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Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Stellenangeboten in Baden-Württemberg

Eine langfristige Untersuchung anhand der Beveridge-Kurve

Im Herbst 2018 prägte eine niedrige Arbeitslosigkeit und eine hohe Anzahl gemeldeter Stellen die Arbeitsmarktlage im Südwesten. Auch Jahre nach den Krisen der jüngsten Vergangenheit (Finanz- und Eurokrise) sinkt die Arbeitslosigkeit weiter. Damit steigt nach einer wirtschaftlichen Krise die Sockelarbeitslosigkeit nicht an, wie es in den 1970er- und 1980er-Jahren üblich war. Der folgende Beitrag beleuchtet das Zusammenspiel aus Arbeitslosigkeit und gemeldeten Stellenangeboten auf Grundlage der Beveridge-Kurve für den Südwesten und Deutschland. Auf diese Weise lassen sich strukturelle Probleme am Arbeitsmarkt erkennen und beobachten, wie sich diese über die Zeit hinweg verändert haben. Die Gründe für die auch historisch sehr günstige Arbeitsmarktlage sind vielschichtig und reichen von den Hartz-Gesetzen über eine dynamische Weltkonjunktur sowie eine bis 2008 anhaltende Lohnzurückhaltung bis zu veränderten institutionellen Bedingungen am Arbeitsmarkt. Auch aus der europäischen Sichtweise befindet sich der deutsche und baden-württembergische Arbeitsmarkt in glänzender Verfassung. Trotz sinkender Arbeitslosigkeit bewegt sich die Erwerbslosenquote in Italien, Spanien, aber auch Frankreich immer noch auf vergleichsweise hohem Niveau.

Zahl der Arbeitslosen auf niedrigstem Stand seit 1992

Der Arbeitsmarkt im Südwesten befindet sich aktuell in einem sehr guten Zustand. Im Gesamtjahr 2017 lag die Zahl der Arbeitslosen durchschnittlich bei 212 837 Personen und damit nochmal 6 % unter dem bereits sehr niedrigen Stand von 2016. Aktuelle Daten bis November 2018 deuten auf eine weiterhin intakte Beschäftigungsdynamik hin. So unterschritt die Arbeitslosenzahl im bisherigen Jahresdurchschnitt die 200 000er-Marke. Auf einem so niedrigen Niveau lag die absolute Zahl letztmals im Jahr 1992. Bezogen auf das Gesamtjahr 2017 reduzierte sich die Arbeitslosigkeit im Südwesten seit dem Höchststand von 2005 um 44,8 %. Die hohe Arbeitslosigkeit 2005 ist neben der damals vorherrschenden schlechten konjunkturellen Lage vor allem auf einen Einmaleffekt zurückzuführen, der durch die im Rahmen der Hartz-Reformen erfolgten Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe entstanden ist. Wie in Schaubild 1 zu erkennen ist, unterliegt die Zahl der Arbeitslosen starken unterjährigen Schwankungen. Vor allem sorgte aber eine schwache konjunkturelle Lage wie die wirtschaftliche Stagnationsphase nach dem Platzen der Dotcom-Blase1 (2001 und folgende), die globale Finanzkrise (2008/2009) oder – in geringerem Maße – die Eurokrise (2012/2013) für steigende Arbeitslosenzahlen. Allerdings fanden die durch die beiden letzten Krisen arbeitslos gewordenen Menschen in Baden-Württemberg in den Folgejahren wieder neue Arbeitsplätze, sodass der Anstieg der Arbeitslosigkeit nur von kurzer Dauer war. Damit scheint ein seit den 1970er-Jahren zu beobachtendes Muster durchbrochen zu sein, dass nämlich nach einer Rezession die Sockelarbeitslosigkeit deutlich ausgeprägter ist als zuvor.2

Zahl der gemeldeten Arbeitsstellen entwickelt sich dynamisch und befindet sich auf Rekordhoch

