:: 2/2017

Stoppt die hohe Zuwanderung den demografischen Wandel?

Modellrechnungen zur künftigen Alterung der Bevölkerung in Baden-Württemberg

»Der Untergang ist abgesagt – wider die Mythen des demografischen Wandels«, so der aktuelle Buchtitel von Thomas Straubhaar. Darin begründet der Schweizer Ökonom und Migrationsforscher seine Einschätzung, dass der demografische Wandel Deutschland nicht in seiner Existenz bedrohe, sondern vor allem Chancen für Veränderungen schaffen wird.1 Andere Autoren stellen die Frage, ob die derzeit hohe Zuwanderung dazu führen wird, dass die Alterung der Gesellschaft sogar ausbleiben könnte, da die Zugezogenen deutlich jünger als die einheimische Bevölkerung seien. 2

Dieser Frage soll auch im folgenden Beitrag nachgegangen werden. Konkret ist es das Ziel, mit Hilfe von Modellrechnungen herauszufinden, ob eine anhaltend hohe Zuwanderung den demografischen Wandel in Baden-Württemberg tatsächlich aufhalten könnte. Zuvor wird aber noch das vergangene Wanderungsgeschehen und die in der aktuellen Bevölkerungsvorausrechnung für den Südwesten ermittelte künftige Entwicklung kurz skizziert.

Blick zurück: Seit 1952 zogen per Saldo 3,5 Mill. Menschen zu

Baden-Württemberg hat wie kaum ein anderes Bundesland von Zuwanderungen profitiert. Seit der Gründung des Landes Baden-Württemberg im Jahr 1952 sind per Saldo rund 3,5 Mill. Menschen zugezogen. Dieser hohe Wanderungsgewinn war vor allem auf Flüchtlings- und Vertriebenenströme nach dem zweiten Weltkrieg, Gastarbeiterzuwanderung sowie Arbeitskräftezuwanderung aus anderen Teilen Deutschlands, Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und die einigungsbedingte Zuwanderung aus den neuen Bundesländern3 zurückzuführen.

In den vergangenen Jahren wurde das Wanderungsgeschehen insbesondere durch die enorme Zuwanderung aus den Staaten der Europäischen Union4 und seit 2015 vor allem durch einen starken Anstieg an Schutzsuchenden geprägt. Im Jahr 2015 zogen per Saldo über 170 000 Menschen in den Südwesten.5 Letztmals war der Wanderungsgewinn 1990, also im Jahr der Wiedervereinigung, höher. Die meisten Menschen kamen im Jahr 2015 aus Syrien, per Saldo 35 900. Mit deutlichem Abstand folgte die Zuwanderung aus den Herkunftsstaaten Rumänien (+19 900) und Kroatien (+11 000). An vierter und fünfter Stelle rangierten erneut Staaten, aus denen viele Flüchtlinge kamen, nämlich Irak und Afghanistan.

Dieser Zuzug hat bewirkt, dass die Alterung der Bevölkerung abgeschwächt wurde, da die Zugezogenen deutlich jünger als die einheimische Bevölkerung waren. So lag beispielsweise das Durchschnittsalter der über die Landesgrenze zugezogenen Personen im Jahr 2015 bei 30 Jahren6 und damit um immerhin 13 Jahre niedriger als bei der bereits in Baden-Württemberg lebenden Bevölkerung.

