:: 5/2018

Wanderungen: Es kommt (auch) auf die Größe an

In den vergangenen Jahren gab es relativ wenig Veränderung der Geburten- und Sterbefallentwicklung in Baden-Württemberg. Die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung entsteht daher im Wesentlichen aus den Wanderungsbewegungen. Zu- und Fortzüge unterscheiden sich zwischen verschiedenen Jahren häufig deutlich. Nichtsdestotrotz sind langfristige Trends erkennbar. In den vergangenen 10 Jahren hatten größere Gemeinden durchschnittlich relativ größere Nettozuwanderungen als kleinere. Dementsprechend sind größere Gemeinden tendenziell stärker durch das Wanderungsgeschehen geprägt. Aber es gibt Ausnahmen.

Die Bedeutung von Wanderungen

Die Entwicklung der Bevölkerung wird durch die natürliche Bevölkerungsentwicklung (Geburten- und Sterbefälle) sowie das Wanderungsgeschehen bestimmt. Deutschland ist historisch in starkem Maße durch Migrationsbewegungen geprägt. Die Bundesrepublik zählt seit ihrer Gründung zu den wichtigsten Einwanderungsländern der Welt.1 Zunächst wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Vertriebene und Flüchtlinge aufgenommen. Im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte gab es weitere Zuwanderungsströme: Es kamen Menschen aus dem Gebiet der DDR, Gastarbeiter verschiedenster Nationalitäten sowie (Spät-)Aussiedler aus Osteuropa. Nach Baden-Württemberg und in die anderen alten Bundesländer wanderten nach dem Zusammenbruch der DDR Menschen aus den neuen Bundesländern ein. All diese Wanderungen hatten neben steigenden Einwohnerzahlen auch Auswirkungen auf die Alters- und Geschlechterzusammensetzung der Bevölkerung.

Wie die im vorherigen Absatz genannten »Zuwanderungswellen« bereits vermuten lassen, schwanken Wanderungszahlen von Jahr zu Jahr durchaus stark; der Wanderungssaldo war allerdings seit 2006 durchgängig positiv. Dadurch kam es trotz eines durchgängigen Geburtendefizits in diesem Zeitraum zu steigenden Einwohnerzahlen in Baden-Württemberg.2

Betrachtet man die Bevölkerungsvorausrechnung, wird die Relevanz der Zu- und Abwanderungen ebenso deutlich. Die aktuelle Bevölkerungsvorausrechnung zur Basis 2014 liegt als Modellrechnung mit und ohne Wanderungen vor. Im Vergleich beider Modelle kann der Einfluss der Wanderungen dargestellt werden.

Die Vorausrechnung, die Wanderungen mit einbezieht, ergibt zunächst ein moderates Wachstum der Bevölkerung vom Ausgangsjahr 2014 um gut 400 000 Personen bis 2024. Danach kommt es bis zum Ende der Vorausrechnungsperiode im Jahr 2035 voraussichtlich nur zu einem marginalen Rückgang der Bevölkerungszahl, wodurch im Jahr 2035 im Vergleich zum Ausgangsjahr 2014 immer noch rund 400 000 Einwohner mehr im Land leben werden. Betrachtet man dagegen die Variante ohne Wanderungen, so ist in keinem einzigen Jahr von einem Bevölkerungswachstum auszugehen. Insgesamt würde, sofern die Annahmen der Vorausrechnung zutreffen, vom Jahr 2014 bis 2035 ein Rückgang der Einwohnerzahl um etwa 550 000 Personen stattfinden. Somit ist festzuhalten, dass lediglich aufgrund der Wanderungsströme eine positive Bevölkerungsentwicklung zu erwarten ist.

Jedoch sind nicht alle Gebiete Baden-Württembergs im gleichen Maße durch Wanderungen geprägt. Im Beitrag von Werner Brachat-Schwarz3 wurde detailliert die Wanderungssituation der Großstädte über 100 000 Einwohner beleuchtet. In diesem Text wird auch auf die Situation in weniger großen Gemeinden des Landes eingegangen, wenn auch nicht in der gleichen analytischen Tiefe. Es zeigt sich, dass die Größe der Gemeinde, hier durch Gemeindegrößenklassen gegliedert, einen klaren Einfluss auf das Wanderungsgeschehen hat (siehe auch i-Punkt).

Je größer, desto mehr Zuzüge …

Das Wanderungsgeschehen setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, den Zuzügen und den Fortzügen. Die Differenz aus Zu- und Fortzügen ist der Wanderungssaldo, welcher die Nettozuwanderung, bzw. -abwanderung angibt. Um Vergleichbarkeit zwischen den Gemeindegrößenklassen herzustellen, werden die Wanderungsbewegungen als Rate bezogen auf 1 000 Einwohner der jeweiligen Größenklasse dargestellt.