Die Zahl der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Arbeitsstellen3 bewegte sich im Zeitablauf gegenläufig zu den Arbeitslosenzahlen (Schaubild 1). In einer rezessiven Konjunkturphase erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, sodass die Arbeitslosenzahlen steigen und somit mehr Arbeitslose auf der Suche nach freien Stellen sind. Gleichzeitig benötigen Unternehmen in einem ungünstigen konjunkturellen Umfeld kaum neue Mitarbeiter und melden dementsprechend der Bundesagentur für Arbeit weniger Stellen. Seit 2000 durchlief die Südwestwirtschaft drei Phasen mit rückläufigen Zahlen bei den gemeldeten Arbeitsstellen, nämlich im Zeitraum 2001 bis 2005, der Finanzkrise sowie der Eurokrise. 2017 verzeichneten die Arbeitsagenturen im Südwesten durchschnittlich 102 096 als frei gemeldete Arbeitsstellen. Dies sind mehr als dreimal so viel Arbeitsstellen als im historischen Tief von 2004. Im Jahresverlauf 2018 erhöhte sich die Zahl der freien Stellen weiterhin mit zweistelligen Zuwachsraten (+ 10,8 %) und lag von Januar bis November durchschnittlich bei 112 678. Insgesamt entwickelte sich damit die Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitsstellen deutlich dynamischer als die Zahl der Arbeitslosen abgebaut wurde. Daher kommen im Jahresdurchschnitt 2017 rechnerisch nur noch 2,1 Arbeitslose auf eine frei gemeldete Arbeitsstelle. Im Jahresverlauf 2018 sank die Zahl sogar auf 1,7. Zum Vergleich: in den Jahren 2004 und 2005 verzeichnete der Südwesten bei dieser Kennziffer Werte von 11. Diese Messzahl ist natürlich ausschließlich theoretischer Natur, da die gemeldeten Stellen in vielen Fällen nicht zum Qualifikationsprofil der arbeitslosen Personen passen.4 Dennoch zeigt sie sehr anschaulich, wie vorteilhaft gerade im historischen Vergleich die Lage am baden-württembergischen Arbeitsmarkt im Jahr 2018 ist.

Das Zusammenspiel von Arbeitslosen- und Vakanzquote: Die Beveridge-Kurve für den Südwesten

Die Wirtschaftsleistung im Südwesten legte seit 2000 real um 28,8 % zu. Gleichzeitig standen der Wirtschaft durch Zuwanderung und Aktivierung der stillen Reserve 16,5 % mehr zivile Erwerbspersonen5 zur Verfügung. Daher wird für die weitere Analyse die Anzahl der Arbeitslosen und der gemeldeten Stellen mit den zivilen Erwerbspersonen normiert (Arbeitslosen- bzw. Vakanzquote)6, um die dahinterliegenden Wachstumstrends zu eliminieren und somit tiefergehende Zusammenhänge besser offenlegen zu können. Schaubild 2 stellt den Zusammenhang von Arbeitslosen- und Vakanzquote für Baden-Württemberg grafisch dar, der als »Beveridge-Kurve« bekannt ist. Hierbei besteht ein negativer Zusammenhang zwischen der Arbeitslosen- und Vakanzquote. Bewegungen auf der Kurve stehen für den »normalen« Konjunkturzyklus. In einer Aufschwungssituation suchen die Unternehmen neues Personal und die Arbeitslosigkeit sinkt. Somit bewegt man sich auf der Beveridge-Kurve nach links oben. Befinden sich Unternehmen in einer schlechten konjunkturellen Lage, halten sie sich mit Stellenausschreibungen und Neueinstellungen zurück. Gleichzeitig liegt die Arbeitslosenquote auf einem höheren Niveau, sodass man sich auf der Beveridge-Kurve nach rechts unten bewegt. Auch liefert die Beveridge-Kurve Hinweise für strukturelle Probleme am Arbeitsmarkt, da sie die Effizienz der Wiederbesetzung gemeldeter Stellen (»Matching«) abbildet. Je weiter rechts außen sich die Beveridge-Kurve befindet, desto schlechter gelingt es unter den bestehenden Arbeitsmarktinstitutionen7, eine freie Stelle mit einem Arbeitslosen zu besetzen.