Aktuelle Bevölkerungsvorausrechnung: Bevölkerungsrückgang nach 2024

Mit welcher künftigen Zuwanderung ist aus heutiger Sicht zu rechnen und wie ist diese im Hinblick auf den demografischen Wandel zu bewerten? Das Statistische Landesamt führte hierzu im Herbst 2015 eine neue Bevölkerungsvorausrechnung durch, in der auch für die kommenden Jahre eine relativ hohe Zuwanderung unterstellt wurde.7

Nach dieser Vorausrechnung könnte die Einwohnerzahl des Landes noch bis zum Jahr 2024 um rund 420 000 auf dann 11,14 Mill. ansteigen. Anschließend ist mit einem Bevölkerungsrückgang zu rechnen, weil sich das bestehende Geburtendefizit (weniger Geburten als Sterbefälle) aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung stetig vergrößern wird. Dieses Defizit kann aller Voraussicht nach nicht mehr durch Zuwanderung ausgeglichen werden. Die Einwohnerzahl im Südwesten könnte deshalb im Jahr 2060 um etwas mehr als 150 000 Personen unter dem Niveau des Jahres 2015 liegen.

Das bedeutet, dass die erwartete weiterhin relativ hohe Zuwanderung (nur) bis zum Jahr 2024 verhindert, dass die Einwohnerzahl zurückgeht. Gleichzeitig wird sich die Alterung fortsetzen – aufgrund der Zuwanderung von überwiegend jungen Menschen allerdings etwas abgeschwächt. Das Durchschnittalter der Bevölkerung könnte sich stetig von derzeit gut 43 Jahren bis zum Jahr 2060 auf 48 Jahre erhöhen. Der Anteil der 65-Jährigen und Älteren dürfte von knapp 20 % auf annähernd 30 % ansteigen und der Altenquotient, also das zahlenmäßige Verhältnis der nicht mehr Erwerbstätigen zu denjenigen im erwerbsfähigen Alter, könnte sich von 33 % auf 56 % erhöhen.

Was bedeutet überhaupt »demografischer Wandel«?

Angesichts dieser Vorausrechnungsergebnisse ist es unwahrscheinlich, dass sich der demografische Wandel auf lange Sicht aufhalten lässt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob dies überhaupt möglich wäre. Konkret: Könnte eine – aus heutiger Sicht – unrealistisch hohe Zuwanderung den demografischen Wandel stoppen?

Bevor diese Frage beantwortet werden kann, ist aber zuvor noch genauer zu definieren, was überhaupt mit »demografischem Wandel« gemeint ist. Hierunter wird üblicherweise insbesondere Folgendes verstanden:8

  • 1. Ein Rückgang der Einwohnerzahl.
  • 2. Die Alterung der Bevölkerung; diese kann beispielsweise anhand der Veränderung des Durchschnittsalters der Bevölkerung oder des Anteils der 65-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung gemessen werden.

Im Folgenden sollen beide Aspekte betrachtet und hierzu folgende Modellrechnungen/Szenarien für Baden-Württemberg durchgeführt werden:9

  • Welcher jährliche Wanderungsgewinn wäre erforderlich, um den errechneten Bevölkerungsrückgang ab 2025 zu verhindern? (Modellrechnung M1).
  • Welcher jährliche Wanderungsgewinn wäre notwendig, um den errechneten Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20- bis unter 65-Jährige) ab 2021 zu verhindern? (Modellrechnung M2).
  • Welcher jährliche Wanderungsgewinn wäre erforderlich, um die derzeitige Altersstruktur konstant zu halten und zwar gemessen an folgenden Kenngrößen:
    • Durchschnittsalter (Modellrechnung M3a);
    • Anteil der 65-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung (Modellrechnung M3b);
    • Altenquotient (65-Jährige und Ältere bezogen auf 100 Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahren; Modellrechnung M3c).

Konstante Einwohnerzahl bis 2060 – jährliche Nettozuwanderung von 28 000 Personen erforderlich

Nach der aktuellen Bevölkerungsvorausrechnung würde – wie bereits gezeigt – die Einwohnerzahl im Südwesten ab dem Jahr 2025 zurückgehen. Um dies bis zum Jahr 2060 zu verhindern, wäre nach der Modellrechnung M1 ein Wanderungsgewinn von insgesamt 1,02 Mill. Personen ab 2025 erforderlich. Das wären annähernd 300 000 Personen mehr als in der aktuellen Bevölkerungsvorausrechnung unterstellt. Der durchschnittliche jährliche Wanderungsgewinn läge dann bei rund 28 000 Personen – und damit in einer durchaus realistischen Größenordnung. Zum Vergleich: Im 1. Jahrzehnt dieses Jahrhunderts lag der jährliche Wanderungssaldo bei durchschnittlich knapp 26 000 Personen und damit nur geringfügig niedriger.