Innerhalb der letzten 10 Jahre gab es in allen Gemeindegrößenklassen einen deutlichen Anstieg der jährlichen Zuwanderungsraten, teilweise bedingt durch den Zustrom Schutzsuchender insbesondere in den Jahren um 2015. Vor allem in den kleineren Gemeinden bis unter 50 000 Einwohner war bis 2010 die durchschnittliche Zuwanderungsrate relativ konstant. Gemeinden unter 2 000 Einwohner verzeichneten in den Jahren 2009 und 2010 sogar einen deutlichen Rückgang der Zuwanderungen je 1 000 Einwohner. Die Gemeinden ab 50 000 Einwohnern konnten im Durchschnitt bereits vor 2010 Anstiege der Zuwanderungsrate verzeichnen. Ab dem Jahr 2011 stiegen dann in allen Größenklassen die Zuwanderungsraten deutlich und erreichten im Jahr 2015 ihren vorläufigen Höhepunkt.

Je größer die Gemeindegrößenklasse, desto höher war im Durchschnitt der betrachteten Jahre tendenziell die Zuwanderungsrate. Die Zuzüge nahmen also in der Tendenz überproportional mit der Größe der Gemeinde zu.

… das gilt auch für Fortzüge

Grundsätzlich stellt sich die Entwicklung der Fortzüge sehr ähnlich zur Entwicklung der Zuzüge dar. Bis einschließlich des Jahres 2010 gab es nur moderate Schwankungen in der Rate der Fortzüge, wobei größere Gemeinden eher einen Anstieg verzeichneten. Ab dem Jahr 2011 ließen sich dann über alle Gemeindegrößenklassen hinweg deutliche Anstiege der Abwanderungsraten feststellen, welche im Jahr 2016 ihren Höhepunkt erreichten.

Wie bei den Zuzügen, stieg auch bei den Fortzügen die Rate mit der Größe der Gemeinde, allerdings schwächer als bei den Zuzügen. Für die Gemeindegrößenklassen unter 50 000 Einwohner kam es zu keiner stetigen Zunahme der Fortzugsraten. Erst für die Gemeindegrößenklassen ab 50 000 Einwohner stiegen die Abwanderungen je 1 000 Einwohner deutlich und durchgängig an.

Wanderungssaldo in den Größenklassen

Während Zu- und Fortzüge einen guten Überblick über die Dynamik der Bevölkerung geben, ist für die Bevölkerungsentwicklung der Wanderungssaldo relevant.

Bei der Betrachtung des Zeitverlaufs zeigt sich, dass die Fortzüge in jeder Gemeindegrößenklasse weniger stark zunahmen als die Zuzüge, das heißt, die Wanderungsbilanz wurde in allen Gemeindegrößenklassen »positiver«. Schaubild 3 gibt einen Überblick über die Entwicklung der Wanderungssalden im Zeitverlauf, sowohl auf Landesebene als auch im Vergleich zweier Größenklassen.

Die Unterschiede der Wanderungssalden zwischen den Gemeindegrößenklassen sind generell besonders markant. Je größer die Gemeindegrößenklasse, desto höher war in den Jahren 2006 bis 2016 auch der durchschnittliche Wanderungssaldo je 1 000 Einwohner. Während die Kommunen unter 2 000 Einwohner in diesem Zeitraum kaum von einer Nettozuwanderung profitierten, konnten solche mit 2 000 bis 4 999 Einwohnern bereits einen Nettozuzug von rund 1,5 Personen je 1 000 Einwohner verzeichnen. Kommunen mit über 10 000 Einwohnern unterschieden sich mit 4,7 Nettozuzügen je 1 000 Einwohner deutlich von der darunterliegenden Größenklasse (2,8 Nettozuzüge). Dasselbe gilt für Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern mit 7,9 Zuzüge gegenüber 5,9 Zuzügen in der Größenklasse darunter.

Brachat-Schwarz nennt in seinem oben genannten Artikel folgende Gründe dafür: Grundsätzlich hat ganz Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren von einem insgesamt positiven Wanderungssaldo, insbesondere aufgrund von Zuzügen aus den Staaten der Europäischen Union profitiert. In den Jahren um 2015 kamen Wanderungsgewinne durch den Zuzug von Asylsuchenden hinzu. Die Großstädte waren dabei vor allem das Wanderungsziel von jungen Erwachsenen, die wahrscheinlich zu Studiums- oder Ausbildungszwecken dorthin zogen. Diese Wanderungen gewinnen dadurch an Einfluss, dass immer mehr Personen eines Altersjahrgangs studieren. Andere Altersgruppen verlassen in der Tendenz eher die Städte. Familien ziehen tendenziell aus den Städten in das Umland, möglicherweise bedingt durch die bestehende Wohnungsknappheit und die daraus resultierenden Wohnpreise oder möglicherweise auch aufgrund einer gestiegenen Attraktivität der ländlicheren Räume. Ebenso verhält es sich mit älteren Personen, die ihren »Altersruhesitz« tendenziell in landschaftlich attraktiven Regionen wählen. Hinzu kommen dort auch nicht selbst gewählte Wanderung, etwa aufgrund der Notwendigkeit der Pflege durch Angehörige oder in einer Pflegeeinrichtung.