Unterteilt in Fünfjahresabschnitte zeigt die Beveridge-Kurve eine Verbesserung der Matching-Effizienz über die Zeit hinweg. So lag die Kurve Anfang der 2000er-Jahre noch deutlich weiter rechts außen als die aktuell berechneten Werte es aufzeigen. Die Verschiebung der Beveridge-Kurve nach links fällt in den Zeitraum 2005 bis 2009.8 Aktuell scheint das Zusammenspiel von gemeldeten Stellen und Arbeitslosen weiterhin reibungslos zu funktionieren, da die Werte des aktuellen Fünfjahresabschnittes (2015 bis November 2018, blaue Datenpunkte in Schaubild 2) weiterhin auf der nach links verschobenen Beveridge-Kurve (2010 bis 2014) liegen.

Die Beveridge-Kurve für Westdeutschland, Ostdeutschland und die Stadtstaaten

Doch wie sieht die Situation für die deutschen Bundesländer aus? Hier ist die Unterteilung der Beveridge-Kurven nach West- und Ostdeutschland sowie nach Stadtstaaten sinnvoll, da die Ausgangssituation für die drei Ländergruppen im Jahr 2005 sehr unterschiedlich war. Westdeutschland reduzierte die Arbeitslosigkeit von seinem Hoch 2005 (9,9 %) um 4,6 Prozentpunkte auf 5,3 % im Gesamtjahr 2017. In den Stadtstaaten ging die Arbeitslosigkeit im gleichen Zeitraum um 7 Prozentpunkte zurück, während die ostdeutschen Bundesländer (ohne Berlin) mit 11,5 Prozentpunkten deutschlandweit den stärksten Rückgang verbuchen konnten. Dort war die Arbeitslosigkeit Anfang der 2000er-Jahre durch die Transformation der DDR-Wirtschaft nach der Wende noch sehr hoch. Schaubild 3 zeigt zudem eine rückläufige Divergenz zwischen den Bundesländern. 2001 differierte die Arbeitslosenquote zwischen ost- und westdeutschen Flächenländern um 10,3 Prozentpunkte – aktuell nur noch um 2,1 Prozentpunkte. Nahezu synchron in allen Gebietsteilen bewegte sich die Quote der gemeldeten Stellen. Diese erhöhte sich im Vergleich zu 2005 um 0,8 Prozentpunkte in den Stadtstaaten, 1 Prozentpunkt in Westdeutschland und 1,3 Prozentpunkte in Ostdeutschland (ohne Berlin). Damit verdoppelten sie sich verglichen zu den Ausgangswerten.

Insgesamt verzeichneten die ostdeutschen Bundesländer die stärkste Verschiebung der Beveridge-Kurve. Diese liegt am aktuellen Rand (blaue Markierungen in Schaubild 3 unten) nun zwischen den Stadtstaaten und den westdeutschen Bundesländern. Auch in den Stadtstaaten verlief seit 2000 die Relation von Arbeitslosen- und Vakanzquote günstiger. Die Verbesserung am westdeutschen Arbeitsmarkt fiel verglichen mit den Stadtstaaten und den ostdeutschen Bundesländern am schwächsten aus. Allerdings befand sich der Arbeitsmarkt dort in einer deutlich besseren Ausgangslage. Daher verschob sich die Beveridge-Kurve der Westländer im Vergleich zu den anderen Ländergruppen seit 2000 weniger stark. Innerhalb der westdeutschen Bundesländer ragt Baden-Württemberg wiederum besonders heraus. Überträgt man den Trend der Beveridge-Kurven aus Schaubild 2 in Schaubild 3 so wird deutlich, dass sich die Kurve bereits im Zeitraum 2000 bis 2004 auf einem Niveau befand, welches die westdeutschen Flächenländer erst im Durchschnitt 2010 bis 2014 erreichten. Im weiteren zeitlichen Verlauf verbesserte sich das Zusammenspiel von Arbeitslosen- und Vakanzquote im Südwesten weiter, sodass sich die Kurve noch mehr nach links verschob.

