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Ein Kind – zwei Eltern? Vielfalt von Elternschaft

Kultureller Wandel familialer Wirklichkeiten mit neuem Wissen und neuen Techniken der Reproduktion

Seit knapp 200 Jahren verändert sich die Wirklichkeit von Elternschaft durch Zäsuren des Wissens grundlegend. Zur neuen Normalität der Elternschaft gehören (1) die simultane und sequenzielle Pluralisierung der Elternschaft, (2) die Auflösung der biologischen Reproduktionstriade, bestehend aus zwei verschieden geschlechtlichen Paarungspartnern und deren Nachwuchs, durch die Anwendung der Reproduktionsmedizin und (3) das Auseinanderdriften von biologischer Reproduktionstriade und sozialer Elternschaft. Eltern beschränken sich in ihrer Stellung zueinander weder auf bestimmte natürliche Geschlechter noch auf eine bestimmte Anzahl, und sie sind nicht beliebig in der umfassenden Verantwortung für die Erziehung des Kindes.

Familiale Wirklichkeit und ihr kultureller Wandel

Wie wir über Elternschaft denken, welche Bedeutungen wir ihr zuschreiben, wie wir als Gesellschaft mit ihr umgehen – alle diese Dinge unterscheiden sich erheblich je nach Zeit und Ort. In unserer Zeit und an den von der europäischen Aufklärung geprägten Orten ist selbstverständlich: die Unterscheidung von Sexualität als intimes Handeln und Zeugung als biologischer Prozess und zunehmend selbstverständlicher: die selbstbestimmte Herstellung von Familie ungeachtet des biologischen Geschlechts der beteiligten Eltern. Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein bestimmte eine christliche Kultur, die seit dem frühen Mittelalter an Bedeutung gewonnen hatte, die Einstellungen zu Sexualität und Elternschaft. Sexualität hatte allein der Fortpflanzung zu dienen, Elternschaft war nur legitim bei Mann und Frau, und auch nur dann, wenn sie in einer Ehe lebten. In dem Maße wie die Wissenschaft an Bedeutung gewann, hat sie mit neuem Wissen und neuen Techniken bisherigen Vorstellungen widersprochen, sie erweitert und so zur Aufklärung beigetragen.1

Die Annäherung an die Realität ist stets verbunden mit Zäsuren des Wissens von Menschen und Gesellschaft über Menschen und Gesellschaft. Die Geschichte der Zeugung ist ein Beleg dieser Entwicklung, die des Geschlechts ein weiterer.2

Über Jahrtausende galt die Zeugung als ein göttliches Mysterium, ein unbeeinflussbarer Naturvorgang. Noch im 18. Jahrhundert versuchte man, die Anwesenheit winziger, fertig ausgebildeter Menschen im Spermium oder im Eierstock nachzuweisen.3 Mitte des 19. Jahrhunderts, also vor nicht einmal 200 Jahren, begann man langsam zu begreifen: Nicht Mann und Frau, nicht der ganze Mensch, sondern Samen und Ei, zwei Zellen, mikroskopische Gebilde, die heute mit der Pipette durch einen Akt der Einspritzung extrakorporal in der Petrischale vereinigt werden können, sind die zwei exakt bestimmbaren und extrahierbaren organischen Materialien zur genuinen Erzeugung eines Lebewesens.