Die Alterung der Bevölkerung könnte durch diese Wanderungsgewinne bei weitem nicht aufgehalten werden. Das Durchschnittsalter würde von derzeit gut 43 Jahren bis 2060 auf annähernd 48 Jahre ansteigen, der Anteil der 65-Jährigen und Älteren von derzeit knapp 20 % auf fast 30 %. Die Alterung wäre damit nur geringfügig schwächer als bei den Ergebnissen der aktuellen Bevölkerungsvorausrechnung.

Konstante Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – jährliche Nettozuwanderung von über 50 000 Personen notwendig

In der aktuellen Diskussion um die wirtschaftliche Zukunft des Landes wird unter anderem befürchtet, dass der demografisch bedingte Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter auch zu einem Arbeitskräftemangel führen wird. Es stellt sich deshalb die Frage, welches Zuwanderungsvolumen erforderlich wäre, um diesen Rückgang zu verhindern.

Nach der aktuellen Bevölkerungsvorausrechnung wird die Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter ab dem Jahr 2021 absinken. Soll dagegen deren Zahl bis 2060 nach der Modellvariante M2 unverändert bleiben, wäre ein durchschnittlicher jährlicher Wanderungsgewinn ab dem Jahr 2021 von rund 53 000 Personen erforderlich. Die Einwohnerzahl des Landes würde dann bis 2060 auf 12,4 Mill. ansteigen. Eine solche Entwicklung über mehr als 4 Jahrzehnte lang ist nicht ausgeschlossen, denn der jährliche Wanderungsgewinn lag auch in den letzten 40 Jahren immerhin bei 46 000 Personen.

Auch unter diesen Voraussetzungen käme die Alterung der Bevölkerung aber nicht zum Stillstand, sondern würde nur abgeschwächt werden. Das Durchschnittsalter würde bis 2060 um rund 4 Jahre auf etwa 47 Jahre ansteigen; der Anteil der 65-Jährigen und Älteren würde sich um gut 8 Prozentpunkte auf ca. 28 % erhöhen.

Weshalb kann die Alterung auch durch eine verhältnismäßig hohe Zuwanderung der Bevölkerung nicht aufgehalten werden? Zum einen wird die Alterung mittel- und langfristig weniger durch die Bevölkerungsbewegungen, also durch Geburten, Sterbefälle und Wanderungen, als vielmehr durch die derzeitige Bevölkerungsstruktur bestimmt.10 Zum anderen werden natürlich auch die Zugezogenen im Zeitablauf älter. Dadurch »verpufft« der Verjüngungseffekt im Laufe der Zeit auch dann, wenn vergleichsweise junge Menschen zuziehen.11

Konstantes Durchschnittsalter – jährlich müssten per Saldo knapp 230 000 Personen zuziehen!

Die Modellrechnungen M1 und M2 haben ergeben, dass das Eintreffen dieser Szenarien gemessen an der vergangenen Entwicklung nicht ausgeschlossen ist. Ganz anders sieht es dagegen aus, wenn nicht »nur« eine Konstanz der Einwohnerzahl oder der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter angestrebt wird, sondern die Alte­rung der Bevölkerung »verhindert« werden soll.

Das Durchschnittsalter der baden-württembergischen Bevölkerung würde nach der aktuellen Bevölkerungsvorausrechnung bis 2060 um rund 5 Jahre auf 48 Jahre ansteigen. Eine Konstanz des Durchschnittsalters bis zum Jahr 2060 würde dagegen nach der Modellrechnung M3a einen Wanderungsgewinn von jährlich knapp 230 000 Personen erfordern. Ein so hohes Wanderungsplus wurde seit Bestehen des Landes in keinem Jahr erreicht!