Die außergewöhnliche Entwicklung Ostdeutschlands wurde von mehreren Faktoren beeinflusst (Tabelle 1). Zum einen sank vom Fünfjahreszeitraum 2000 bis 2004 zum Zeitraum 2015 bis 2017 die absolute Zahl der Arbeitslosen 23 Prozentpunkte stärker als in Gesamtdeutschland. Doch dies erklärt nur zum Teil die um 10 Prozentpunkte gesunkene Arbeitslosenquote. Zusätzlich verloren die ostdeutschen Bundesländer 7,9 % der zivilen Erwerbspersonen, da diese entweder aus dem Berufsleben ausschieden oder einer Erwerbsarbeit in westlichen Bundesländern nachgingen. Dort erhöhte sich die Zahl der zivilen Erwerbspersonen nämlich um 2,2 Prozentpunkte stärker als im Bundesdurchschnitt. Profiteure waren insbesondere Bayern (+ 12,4 %), aber auch der Südwesten (+ 11,2 %).

Die lange Frist seit 1960: Deutschland und Baden-Württemberg im Vergleich

Um die günstige Arbeitsmarktsituation in Baden-Württemberg historisch einordnen zu können, lohnt ein Vergleich der aktuellen Lage mit der Entwicklung seit den 1960er-Jahren9 (Schaubild 4). Dort herrschte kaum Arbeitslosigkeit (0,3 %) und die Vakanzquote erreichte Höchstwerte (3,4 %). Die Ölkrisen und der Strukturwandel in den 1970er- und insbesondere den 1980er-Jahren gingen nicht spurlos am Arbeitsmarkt vorüber. Als Resultat erhöhte sich die Arbeitslosenquote deutlich und Stellen wurden auch nicht mehr in dem Maß wie zur Zeit des Wirtschaftswunders gemeldet. So halbierte sich die Vakanzquote in den 1980er-Jahren verglichen zur Vordekade und unterschritt die 1 %-Marke. Die Probleme am Arbeitsmarkt verfestigten sich in den 1990er-Jahren, und das Zusammenspiel von gemeldeten Stellen und Arbeitslosen klappte nicht mehr so reibungslos wie in der Vergangenheit. Seit der Jahrtausendwende scheint die Südwestwirtschaft auf dem Weg zurück in die 1970er-Jahre zu sein, zumindest, wenn man die Vakanzquote betrachtet. Im Jahr 2017 rangierte diese bei 1,9 % und zog nahezu mit dem Niveau der 1970er-Dekade (2 %) gleich. Ein deutlich weiterer Weg wäre dagegen bei der Arbeitslosenquote zu gehen. Diese lag in den 1970er-Jahren etwa halb so hoch wie im Jahr 2017 (1,8 % gegenüber 3,9 %).

Die Beveridge-Kurven von Baden-Württemberg und Deutschland entwickelten sich leicht unterschiedlich. So bewegte sich die Arbeitslosenquote bis in die 1970er-Jahre in beiden Ländern noch synchron (+ 1,5 bzw. + 1,8 Prozentpunkte gegenüber der 1960er-Dekade). In den 1980er-Jahren litt Deutschland deutlich stärker unter den strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt und die Arbeitslosigkeit stieg um 5 Prozentpunkte auf knapp 8 %. Im Südwesten erhöhte sich die Quote um 3 Prozentpunkte auf nur 4,7 %. Die darauffolgende Dekade war von der Integration der neuen Bundesländer geprägt, sodass sich die Arbeitslosenquote in Deutschland stärker erhöhte als in Baden-Württemberg (+ 2,3 gegenüber + 1,8 Prozentpunkte). Der Wendepunkt am Arbeitsmarkt fand im Südwesten bereits in den 2000er-Jahren statt und damit etwas früher als in Deutschland. So fiel die Arbeitslosenquote in Baden-Württemberg (– 0,3 Prozentpunkte), während diese in Deutschland noch anstieg (+ 0,6 Prozentpunkte). In der Periode 2010 bis 2016 sank die Arbeitslosigkeit deutlich, in Deutschland doppelt so kräftig wie in Baden-Württemberg (– 3,2 Prozentpunkte gegenüber 1,7 Prozentpunkte). Die Vakanzquoten entwickelten sich dagegen landes- wie bundesweit nahezu synchron. Einzig im Übergang von den 1960er- zu den 1970er-Jahren sank diese im Südwesten doppelt so stark wie in der Bundesrepublik.