Die Kenntnis über Samen, Ei und biologischer Reproduktion hat auch unser Verständnis vom biologischen Geschlecht verändert (siehe auch i-Punkt »Wie neues Wissen das Verständnis ...«). Der historische Umgang mit dem biologischen Geschlecht und seinen Varianten reicht je nach Zeit und Ort von Verehrung über Verachtung bis hin zur Vernichtung. Dass es neben Adam und Eva noch etwas Anderes gab, ist also selten ignoriert worden (siehe auch i-Punkt »Wie aus Marie plötzlich Germaine wurde«). Die Geschichte war oft religiös begründet, aber über tausende Jahre frei von wissenschaftlichem Wissen. Auch unser heutiges Wissen über die biologischen Grundlagen des Lebens und ihre möglichen Wirkungen auf unser Verhalten ist eher unklar als geklärt. Aber es erlaubt eine andere Sicht auf Elternschaft und Erziehung. Zeichen dieses Wandels ist nicht nur die jetzt sichtbare, faktische Ausübung gleichgeschlechtlicher Elternschaft, sondern auch ihre gesellschaftliche Anerkennung, beispielsweise durch die obersten Gerichte, dass gleichgeschlechtliche Paare das Aufwachsen von Kindern genauso fördern können wie Paare verschiedenen Geschlechts.4 Die Elternrolle ist zwar abhängig vom biologischen Geschlecht, aber nicht entlang einer binären Geschlechtlichkeit von Frau und Mann. Es ist nicht der Unterschied von Samen und Ei, der den Unterschied in der Erziehung des Kindes ausmacht. Diese biologische Zweigeschlechtlichkeit erklärt nicht die sozialen Varianten bei Mutterschaft und Vaterschaft, bei Männlichkeit und Weiblichkeit, erklärt nicht die unterschiedlichen Erziehungsstile der Eltern und das Weiterbestehen traditionaler Rollenmodelle in Familien mit homosexuellen Paaren. Genetische und hormonelle Varianten im Spektrum der geschlechtlichen Vielfalt tragen zudem nur wenig zur Erklärung menschlichen Verhaltens bei. Das biologische Material dürfte als Disposition allenfalls indirekt über die eigenen Kindheitserfahrungen der Eltern wirken. Ihre Sozialisation und der gesellschaftliche Kontext, in dem die Familie lebt und die Eltern ihr Kind erziehen, sind hingegen entscheidend für die Erziehung des Kindes (siehe auch i-Punkt »Wie die Kultur einer Gesellschaft ...«). Kurzum: Natur ist immer auch kulturell.

In den letzten Jahrzehnten ist der kulturelle Wandel familialer Wirklichkeiten, vielleicht beschleunigt, fortgeschritten.5 Wohl häufiger denn je entstehen neben der biologischen und sozialen Einheit von Mutter, Vater und Kind andere Strukturen von Elternschaft. Drei Entwicklungen der Elternschaft sind hervorzuheben:

Eine simultane und sequenzielle Pluralisierung der Elternschaft verändert das soziale Verhältnis von Mutter-Vater-Kind. Die verschieden geschlechtliche Elternschaft wird simultan erweitert durch die gleichgeschlechtliche Elternschaft und durch Elternschaft, die sich nicht auf zwei Personen begrenzt. Infolge von Trennungen, Scheidungen und Wiederverheiratung gehört für die Beteiligten die temporäre, sequenzielle Elternschaft in Stief- und Patchworkfamilien zur Normalität.

Die Anwendung der Reproduktionsmedizin führt zu einer Auflösung der biologischen Reproduktionstriade, bestehend aus zwei verschieden geschlechtlichen Paarungspartnern und deren Nachwuchs. Ein Kind kann jetzt mehr als zwei biologische Eltern haben.

Die biologische Reproduktionstriade und die Eltern-Kindschafts-Beziehung als ein soziales Verhältnis driften auseinander. Durch die Anwendung neuer Optionen der Reproduktionsmedizin in ihren verschiedenen Varianten einer Zeugung und Fortpflanzung ohne Sexualität sind Eizellenspenderinnen, Samenspender und Leihmutterschaft die biologischen Eltern ohne Verpflichtung und Verantwortung der späteren sozialen Elternschaft.

Der Wandel familialer Lebenswirklichkeiten enthält »Potenziale existenzieller Irritationen« kultureller Gewohnheiten.6 Zudem sind gerade im Bereich der Familie, so Andreas Gestrich im Vorwort zur »Geschichte der Familie«, »´Naturalisierungen´ kultureller Zusammenhänge besonders häufig, wird soziales Verhalten besonders rasch mit angeblichen biologischen Determinanten erklärt«.7 Solche Naturalisierungen können mit der Exklusion anderer Personen einhergehen. Sie leugnen dann deren Selbstbestimmung und Teilnahme an Elternschaft.8 Kulturell bedeutsamer als die sequenzielle Pluralisierung der Elternschaft in der Biografie der beteiligten Erwachsenen und Kinder dürfte deshalb sein: das offene wie selbstverständliche Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Eltern mit ihren Kindern oder das willentliche Auseinanderdriften von biologischer und sozialer Elternschaft bei gleichzeitig gesteigerten Variationen biologischer Elternschaft. Politik und Recht reagieren auf die sich wandelnden familialen Lebenswirklichkeiten.9 Ihre Entscheidungen tragen dazu bei, den Raum dessen neu zu vermessen, was als Elternschaft gesellschaftlich akzeptabel gilt. Eine Grundlage für ihre Entscheidungen sind zum einen präzise Unterscheidungen und Begriffe von Elternschaft und zum anderen ein Wissen über die empirische Häufigkeit der verschiedenen Formen der Elternschaft.

