:: 4/2019

Zuwanderung schwächt künftigen Alterungsprozess der Bevölkerung ab

Das Statistische Landesamt legt Ergebnisse einer neuen Bevölkerungsvorausrechnung für Baden-Württemberg vor

Eine starke Zuwanderung vor allem aus Südosteuropa und der enorme Zustrom von Schutzsuchenden haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die Einwohnerzahl Baden-Württembergs stetig angestiegen ist und im September 2017 erstmals seit Bestehen des Landes bei über 11 Mill. lag. Hierzu beigetragen hat aber auch die Geburtenhäufigkeit, also die durchschnittliche Kinderzahl je Frau, die sich in den letzten Jahren überraschend deutlich erhöht hat, nachdem diese zuvor 4 Jahrzehnte lang auf einem sehr niedrigen Niveau lag.

Mit welcher demografischen Entwicklung ist künftig im Südwesten zu rechnen? Um diese abzuschätzen, wurde eine neue Bevölkerungsvorausrechnung für Baden-Württemberg auf Basis des 31.12.2017 erstellt. Der hierbei gewählte Ansatz sowie ausgewählte Ergebnisse werden in diesem Beitrag vorgestellt. Dabei soll insbesondere verdeutlicht werden, dass der Alterungsprozess der Gesellschaft – wie in früheren Vorausrechnungen prognostiziert – auch bei veränderten Rahmenbedingungen ablaufen wird. Konkret bedeutet das, dass auch eine stärkere Zuwanderung und eine gestiegene Geburtenrate den demografischen Wandel nicht aufhalten, sondern lediglich abmildern werden.

Einwohnerzahl im Südwesten könnte noch bis 2035 ansteigen

Da weiterhin große Unsicherheiten insbesondere im Hinblick auf die künftige Entwicklung des Migrationsgeschehens bestehen, wurden vier Vorausrechnungsvarianten erstellt: Drei Varianten, die sich ausschließlich hinsichtlich der getroffenen Wanderungsannahmen unterscheiden, und eine weitere Variante, die eine künftig wieder sinkende Geburtenhäufigkeit unterstellt.1

Nach der sogenannten Hauptvariante (i-Punkt), die auch für die kommenden Jahre eine relativ hohe Zuwanderung unterstellt, könnte die Einwohnerzahl des Landes noch bis zum Jahr 2035 um rund 340 000 auf dann 11,37 Mill. ansteigen (Schaubild 1). Anschließend ist mit einem Bevölkerungsrückgang zu rechnen, weil sich das bestehende Geburtendefizit (weniger Geburten als Sterbefälle) aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung stetig vergrößern wird. Dieses Defizit kann aller Voraussicht nach nicht mehr durch die Zuwanderung ausgeglichen werden. Dennoch könnte die Einwohnerzahl im Südwesten auch im Jahr 2060 nur knapp unter dem Niveau am Jahresende 2017, dem Basisjahr der Vorausrechnung, liegen (Tabelle).

Nach der Unteren Variante, die von deutlich geringeren Wanderungsgewinnen ausgeht, würde der Bevölkerungsrückgang bereits im Jahr 2024 einsetzen (Schaubild 1). Im Jahr 2060 könnte die Einwohnerzahl um knapp 500 000 Personen unter dem Niveau des Basisjahres 2017 liegen (Tabelle). Dagegen würde die Einwohnerzahl nach der Oberen Variante noch bis zum Jahr 2042 ansteigen und anschließend stetig zurückgehen. Baden-Württemberg hätte im Jahr 2060 etwa 11,53 Mill. Einwohnerinnen und Einwohner und damit immerhin gut 500 000 mehr als Ende 2017 (Tabelle).

Für diese drei Varianten wurde eine Geburtenhäufigkeit unterstellt, die dem Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2017 entsprach (i-Punkt). Weil aber nicht auszuschließen ist, dass die durchschnittliche Kinderzahl je Frau wieder sinken könnte, wurde eine weitere Variante gerechnet: Die sogenannte Nebenvariante unterstellt, dass sich die Geburtenrate innerhalb der ersten 5 Vorausrechnungsjahre, also bis zum Jahr 2022, auf 1,4 Kinder je Frau verringern und anschließend auf diesem Niveau bis 2060 verharren wird (i-Punkt). Nach dieser Variante wird die Einwohnerzahl Baden-Württembergs nur noch bis 2026 ansteigen und anschließend bis zum Jahr 2060 auf ca. 10,53 Mill. zurückgehen (Tabelle).2 Allein die Annahme einer wieder deutlich sinkenden Geburtenhäufigkeit würde also dazu führen, dass die Einwohnerzahl Baden-Württembergs im Jahr 2060 um annähernd eine halbe Million Personen niedriger als nach der Hauptvariante liegen würde.