Mögliche Gründe für das verbesserte Zusammenwirken von Arbeitslosen und gemeldeten Stellen

Die Verbesserung der Matching-Effizienz und die damit einhergehende Verschiebung der Beveridge-Kurve fand für Deutschland und Baden-Württemberg im Zeitraum 2005 bis 2009 statt (siehe hierzu auch Schaubild 1).10 Aktuelle Diskussionspapiere liefern ein gemischtes Bild inwieweit die Einführung der Hartz IV-Maßnahmen für die geringere Arbeitslosigkeit ausschlaggebend ist. Krause und Uhlig (2012)11 gehen davon aus, dass dadurch die Arbeitslosenquote um 2,8 Prozentpunkte gesenkt wurde. Hochmuth et al. (2018)12 berechnen mit 2,6 Prozentpunkten einen quantitativ ähnlich hohen Effekt. Auf der anderen Seite ist der Reformeffekt bei Launov und Wälde (2014)13 mit 0,1 Prozentpunkten kaum messbar. Laut den Autoren liegt der Erfolg der Hartz-Reformen in den Hartz I–III Gesetzen begründet, bei denen die Bundesagentur für Arbeit umgebaut und die Vermittlung von Arbeitslosen effizienter gestaltet wurde. Dies führte zu einer Reduktion der Arbeitslosigkeit um 1,3 bis 2 Prozentpunkte.

Das günstige weltwirtschaftliche Klima könnte ebenfalls zur guten Arbeitsmarktlage beigetragen haben. So wuchs nach Angaben der Welthandelsorganisation WTO das globale Handelsvolumen von 2002 bis 2008 durchschnittlich um 6 % pro Jahr, während die globale Wirtschaftsleistung lediglich um 3,2 % zulegte. Profiteure dieser Entwicklung waren Deutschland und der Südwesten mit ihrer auf den Weltmärkten gefragten Produktpalette. Die jahrelange Lohnzurückhaltung und damit die Wiederherstellung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit spielte laut Bonin (2013)14 eine wichtige Rolle. So entwickelten sich die nominalen Lohnstückkosten in Deutschland von 1995 bis 2008 seitwärts, sodass Deutschland 2008 einen Kostenvorteil von knapp 19 Prozentpunkten gegenüber den Gründungsstaaten des Euros erlangte.

Dustmann et al. (2014)15 betonen, dass die Hartz-Reformen nicht als der Hauptfaktor für die dramatisch verbesserte Wettbewerbsfähigkeit gesehen werden können. Zum einen war der Reformumfang zu gering, um solch einen Wettbewerbsschub zu erzeugen. Zum anderen begann die Lohnzurückhaltung und damit die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bereits Mitte der 1990er-Jahre, also weit vor den Hartz-Reformen. Als Haupterklärung machen die Autoren die veränderten institutionellen Bedingungen am Arbeitsmarkt seit Mitte der 1990er-Jahre aus. Tabelle 2 fasst einige wichtige institutionelle Kennziffern des deutschen Arbeitsmarktes sowie deren Veränderung seit Mitte der 1980er-Jahre zusammen. So sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad kontinuierlich. War in den 1980er-Jahren noch ein Drittel aller Arbeiter/-innen und Angestellten Mitglied einer Gewerkschaft, reduzierte sich dieser Anteil am aktuellen Rand auf 18 %. Die Ergebnisse von Dustmann et al. (2014) legen nahe, dass die Lohnsteigerungen im dort untersuchten Jahr 2008 deutlich höher ausgefallen wären, wenn zu diesem Zeitpunkt noch der gewerkschaftlicher Organisationsgrad des Jahres 1995 geherrscht hätte. Insbesondere das untere Ende der Lohnverteilung war von dieser Entwicklung im besonderen Maße betroffen. Analog zum gewerkschaftlichen Organisationsgrad sank auch die Tarifbindung, die von 2010 bis 2014 durchschnittlich nur noch knapp 60 % aller Arbeiter/-innen und Angestellten umfasste.