Formen der Elternschaft: Wie entsteht Elternschaft und wieviel Eltern sind möglich?

Elternschaft ist immer auch ein Problem der Zugehörigkeit im »Wir« einer Familie: Wer gehört zur Familie, wer nicht?10 Unterschieden wird im Folgenden, anders als in der Familienforschung üblich, zwischen biologischer, psychischer und sozialer Elternschaft, darüber hinaus: bei biologischer Elternschaft zwischen genetischer und nicht genetischer und bei sozialer Elternschaft zwischen familialer und rechtlicher (siehe Übersicht).

Biologische Elternschaft: Genetisch – nicht genetisch

Biologische Elternschaft bezeichnet ein biologisches Abstammungsverhältnis. Die biologische Elternschaft kommt durch Zeugung und Geburt zustande. Bei genetischer Elternschaft besteht eine Blutsverwandtschaft. Der Mann, der den Samen zur Zeugung liefert, ist der genetische Vater. Bei der Frau kann zwischen genetischer und nicht genetischer Elternschaft unterschieden werden. Die Frau, die die Eizelle oder Teile einer Eizelle liefert, ist die genetische Mutter, ungeachtet dessen, ob sie das Kind austrägt und gebärt. Eine Frau, die das Kind nicht empfangen, aber ausgetragen und geboren hat, ist zwar die biologische, aber nicht die genetische Mutter (zum Beispiel Leihmutterschaft).11 Es besteht keine Blutsverwandtschaft zum Kind.

Im ersten Fall hätte das Kind zwei biologische Eltern, die zugleich auch die genetischen Eltern sind. Im zweiten Fall hätte das Kind drei biologische Eltern, von denen zwei die genetischen Eltern und eine der nicht genetische Elternteil ist. Mittlerweile kann ein Kind drei genetische Eltern haben, ungeachtet dessen, welche Frau das Kind austrägt (siehe auch i-Punkt »Wie ein Kind zu drei genetischen Eltern kommt«). Darüber hinaus ist die Vorstellung in der Welt, dass kurz über lang die Anzahl der genetischen Eltern grundsätzlich auch unbegrenzt sein kann.12 Demgegenüber dürfte die nicht genetisch begründete, biologische Elternschaft auf eine Gebärmutter beschränkt bleiben.

Psychische Elternschaft: Eine Blackbox

Psychische Elternschaft entsteht durch Gedanken und Gefühle. Gefühle können als psychische Beobachtungen und Beschreibungen physischer Zustände begriffen werden. In Abhängigkeit seines Körpers, seiner hormonellen Ausstattung, seines Empfindens und seiner Biografie, einschließlich der eigenen kindlichen Sozialisation, bildet der Einzelne seine psychische Elternschaft heraus. Eine Frau, die eine Schwangerschaft durchläuft, entwickelt vor der Geburt zuallererst im Bewusstsein eine psychische Beziehung zum Kind. Ihre Gefühle dürften sich grundsätzlich von jenen der genetischen Mutter unterscheiden, die eine Eizelle zur Zeugung geliefert hat. Die Gefühle bilden dabei keinen Gegensatz zur Rationalität. Das Denken, Fühlen und Bewerten gehören zusammen. Für einen Außenstehenden, mag er auch soziologisch, psychologisch oder pädagogisch ausgebildet sein, bleibt das individuelle Bewusstsein jedoch eine Black-Box, die von anderen nicht einsehbar ist. Was zu sehen ist, ist allein die Interaktion von Eltern und Kindern, also die familiale Kommunikation unter Anwesenden. Grundsätzlich ist bei mehr als zwei Elternteilen eine psychische Elternschaft möglich.