Unterschiedlich große Gemeinden sind also in unterschiedlich großem Maße durch Wanderungen geprägt. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn man die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung der letzten 10 Jahre der theoretischen Bevölkerungsentwicklung ohne Wanderungen gegenüberstellt. Bei Gemeinden bis 1 999 Einwohner war die grundsätzliche Bedeutung der Wanderungen für die Bevölkerungsentwicklung relativ gering. Wanderungen hätten dort lediglich ein Bevölkerungswachstum um 0,4 % verursacht. In den Gemeinden mit 2 000 bis 4 999 Einwohnern wäre alleine durch Wanderungen ein Bevölkerungswachstum um knapp 1,7 % und damit gut das Vierfache der kleinsten Größenklasse, erreicht worden. Bei der darauffolgenden Größenklasse von 5 000 bis 9 999 Einwohner wäre es annähernd zu einer Verdopplung dieses Wertes gekommen, hier wären etwa 3,1 % Bevölkerungswachstum durch Wanderungen zu verzeichnen gewesen. Die Gemeinden mit 10 000 bis 19 999 Einwohnern hätten nur durch Wanderungen bereits einen Bevölkerungsanstieg von über 5,1 % erreicht. Der so theoretisch verursachte Bevölkerungsanstieg nimmt mit der Gemeindegrößenklasse weiter zu, so hätten von 20 000 bis 49 999 Einwohner gut 5,6 % und von 50 000 bis 99 999 Einwohner 6,5 % Wachstum verzeichnet werden können. Für die Großstädte ab 100 000 Einwohner nahmen die Wanderungen eine noch größere Bedeutung ein, hier wären rund 8,7 % Bevölkerungswachstum ausschließlich durch Wanderungen erzielt worden.

Da in keiner Gemeindegrößenklasse eine positive natürliche Bevölkerungsentwicklung vorlag, sind ausschließlich die Wanderungen für gegebenenfalls steigende Einwohnerzahlen ausschlaggebend.

Unterschiede auf Gemeindeebene

Auch wenn sich auf der aggregierten Ebene der Gemeindegrößenklassen eine eindeutige Korrelation zwischen der Größe der Gemeinde und dem Wanderungsverhalten, insbesondere dem Wanderungssaldo, zeigte, so gab es innerhalb der Klassen eine Bandbreite an Entwicklungen. So hatte etwa bei den Gemeinden bis 1 999 Einwohner Untermarchtal im Alb-Donau-Kreis (2016: 908 Einwohner) den deutlich höchsten Nettozuwachs durch Wanderungen in den letzten 10 Jahren. Dieser betrug rund 26 Personen je 1 000 Einwohner. Hingegen hatte die größte Gemeinde der entsprechenden Größenklasse, Adelberg im Kreis Göppingen (2016: 1 990 Einwohner), eine Nettoabwanderung von fünf Personen je 1 000 Einwohner im entsprechenden Zeitraum. Mit rund 26 Personen je 1 000 Einwohner hatte Untermarchtal gemeinsam mit Bad Krozingen im Kreis Breisgau-Hochschwarzwald sogar die größte Nettozuwanderungsrate aller Gemeinden Baden-Württembergs im betrachteten Zeitraum. Sie lagen mit diesem Wert noch deutlich vor denen der Großstädte mit über 100 000 Einwohnern.

Gründe für lokal besonders hohe Wanderungsgewinne können ganz unterschiedliche sein. Untermarchtal zeichnet sich beispielsweise durch eine hohe Anzahl an Pflege- und Altenheimen aus, wodurch insbesondere ein Zuzug von älteren Personen gefördert wird.4 Dies kann auch erklären, dass dort trotz der landesweit höchsten Nettozuwanderung die Bevölkerung in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist. Aufgrund eines hohen Anteils an älteren Personen war dort die Zahl der Sterbefälle je 1 000 Einwohner im Durchschnitt der letzten 10 Erhebungsjahre mit 34 Sterbefällen je 1 000 Einwohner knapp viermal höher als im Landesdurchschnitt.

Das Beispiel zeigt, dass innerhalb der Größenklassen ganz unterschiedliche Entwicklungen stattfinden können. Je kleinräumiger das Wanderungsgeschehen betrachtet wird, desto stärker wird auch der Einfluss von lokalen Besonderheiten. Diese lassen sich häufig nur durch eine individuelle Betrachtung erklären.

1 Geißler, Rainer: Struktur und Entwicklung der Bevölkerung, in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 324/2014: Sozialer Wandel in Deutschland, http://www.bpb.de/izpb/197987/struktur-und-entwicklung-der-bevoelkerung?p=all (Abruf: 23.05.2018).

2 Der starke Bevölkerungsrückgang im Jahr 2011 ist auf den Zensus zurückzuführen. Dieser führte zu einer Revision der Bevölkerungszahlen nach unten und stellt insoweit einen Sondereffekt dar.

3 Brachat-Schwarz, Werner: »Wer zieht in die Großstadt, wer von ihr weg?«, in: »Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2018«.

4 Siehe dazu auch Pressemitteilung 86/2015 des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg vom 08.04.2015: Demografie: Durchschnittsalter auf 43,2 Jahre gestiegen, https://www.statistik-bw.de/Presse/Pressemitteilungen/2015086 (Abruf: 23.05.2018).