Dagegen ist der Kündigungsschutz bei unbefristeten Arbeitsverträgen weiterhin hoch und hat sich über die Zeit hinweg kaum verändert. Im OECD-Vergleich liegt Deutschland hier im oberen Drittel (Schaubild 5). So sind beispielsweise in Frankreich unbefristet Beschäftigte schlechter vor Kündigung geschützt. Beschäftigte in den Vereinigten Staaten können dagegen mit sehr geringen Hürden entlassen werden. Anders sieht das Bild bei den befristeten Arbeitsverträgen aus. Bis Mitte der 1990er-Jahre war der deutsche Kündigungsschutz noch deutlich restriktiver, bis er von der Politik über die Zeit hinweg gelockert wurde.16 International belegt Deutschland beim Schutz befristeter Beschäftigung einen Platz im Mittelfeld. Europäische Staaten wie Frankreich, Norwegen oder Spanien garantieren einen deutlich höheren Schutz vor Kündigung und stehen demnach auf den oberen Plätzen des OECD-Rankings.

Die Lage am Europäischen Arbeitsmarkt

Abschließend soll die Entwicklung am Arbeitsmarkt aus europäischer Sichtweise betrachtet werden. In Schaubild 6 ist die durchschnittliche Erwerbslosenquote im Jahr 2017 abgebildet sowie die Spanne der Maximal- und Minimalwerte seit 2000. Für Deutschland und Baden-Württemberg weicht die Erwerbslosenquote aus definitorischen Gründen17 von der Arbeitslosenquote der Bundesagentur für Arbeit ab. Die Erwerbslosenquote in der Europäischen Union lag im Jahresdurchschnitt 2017 auf einem historisch niedrigen Niveau. Im bisherigen Jahresverlauf 2018 sank die Quote weiter und liegt nun unter 7 %. Hinter diesem positiven Trend stehen insbesondere große Mitgliedsländer wie Deutschland oder das Vereinigte Königreich. Durchschnittlich waren 2017 dort 3,8 % bzw. 4,4 % der Erwerbsbevölkerung arbeitslos. In anderen EU-Ländern befindet sich der Arbeitsmarkt ebenfalls auf dem Wege der Besserung, allerdings auf einem deutlich höheren Niveau. Insbesondere in Spanien (17,2 %) aber auch in Italien (11,2 %) sind die Erwerbslosenquoten noch zweistellig und bewegen sich im historischen Mittelfeld. Im Jahresverlauf 2018 verbesserte sich die Situation bei den Erwerbslosenquoten in beiden Ländern weiter (15,5 % in Spanien und 10,5 % in Italien). Die Erwerbslosenquote in Frankreich nimmt mit 9,4 % für 2017 ebenfalls noch sehr hohe Werte an. Interessant ist die dort vergleichsweise geringe historische Spannbreite. In Baden-Württemberg lag die Erwerbslosenquote 2017 bei 2,9 % und damit 4,7 Prozentpunkte unter dem EU-Wert.