Soziale Elternschaft: Familiale – rechtliche

Soziale Elternschaft bezeichnet eine soziale Rolle und bedeutet zum einen die Übernahme bestimmter Aufgaben bei der Erziehung des Kindes, zum anderen die Verantwortung als Erwartung, diese Aufgaben auch erfolgreich zu erfüllen. In der Gesellschaft übernehmen primär die Eltern als Personen, aber auch der Staat mit seinen rechtlichen Normierungen Aufgaben und Verantwortung bei der Erziehung des Kindes. Es ist deshalb zwischen familialer und rechtlicher Elternschaft zu unterscheiden. Demgegenüber ist die gängige Unterscheidung von sozialer und rechtlicher Elternschaft unpräzise. Sie geht von einem Begriff »sozial« aus, der am Alltag orientiert ist und Vorstellungen wie »Wärme«, »Nähe« oder »Zuneigung« mit sich führt. Die real möglichen Beziehungen in der Familie reichen jedoch von Wärme bis Kälte, von Nähe bis Ferne, von Zuneigung bis Abneigung; und nur äußerst selten ist dieses breite soziale Spektrum juristisch relevant. Zugleich siedelt sie juristische Erwartungen und Entscheidungen außerhalb des »Sozialen« an. Diese Unterscheidung ist nicht vereinbar mit einem wissenschaftlichen Verständnis von Gesellschaft. Danach sind Familie und Recht, aber auch Politik, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft keine physischen oder psychischen, sondern soziale Sachverhalte, die nur innerhalb der Gesellschaft und nicht im Gegensatz zur Gesellschaft möglich sind. Kurzum: Was in Familie und Recht geschieht, ist zugleich Vollzug von Gesellschaft.

Familiale Elternschaft entsteht dadurch, dass eine Person durch Selbstverpflichtung die Elternverantwortung für ein Kind faktisch übernimmt. Als Entscheidung ist familiale Elternschaft nie beliebig, sondern stets semantisch, also kulturell bedeutsam, spezifiziert.13 Sie ist Ausdruck einer historisch radikalen gesellschaftsstrukturellen Umstellung der Familie. Familie begründet sich seltener denn je als Institution mit ihren rechtlichen, politischen oder religiösen Referenzen, sondern vor allem durch Herstellung und Selbstbeschreibungen der beteiligten Personen. Diese Innenorientierung ist gegenüber biologischen Vorgaben neutral.14 So lässt sich zwar eine Präferenz empirisch beobachten, dass die Personen in der Paarbeziehung dieselben sind, welche die Elternschaft auch biologisch begründen. Doch jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Zweielternschaft ist familiale Elternschaft strukturell vielfältiger. Unter den Bedingungen einer gesteigerten Selbstbezüglichkeit und Innenorientierung der Familie in der modernen Gesellschaft sind es die beteiligten erwachsenen Personen, die über Elternschaft und Anzahl der Eltern entscheiden. Im Sinne der Verantwortlichkeit verpflichten sie sich selbst, die Verantwortung für die Erziehung eines oder mehrerer Kinder zu tragen. Familiale Elternschaft reicht dann von der alleinerziehenden Person über die Paarbeziehung bis hin zu einer Trio-, Quattro- und X-Beziehung. So etwa bei der multiplen Elternschaft in sogenannten Queerfamilien, wo mehr als zwei Personen die familiale Elternschaft übernehmen (siehe auch i-Punkt »Wie ein Kind zu vier sozialen Eltern kommt: Queerfamilie«). Vergleichsweise häufig ist multiple Elternschaft auch in den vielfältigen Konstellationen der Stief- und Patchworkfamilien, weil Elternpaare sich trennen und mit neuen Personen verbinden. Die Personen der jeweils beteiligten Intimbeziehungen können zudem teilweise oder gar vollständig andere sein als jene, die die Elternschaft bilden. Grundsätzlich ist jede strukturelle Variation familialer Elternschaft möglich jenseits der statistisch häufig erfassten Konstellationen. Familiale Elternschaft ist ein Ausdruck der strukturellen Offenheit sozialer Elternschaft. Eine familiale Elternschaft kann in ihrer aktualisierten Konstellation dauerhaft oder temporär, kontinuierlich oder diskontinuierlich wahrgenommen werden. Die familiale Elternschaft kann sich in der Biografie der Eltern und Kinder verändern durch Ausschluss bisheriger Eltern und Einschluss anderer Personen als Eltern. Gleichzeitig ist familiale Elternschaft nicht beliebig. Entscheidend sind die Sinnzusammenhänge, in denen sich heute Elternschaft kulturell begründet. Sie sind zu beobachten, wenn Eltern sich um ihre Kinder kümmern, wie sie ihre Verantwortung und Befugnisse bei der Erziehung handhaben und sich dadurch von einer Erziehung durch die soziale Umwelt semantisch unterscheiden. Die Verantwortung ist umfassend und beinhaltet die Zumutung, dass verantwortliche Personen, hier die Eltern als Verantwortungsträger, in der Lage sein sollten, Probleme der Erziehung zu entfalten, die andere nicht zu entfalten vermögen. Das schließt selbstverständlich ein Misslingen familialer Elternschaft, ein »dysfunctional parenting« ein.