Immer mehr ältere Menschen

Mindestens ebenso bedeutsam wie die Entwicklung der Bevölkerungszahl insgesamt sind die Veränderungen in der Altersgliederung der Bevölkerung. Denn die Besetzungsstärken der einzelnen Altersjahrgänge wirken sich auf nahezu alle Gesellschaftsbereiche aus, sei es im Kinderbetreuungs- und im Bildungsbereich, sei es für den Arbeitsmarkt oder für die Rentenversicherungssysteme.

In demografischer Hinsicht gab es im Jahr 2000 in Baden-Württemberg eine Zäsur: Erstmals lebten seit Bestehen des Landes etwas mehr 60-Jährige und Ältere als unter 20-Jährige im Südwesten (22,5 % gegenüber 22,2 % der Gesamtbevölkerung). Heute zählen in Baden-Württemberg nur noch 19 % zu den Jüngeren, aber bereits 26 % zu den Älteren. Und dieser zahlenmäßige Unterschied zwischen Jung und Alt wird aus heutiger Sicht künftig noch erheblich größer werden: Der Anteil der unter 20-Jährigen an der Gesamtbevölkerung könnte sich bis zum Jahr 2060 – relativ moderat – auf dann knapp 18 % verringern.3 In einer gegenläufigen Entwicklung dürfte dagegen der Bevölkerungsanteil der 60-Jährigen und Älteren bis zum Jahr 2060 deutlich und zwar auf circa 36 % ansteigen (Schaubild 2). Das heißt, die Zahl der Älteren wird dann doppelt so stark wie die der Jüngeren vertreten sein.

Überdurchschnittlicher Anstieg der Zahl hochbetagter Menschen

Für sozial- und speziell altenpolitische Planungen ist es von besonderer Bedeutung, dass künftig die Zahl älterer und vor allem hoch betagter Menschen deutlich ansteigen wird. Immer mehr Männer und Frauen erreichen ein hohes Alter. Bereits bis 2030 dürfte ihre Zahl um knapp die Hälfte zunehmen (Schaubild 3). Dann wären 426 000 Einwohner des Landes 85 Jahre oder älter. Bis 2060 würde sich ihre Zahl im Vergleich zu heute sogar annähernd verdreifachen. Es gäbe dann etwas mehr als 800 000 Hochbetagte in Baden-Württemberg. Da es sich hierbei um eine Bevölkerungsgruppe mit einem hohen Pflegerisiko handelt, dürfte künftig auch die Zahl der Pflegebedürftigen erheblich ansteigen.

Rentenversicherungssysteme stehen vor großen Herausforderungen

Die steigende Zahl älterer Menschen im Südwesten wird nicht zuletzt für die Rentenversicherungssysteme weitere Herausforderungen mit sich bringen. Denn der Zahl potenzieller Rentenempfänger steht längerfristig eine abnehmende Bevölkerungszahl im erwerbsfähigen Alter gegenüber: Derzeit kommen 33 Personen im Alter von 65 und mehr Jahren auf 100 Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahre, die vereinfacht der Bevölkerung im Erwerbsalter zugerechnet werden können. Noch 1990 gab es lediglich 22 Ältere je 100 Personen im erwerbsfähigen Alter. Bis zum Jahr 2030, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der frühen 1960er-Jahre (»Babyboomer«) überwiegend aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sein werden, könnte dieser sogenannte Altenquotient sogar auf 43 ansteigen (Schaubild 4).

Diese Berechnungen zeigen, welche großen Herausforderungen auf die Rentenversicherung aufgrund der demografischen Entwicklung zukommen werden. Allerdings ist bei einer Bewertung dieser Entwicklung zu bedenken, dass die tatsächlichen, ökonomischen »Belastungen« der erwerbsfähigen Bevölkerung aller Voraussicht nach weniger stark zunehmen dürften: Zum einen ist zu erwarten, dass vor allem die Erwerbsbeteiligung der Frauen auch künftig weiter ansteigen wird. Zum anderen wird sich auch die Zahl älterer Menschen, die erwerbstätig sein wird, aller Voraussicht nach erhöhen.