Europaweit liegen keine vergleichbaren Zahlen für gemeldete Stellen seit 2000 vor. Daher ist eine Darstellung von Arbeitslosen und gemeldeten Stellen mithilfe der Beveridge-Kurve wie zuvor nicht möglich. Als Alternative zu den gemeldeten Stellen wird im Folgenden auf einen qualitativen Indikator zurückgegriffen, der aus der ein Mal pro Quartal erhobenen Industrieumfrage der EU-Kommission entnommen ist.18 In der aktuellen Konjunkturlage sehen europaweit immer mehr Unternehmen ihre Produktion durch einen Mangel an Fachkräften behindert. So nannten 2018 über 20 % der Unternehmen den Mangel an qualifiziertem Personal als Grund für eine behinderte Produktionstätigkeit. Auch historisch gesehen liegen die im Jahresdurchschnitt ermittelten Werte im oberen Bereich. In Frankreich sind die Unternehmen noch nicht mit einem solchem Engpass konfrontiert. Unternehmen in Italien und Spanien verzeichnen dagegen laut der EU-Umfrage keinen Mangel an Arbeitskräften. Sollte sich der Arbeitsmarkt auch in Zukunft weiterhin positiv entwickeln, so dürfte auch dort eine größere Anzahl an Unternehmen einen höheren Bedarf an qualifiziertem Personal benötigen.

1 Anfang der 2000er-Jahre entwickelte sich bei Unternehmen aus dem Internet- und Technologiebereich eine ausgeprägte Spekulationsblase, die als Dotcom-Blase bezeichnet wurde.

2 Siehe Fischer, Berthold/Vullhorst, Udo/Werner, Joachim: »Wirtschaftskrisen und Konjunkturzyklen in Baden-Württemberg seit 1950«, in: »Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 9/2009«, S. 5 ff.

3 Aufgrund der längeren Zeitreihenverfügbarkeit wird auf die Werte zurückgegriffen, die die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Arbeitsmarktstatistik erhebt. Parallel führt das an die Bundesagentur angeschlossene Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine separate Stellenerhebung durch (Brenzel, Hanna et al.: Revision der IAB-Stellenerhebung. Hintergründe, Methode und Ergebnisse, in: IAB-Forschungsbericht 4/2016), welche noch tiefergehende Analysen ermöglicht. Diese legen unter anderem nahe, dass die tatsächlichen Vakanzen deutlich größer sind als die von den Betrieben über die Bundesagentur gemeldeten Stellen (Meldequoten für Deutschland zwischen 42 % und 53 %). Die konjunkturellen Schwankungen beider Konzepte unterscheiden sich nur marginal und die zu beobachtenden Abweichungen sind zu einem großen Teil auf den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung zurückzuführen.

4 Wie die Mismatch-Arbeitslosigkeit reduziert werden kann diskutiert beispielsweise Bauer, Anja/Gartner, Hermann: Mismatch-Arbeitslosigkeit. Wie Arbeitslose und offene Stellen zusammenpassen, in: IAB-Kurzbericht 5/2014.

5 Die Erwerbspersonen setzen sich aus den Erwerbstätigen und den Erwerbslosen zusammen.

6 In der Literatur wird die Vakanzquote manchmal auch als die Zahl der gemeldeten Stellen dividiert durch die gesamte Beschäftigung inklusive der gemeldeten Stellen verstanden (siehe beispielsweise Cahuc, Pierre/Carcillo, Stéphane/Zylberberg, André: Labor economics, in: The MIT Press. Cambridge, 2014.)

7 Arbeitsmarktinstitutionen beeinflussen erfahrungsgemäß die strukturelle Arbeitslosigkeit. Als Beispiele nennt die Literatur Lohnsetzungsmechanismen, Lohnersatzleistungen, hohe Steuern und Abgaben auf Arbeit, Kündigungsschutz oder aktive Arbeitsmarktpolitik unter anderem durch die Agentur für Arbeit (siehe Möller, Joachim/Walwei, Ulrich (Hrsg.): Handbuch Arbeitsmarkt 2009, S. 49 ff.).