Rechtliche Elternschaft entsteht durch rechtliche Zuordnung eines Kindes zu einer Person. Aus dieser Zuordnung ergeben sich generell wie spezifisch gehaltene Pflichten und Rechte der Person gegenüber dem Kind. Sie ist weniger umfassend als die familiale Elternschaft, und sie ist gegenüber den Inhalten der familialen Erziehung unscharf. Bezeichnend für die rechtliche Elternschaft ist, dass sie in der Familie nur dann zum Thema wird, wenn extreme Krisen oder Konflikte den Alltag der Familie irritieren. Geregelt wird dann die rechtliche Elternschaft aber nicht in der Familie, sondern nur innerhalb des Rechtssystems, zwischen Anwälten und vor Gerichten. In Deutschland ist die Anzahl rechtlicher Eltern bislang auf maximal zwei Personen begrenzt. Von dieser sogenannten »Vollrechtselternschaft« ist eine »subsidiäre Elternschaft« zu unterscheiden, wenn weiteren Personen einzelne Rechte und Pflichten etwa im Sorge- und Umgangsrecht zugeordnet werden.

Neben den Eltern kann ein Kind auch zu anderen Personen enge Beziehungen haben. Vaskovics schlägt in diesen Fällen vor, sie als »sozial-familiäre Beziehungen« zu bezeichnen.15 Solche persönlichen Beziehungen ähneln semantisch und strukturell in vielem der familialen Elternschaft. Doch sind solche Beziehungen etwa zu Verwandten, Freunden, Bekannten, Nachbarn oder professionellen Erziehern weniger strukturell als semantisch zu begreifen. Verglichen mit familialer Elternschaft sind sie seltener exklusiv und nah, seltener kontinuierlich und dauerhaft, weniger umfassend. Sie sind in einem starken Maße beliebig, selektiv, informell und uneindeutig bei normativen Verpflichtungen und Leistungen.16

Empirische Vielfalt von Elternschaft – Fehlende Daten

Multiple Elternschaft entsteht durch das Auseinanderfallen biologischer, familialer und rechtlicher Elternschaft, zum einen durch Entkopplung von einander, zum anderen durch Aufspaltung der jeweiligen Elternschaft. Multiple Elternschaft ist historisch kein neues Phänomen. Sie dürfte heute aber offener und selbstverständlicher und damit sichtbarer und häufiger gelebt werden. Die empirischen Beobachtungen zu multipler Elternschaft beschränken sich auf die soziale Elternschaft. Sie liefern nur ungenaue Angaben über die tatsächliche Verbreitung von familialer und rechtlicher Elternschaft und lassen nur anzunehmende Rückschlüsse auf eine biologische Elternschaft zu. Empirische Informationen über Eltern und Kinder liefert in Deutschland vor allem der Mikrozensus. Er enthält einen umfangreichen Merkmalskatalog über 800 000 minder- und volljährige Personen und ist damit europaweit die größte repräsentative Bevölkerungsstichprobe. Sie wird jedes Jahr durchgeführt. Seit 1996 liegen auch Daten zu gleichgeschlechtlichen Paaren und mit ihnen zusammenlebenden Kindern vor. Seit 2006 informiert der Mikrozensus zudem über eingetragene Partnerschaften mit Kindern.