Starke Zuwanderung schwächt Alterungsprozess lediglich ab

Langfristig immer weniger junge und immer mehr ältere Menschen – diese Entwicklung hin zu einer im Schnitt immer älteren Bevölkerung ist bereits heute »vorprogrammiert«, weil insbesondere nach 2020 die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er-Jahren in die Altersphase der 60-Jährigen und Älteren »hineinwachsen«.

Bereits seit Gründung des Landes Baden-Württemberg im Jahr 1952 bis zum Jahr 2017 ist das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Baden-Württemberg um annähernd 9 Jahre gestiegen – von knapp 35 Jahre auf etwas mehr als 43 Jahre. Und dieser Alterungsprozess wird sich in Zukunft fortsetzen. Bis zum Jahr 2060 ist mit einem weiteren Anstieg des Durchschnittsalters um über 4 Jahre auf dann fast 48 Jahre zu rechnen (Tabelle). Sollte, wie in der Nebenvariante unterstellt, die Geburtenhäufigkeit wieder auf das jahrzehntelang gültige Niveau absinken, könnte das Durchschnittsalter bis 2060 sogar auf annähernd 49 Jahren ansteigen. Dennoch: Die relativ hohe Zuwanderung hat und wird auch künftig einen »dämpfenden« Einfluss auf die Alterung der Gesellschaft haben. Denn ohne Berücksichtigung der Zuwanderung wären die Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger im Jahr 2060 im Schnitt sogar knapp 51 Jahre alt.

Fazit: Möglichkeiten und Grenzen von Vorausrechnungen

Bei der Bewertung der vorgestellten Ergebnisse ist zu bedenken, dass sicherlich niemand eine Prognose abgeben kann, wie viele Menschen im kommenden Jahr, geschweige denn im Jahr 2060 in Baden-Württemberg wirklich leben werden. Allerdings können Aussagen darüber getroffen werden, wie sich die Bevölkerung unter der Zugrundelegung bestimmter Annahmen zur künftigen Geburtenrate, zur Lebenserwartung und zum Wanderungsgeschehen entwickeln wird. Entsprechende Vorausrechnungen werden seitens des Statistischen Landesamtes Baden-Württembergs bereits seit Ende der 1960er-Jahre in der Form von »Wenn – Dann«-Aussagen durchgeführt. Wenn also die getroffenen Annahmen so eintreffen werden, dann wird die demografische Entwicklung so verlaufen, wie sie in der Bevölkerungsvorausrechnung dargestellt ist.

Bevölkerungsvorausrechnungen bedürfen der laufenden Anpassung und Aktualisierung. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die Trends der die Bevölkerungsentwicklung bestimmenden Faktoren gravierend geändert haben. Für die momentane Situation trifft dies zweifelsohne deshalb zu, weil sich zum einen das Wanderungsgeschehen insbesondere aufgrund des Zustroms an Flüchtlingen in den vergangenen Jahren erheblich verändert hat und zum anderen, weil die durchschnittliche Kinderzahl je Frau nach einer jahrzehntelangen Konstanz nicht unerheblich angestiegen ist.

Auch wenn offen ist, wie sich insbesondere der Flüchtlingszustrom in Zukunft entwickeln wird, ist die Durchführung von Vorausrechnungen auch heute sinnvoll und nützlich, weil sie zumindest aufzeigen können, dass die Alterungsprozesse der Gesellschaft auch bei veränderten Rahmenbedingungen ähnlich ablaufen werden. So wird die enorme Zuwanderung den demografischen Wandel nicht stoppen, sondern lediglich abmildern können.

Alles in allem gilt, dass Bevölkerungsvorausrechnungen – insbesondere was die Entwicklung der Einwohnerzahlen betrifft – nicht als »Vorhersagen« missverstanden werden dürfen. Sie stellen aber (zumindest) eine wichtige Orientierungshilfe dar. Vorausrechnungen haben nämlich dann ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie die Basis für Analysen und Planungen der Entscheidungsträger beisteuern, mögliche (Fehl-)Entwicklungen aufzeigen und so die Unsicherheit über die Zukunft verringern helfen. Lösungen können von ihnen dagegen nicht erwartet werden.

1 Der Autor dankt Herrn Ingolf Girrbach, der die Berechnungen mit dem Prognosemodell SIKURS durchgeführt hat.

2 Die prognostizierte Einwohnerzahl entspricht damit im Jahr 2060 exakt derjenigen der Unteren Variante (Tabelle).

3 Sofern nichts anderes angegeben wird, beziehen sich die folgenden Angaben auf die Ergebnisse der Hauptvariante.