8 Siehe Kettner, Anja/Klinger, Sabine: Entwicklung der offenen Stellen: Überlagerung von Konjunktur und Struktur, in: Wirtschaftsdienst 2012/10.

9 In diesem Abschnitt beziehen sich die Arbeitslosen- und Vakanzquoten aus Gründen der Datenverfügbarkeit auf die abhängigen zivilen Erwerbspersonen. Daher fallen die Werte im Vergleich zu den sonst im Beitrag verwendeten Quoten höher aus. Zudem kam es sowohl bei den Arbeitslosen- als auch bei den Vakanzquoten aus gesetzlichen bzw. definitorischen Gründen zu Zeitreihenbrüchen. Bei den Arbeitslosen 2005 durch die Hartz IV-Reformen, bei den gemeldeten Stellen 2000 durch die Herausnahme der geförderten Stellen.

10 Siehe Gartner, Hermann/Klinger, Sabine: Ein janusköpfiger Aufschwung: Beschäftigungsgewinne und Polarisierung, in: WSI Mitteilungen 8/2008. Die Autoren identifizieren eine verbesserte Matching-Effizienz zwischen den Jahren 2005 und 2007.

11 Krause, Michael U./ Uhlig, Harald (2012): Transitions in the German Labor Market: Structure and Crisis, in: Journal of Monetary Economics, Volume 59, S. 64–79.

12 Hochmuth, Brigitte/Kohlbrecher, Britta/Merkl, Christian/Gartner, Hermann (2018): Hartz IV and the Decline of German Unemployment: A Selection Based Evaluation, Working papers, Friedrich Alexander-Universität Nürnberg Erlangen.

13 Launov, Andrey/ Wälde, Klaus: Folgen der Hartz-Reformen für die Beschäftigung, in: Wirtschaftsdienst 2014/2.

14 Siehe Bonin, Holger: Das deutsche Jobwunder speist sich aus vielen Quellen, in: Wirtschaftsdienst 2013/3. Über Jahre wurde bei Lohnverhandlungen der Verhandlungsspielraum nicht ausgenutzt. Als Ergebnis blieben bereits weit vor den Hartz-Reformen die nominalen Lohnstückkosten konstant. Die Entwicklung der Lohnstückkosten in Baden-Württemberg und Deutschland seit 2000 sind in Bremer, Patrick: »Lohnstückkosten in Baden-Württemberg und Deutschland«, in: »Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 5/2016«, S. 11 ff. beschrieben.

15 Dustmann, Christian/Fitzenberger, Bernd/Schönberg, Uta/Spitz-Oener, Alexandra (2014): From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy, in: Journal of Economic Perspectives, Volume 28, S. 167–188.

16 So ermöglicht Leiharbeit Unternehmen, die mit dem gesetzlichen Kündigungsschutz verbundenen Einstellungsrisiken zu reduzieren, siehe Deutsche Bundesbank: Monatsbericht November 2008, S. 56 ff.

17 Die Definition der Erwerbslosigkeit folgt hier dem ILO-Konzept und umfasst alle Personen zwischen 15 und 74 Jahren. Des Weiteren basieren die Zahlen auf internationaler Ebene auf einer stichprobenartigen Arbeitskräfteerhebung und nicht, wie für bundesdeutsche Arbeitsmarkterhebungen üblich, einer Vollerhebung aus Registerdaten. Zudem wird die Zahl der Erwerbslosen auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bezogen.

18 Hierbei werden die Unternehmen befragt durch welche Faktoren ihre Produktionstätigkeit behindert wird. Folgende Antwortmöglichkeiten sind möglich: 1) zu wenig Aufträge, 2) Mangel an Fachkräften, 3) Mangel an Rohstoffen bzw. Vormaterialien, 4) zu geringe technische Kapazität, 5) Finanzierungsengpässe, 6) sonstige Faktoren. Für Deutschland führt das ifo-Institut die Befragung durch, eine Auswertung für den Südwesten wird von der L-Bank erstellt.