Zunächst betrachten wir die Eltern, die gemeinsam mit minderjährigen Kindern wohnen. In Baden-Württemberg wohnten 2017 rund 2,9 Mill. Eltern (siehe Tabelle). Davon lebten 92 % in einer verschieden geschlechtlichen Paargemeinschaft, etwa 0,1 % lebten in einer gleichgeschlechtlichen Paargemeinschaft. Weitere knapp 8 % wohnten allein mit ihren Kindern zusammen. In den meisten Fällen dürfte es sich um eine familiale Elternschaft handeln, deren Anzahl ergänzt werden müsste um die Eltern, die getrennt von ihren minderjährigen Kindern leben und dennoch faktisch die Elternschaft ausüben. Zum möglichen rechtlichen Status der zusammenwohnenden Eltern: 91 % der Eltern leben verheiratet zusammen, weitere 7 % ledig und 2 % verheiratet getrennt, geschieden oder verwitwet. Die meisten der verheiratetet zusammenlebenden Eltern dürften auch die rechtliche Elternschaft besitzen. Diese dürfte jedoch nicht in diesem Maße für jene Eltern gelten, die nicht verheiratet eine Paargemeinschaft bilden. Darauf deutet auch folgende Beobachtung hin: Leben zwei Eltern zusammen, bedeutet das nicht immer, dass die bei ihnen wohnenden Kinder auch die gemeinsamen Kinder sind. Als Folge von Trennung, Scheidung, aber auch Tod und Wiederverheiratung können Stieffamilien entstehen. Es sind Familien, in denen Kinder, die aus früheren Partnerschaften stammen, im gegenwärtigen Haushalt leben. In diesem Haushalt leben also Kinder nur von einem Partner neben möglichen gemeinsamen Kindern. Der Anteil nicht gemeinsamer Kinder beträgt bei verheirateten Eltern 1 %, bei ledigen Eltern 18 % und bei verheiratet getrennten, geschiedenen oder verwitweten Eltern 51 %. Es ist davon auszugehen, dass bei nicht verheiratet zusammenlebenden Eltern familiale und rechtliche Elternschaft am ehesten auseinanderfallen.

Fasst man die Eltern mit nicht gemeinsamen Kindern zusammen, dann dürften mindestens 3 % der in Paargemeinschaft lebenden Eltern nicht die biologischen Eltern von mit ihnen zusammenwohnenden Kindern sein. Andere Studien kommen zum Ergebnis, dass etwa 7 % bis 13 % der Familien in Deutschland Stieffamilien sind.17 Der jeweilige Anteil nicht biologischer Elternschaft dürfte jedoch immer nur eine Untergrenze bilden, da hier die Information fehlt, wie viele von den gemeinsamen, aber auch von den nicht gemeinsamen Kindern adoptiert oder in Pflege genommen sind. Setzt man die Anzahl der Adoptionen von Minderjährigen und die Lebendgeborenen eines Jahres in ein Verhältnis zueinander, dann sind in Deutschland 0,5 % (2017) der minderjährigen Kinder adoptiert. Außerdem sind rund 2,6 % (2016) der Geburten Folge einer künstlichen Zeugung. Die Anteile sind vergleichsweise gering, aber in absoluten Zahlen sind das 3 888 adoptierte minderjährige Kinder und 20 754 Kinder, die künstlich gezeugt wurden. Zudem fehlen die Lebendgeborenen, die außerhalb von Deutschland nach einer künstlichen Zeugung geboren wurden.18

Fazit

Familiale Wirklichkeit und Elternschaft unterliegen einem kulturellen Wandel. Die tatsächlich ausgeübte Elternschaft, die faktische, also tuende und machende, also familiale Elternschaft wird zunehmend verstanden, ohne dass sie auf die biologischen Abhängigkeiten des Lebens zurückgeführt werden kann. Neben der biologischen und sozialen Einheit von Mutter, Vater und Kind entstehen neue Strukturen von Elternschaft. Eltern in ihrer sozialen, das heißt in ihrer kulturellen Bedeutung beschränken sich in ihrer Stellung zueinander weder auf bestimmte natürliche Geschlechter noch auf eine bestimmte Anzahl, und: sie sind nicht beliebig in der umfassenden Verantwortung für die Erziehung des Kindes.

1 Zur Durchsetzung eines modernen Wissenschaftssystems und Entstehung der modernen Universität im 19. Jahrhundert siehe Osterhammel, Jürgen (2013): Die Verwandlung der Welt. München, besonders S. 1105 – 1171.

2 Zum Wissen von der Zeugung siehe Bernard, Andreas (2014): Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Frankfurt/Main, besonders S. 25 – 74 und zum biologischen Geschlecht Sapolsky, Robert M. (2018): Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München.

3 Zur Theorie der Präexistenz und Einschachtelung und zu den aus heutiger Sicht abenteuerlich erscheinenden Argumentationen der Animalkulisten und Ovisten siehe Bernard (2014), S. 35 – 44.

4 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19.02.2013 – 1 BvL 1/11 – Rn. (1–110); http://www.bverfg.de/e/ls20130219_1bvl000111.html (Abruf: 27.02.2019) und BGH, Beschluss vom 20.04.2016 – XII ZB 15/15, www.bundesgerichtshof.de .