Noch unrealistischer wären die Szenarien »konstanter Anteil der 65-Jährigen und Älteren« (Modellrechnung M3b) sowie »konstanter Altenquotient« (Modellrechnung M3c): Hierzu wäre ein jährlicher Wanderungsgewinn von knapp 340 000 bzw. rund 350 000 Personen erforderlich! Die Einwohnerzahl des Landes würde dann bis zum Jahr 2060 jeweils auf rund 29 Mill. ansteigen! Dieser völlig utopische Anstieg der Einwohnerzahl würde hierbei nicht nur aus den unterstellten Wanderungsgewinnen resultieren. Vielmehr würde die hohe Zuwanderung auch sehr hohe Geburtenüberschüsse bewirken, weil die Zahl der Geburten aufgrund der Altersstruktur der Zuziehenden deutlich stärker als die der Sterbefälle ansteigen würde.

Fazit: Die Alterung der Bevölkerung kann nicht aufgehalten werden …

Die vorgelegten Modellrechnungsergebnisse haben gezeigt, dass zumindest das (mögliche) Ziel einer langfristig konstanten Einwohnerzahl Baden-Württembergs durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Und auch die Erreichung des Ziels, das Erwerbspersonenpotenzial bis 2060 konstant zu halten, ist nicht ausgeschlossen: Der durchschnittliche jährliche Wanderungsgewinn müsste dann über mehr als 4 Jahrzehnte lang bei rund 53 000 Personen liegen. Ein Nettozuwanderung in dieser Größenordnung wurde in mehreren Jahrzehnten seit Bestehen des Landes erreicht bzw. sogar übertroffen – allerdings auch nur deshalb, weil damals besondere Rahmenbedingungen galten, so zum Beispiel in den 1960er-Jahren die Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und verschiedenen Staaten oder die politischen Umwälzungen in den 1990er-Jahren.

Völlig unrealistisch wäre aber das Ziel, die Alterung der Gesellschaft aufzuhalten. Um das Durchschnittsalter bis zum Jahr 2060 konstant zu halten, wäre ein jährlicher Wanderungsgewinn von knapp 230 000 Personen erforderlich!

… was mit erheblichen Konsequenzen für die Rentenversicherungssysteme verbunden ist

Noch unrealistischer wäre – wie gezeigt – das Ziel eines konstanten Altenquotienten. Vielmehr ist praktisch »vorprogrammiert«, dass der Zahl potentieller Rentenempfänger längerfristig eine abnehmende Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter gegenübersteht. Derzeit kommen 33 Personen im Alter von 65 und mehr Jahren auf 100 Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahre, die vereinfacht der Bevölkerung im Erwerbsalter zugerechnet werden können. Noch 1980 gab es lediglich 25 Ältere je 100 Personen im erwerbsfähigen Alter. Bereits bis zum Jahr 2030, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der frühen 1960er-Jahre (»Babyboomer«) überwiegend aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sein werden, könnte der Altenquotient auf 43 ansteigen.

Diese Berechnungen zeigen, welche großen Herausforderungen auf die Rentenversicherung aufgrund der demografischen Entwicklung zukommen werden. Allerdings ist bei einer Bewertung dieser Entwicklung zu bedenken, dass die tatsächlichen, ökonomischen »Belastungen« der erwerbsfähigen Bevölkerung aller Voraussicht nach weniger stark zunehmen dürften. Zum einen ist zu erwarten, dass vor allem die Erwerbsbeteiligung der Frauen auch künftig weiter ansteigen wird. Zum anderen wird sich die Zahl älterer Menschen, die erwerbstätig sein werden, aller Voraussicht nach erhöhen.12 Schließlich wird argumentiert, dass auch Produktivitätszuwächse bei entsprechenden Berechnungen zu berücksichtigen seien.13