht mehr an, ist das Bewerberinteresse mit durchschnittlich 3,8 Kandidaten etwa doppelt so hoch als bei den Folgekandidaturen der Amtsinhaber. Auch bezüglich der Kandidatenzahlen ist von einem längerfristig angelegten rückläufigen Trend auszugehen.

Literatur- und Quellenverzeichnis

  • Brugger, Norbert: Welche Wahlbeteiligungsquote ist zu erwarten? Antworten auf diese und elf andere häufige Fragen zu Kommunalwahlen in Baden-Württemberg, in: Statistik und Informationsmanagement, Landeshauptstadt Stuttgart, Monatsheft 5/2008, S. 119–132.
  • Kern, Timm: Warum werden Bürgermeister abgewählt? Eine Studie aus Baden-Württemberg über den Zeitraum von 1973 bis 2003. Stuttgart 2007.
  • Klein, Alexandra: Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg. Wahlbeteiligung, Wahltypen und Sozialprofi l. Stuttgart 2014.
  • Roth, Norbert (Hrsg.): Position und Situation der Bürgermeister in Baden-Württemberg. Stuttgart 1998.
  • Wehling, Hans-Georg: Bürgermeister, in: Remmert/Wehling: Die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung. Stuttgart 2012, S. 61–67.
  • Wehling, Hans-Georg/ Siewert, Hans-Jörg: Der Bürgermeister in Baden-Württemberg. Stuttgart 1984.

1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden bei Funktionsbezeichnungen die männliche Form benutzt; selbstverständlich gelten die jeweiligen Ausführungen auch für weibliche Personen und Bezeichnungen in gleicher Weise. Außerdem wird der Begriff Bürgermeisterwahlen auch für die Wahlen der Oberbürgermeister in Städten ab 20 000 Einwohner verwendet.

2 Soweit sich der 8-jährige Turnus nicht durch frühzeitiges Ausscheiden des Bürgermeisters veränderte; vgl. Klein, 2014, S. 151 und Schabert, Hans: Bürgermeister-Wahltermine kein Zufall. Schwarzwälder Bote vom 06.10.2015.

3 Auch in der Städtetagsuntersuchung stellt Brugger (2008, S. 128) diese Tendenz fest.

4 Bürgermeister erhalten bereits nach Ablauf von mindestens 12 Dienstjahren ein Ruhegehalt; gleiches gilt auch für Bürgermeister, die mindestens 45 Jahre alt sind und insgesamt 18 Jahre als Beamte tätig waren (§ 37 Landesbeamtengesetz). Sie müssen sich mindestens einmal zur Wiederwahl stellen, um in den Ruhestand gehen zu können. Nach zwei vollständigen Amtsperioden können sie in den Ruhestand mit fast der Hälfte ihrer bisherigen Bezüge gehen (vgl. Klein, 2014, S. 135).

5 Kommunalwahlgesetz (KomWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 01.09.1983, geändert durch Gesetz zur Änderung des kommunalen Verfassungsrechts vom 16.07.1998 (GBI. S. 418).

6 Vergleiche Nein-Idee (www.nein-idee.de), 29.01.2016.

7 Vergleiche Müller, Reinhard: Der getäuschte Wähler, FAZ vom 10.03.2016. In der Kommentierung des Kommunalwahlrechts Baden-Württemberg zu § 10 KomWG (Quecke/Gackenholz/Bock: Das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg. Kommentar, 6. Auflage, Stuttgart 2014, RN 8c, S. 199) wird die Frage diskutiert, ob es sich hier­bei überhaupt um »Bewerber« im Sinne des KomWG handelt oder der Bewerber »nicht wählbar« im Sinne des § 10 Abs. 5 Satz 2 KomWG ist, da diese Bewerbungen nicht auf die Aufnahme des Amts gerichtet sind, sondern andere, politische und Protestziele verfolgen. Für eine entsprechende Auslegung insbesondere über den Ausschluss der Wählbarkeit in § 46 Abs. 2 GemO wird aber bisher keine Stütze gesehen. Auch wird kein grundsätzlicher Unterschied zu »Postkarten«-Bewerber oder »Jux-Kandidaten«, deren Bewerbungen von vorneherein nicht ernsthaft sind, gesehen.