5 Siehe mit ausführlichen Literaturnachweisen: Eggen, Bernd (2018): Multiple Elternschaft – Zur neuen Normalität von Elternschaft, in: Rechtspsychologie – RPsych, Jg. 4 (2), S. 181 – 207.

6 Gross, Peter/Honer, Anne (1990): Multiple Elternschaften: Neue Reproduktionstechnologien, Individualisierungsprozesse und die Veränderung von Familienkonstellationen, in: Soziale Welt, 41, S. 97 – 116.

7 Gestrich, Andreas/Krause, Jens-Uwe/Mitterauer, Michael (2003): Geschichte der Familie. Stuttgart, S. 1.

8 Zu möglichen gesellschaftlichen Folgen von »Naturalisierungen« siehe Schimanski, Johan/Wolfe Stephen F. (Edts.) (2017): Border Aesthetics. Concepts and Intersections. New York.

9 Zum Beispiel: BGBL (2017). Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts. Bundesgesetzblatt Teil I 2017 Nr. 52 vom 28.07.2017; Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (Hrsg.) (2017): Abstammungsrecht Abschlussbericht. Berlin: Bundesanzeiger; BGH, Beschluss vom 06.09.2017 – XII ZB 660/14; BGH, Beschluss vom 29.11.2017 – XII ZB 459/16; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 – Rn. (1–69).

10 Oder: Wie werden in der Familie Trennungen und Grenzen vollzogen, Personen ein- und ausgeschlossen? Siehe beispielhaft Bailey, Sandra. J. (2007): Unraveling the meaning of family. Marriage & Family Review, 42(1), 81 – 102.

11 Üblich ist auch die Unterscheidung von genetischer und gestationaler Mutterschaft; siehe Deutscher Bundestag (2018): Das Geschlecht als Zuweisungsfaktor für die Elternschaft sowie Fragen zur Mehrelternschaft. WD 7 – 3000 – 125/18. Die Leihmutter kann auch die genetische Mutter sein, wenn sie ihr Enkelkind zur Welt bringt, dessen Vater der Sohn der Leihmutter ist; https://edition.cnn.com/2019/03/30/us/woman-gives-birth-to-granddaughter/index.html (Abruf: 19.04.2019).

12 Zu möglichen genetischen Modifikationen der Keimzellen vor der Zeugung und des Embryos in vitro siehe Reardon, Sara (2017): US science advisers outline path to genetically modified babies. Nature, 17.02.2017 sowie US National Academies of Sciences (2017): Engineering, and Medicine: Human Genome Editing – Science, Ethics, and Governance. The National Academies Press.

13 Die Semantik bezeichnet sozial bedeutsame und bewahrenswerte Leitvorstellungen einer Gesellschaft, die sich aus Standardisierungen des Empfindens, Denkens, Handelns und Redens ergeben haben.

14 Willekens, Harry (2016): Alle Elternschaft ist sozial, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 64, S. 130 – 135.

15 Vaskovics, Laszlo. A. (2016): Segmentierung und Multiplikation der Elternschaft und Kindschaft: ein Dilemma für die Rechtsregelung? In: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 64, S. 194 – 209.

16 Siehe zum Beispiel Neidhardt, Friedhelm (1975): Die Familie in Deutschland. Gesellschaftliche Stellung, Struktur und Funktion. (4., überarb. Aufl.). Opladen.

17 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2017): Stief- und Patchworkfamilien in Deutschland, in: Monitor Familienforschung – Ausg. 31.

18 Angaben zur künstlichen Zeugung siehe Deutsches IV Register (2018): Jahrbuch 2017. Modifizierter Nachdruck aus J Reproduktionsmed Endokrinol 2018; 15 (5–6). Die Angaben basieren auf einer freiwilligen Erfassung von ausgewählten Verfahren der Reproduktionsmedizin; siehe Kuhnt, Anne-Kristin/Depenbrock, Eva/Unkelbach, Sabrina (2018): Reproduktionsmedizin und Familiengründung – Potentiale sozialwissenschaftlicher Datensätze in Deutschland, in: Zeitschrift für Familienforschung, 30(2), S. 194 – 215; https://doi.org/10.3224/zff.v30i2.04 (Abruf: 14.03.2019). Alle anderen Statistiken stützen sich auf www.destatis.de und eigenen Sonderauswertungen.