:: 4/2019

Brexit? Großbritanniens Beziehungen zur EU, Deutschland und Baden-Württemberg

Der 23. Juni 2016 markierte eine Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union (EU). In einem Referendum votierte eine knappe Mehrheit der Briten (51,9 %) für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche schon jetzt messbare Folgen sich aus einem Austritt für das globale Gewicht der EU und deren Wirtschaftsstruktur ergeben würden. Weiterhin werden die wirtschaftlichen Veränderungen in der Phase seit dem Referendum in Großbritannien sowie die Handelsbeziehungen Großbritanniens zu den Mitgliedstaaten der EU untersucht. Ein besonderes Augenmerk verdienen dabei die Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland sowie Baden-Württemberg, die sich bereits im Vorfeld des Brexit seit dem Referendum vor fast 3 Jahren spürbar verändert haben.

Mit dem Referendum des Vereinigten Königreichs vom 23. Juni 2016 hat sich erstmals seit ihrer Gründung im Jahr 1957 ein Mitglied der EU mehrheitlich für den Austritt aus der EU ausgesprochen. Dies ist für beide Seiten eine neue Situation. So muss ein potenzieller neuer Mitgliedstaat vor einem Beitritt gewisse Kriterien erfüllen, bevor er in die EU aufgenommen wird. Dieses Prozedere durchliefen alle 22 nach 1957 beigetretenen Staaten, sodass sich für einen Beitritt eine gewisse Routine etabliert hat. Da es bis Mitte Juni 2016 keinen Austritt gegeben hat, mangelte es an genau diesen Routinen. Bald wurde auch klar, dass das Vereinigte Königreich nicht zum Nulltarif wird austreten können. Viele Ausgabenposten im EU-Haushalt wie beispielsweise Forschungsgelder, Infrastrukturmittel oder Kohäsionsfonds erstrecken sich über den 7-jährigen Finanzrahmen hinaus.1 Des Weiteren fallen Pensionszahlungen für britische EU-Beamte an. Insgesamt summiert sich diese Austrittsrechnung auf 39 Mrd. britische Pfund, umgerechnet etwa 42 Mrd. Euro.2 Auf die finanziellen Belange konnten sich die EU und Großbritannien relativ schnell einigen. Innerhalb der 2-jährigen Austrittsphase, die mit dem Antrag von Premierministerin Theresa May am 29. März 2017 begann, verhandelte die EU und Großbritannien in mühsamen Sitzungen ein Austrittsabkommen. Neben sehr kleinteiligen Regelungen enthält dieses drei für die EU besonders wichtige Aspekte: die bereits oben erwähnte Austrittsrechnung, die Rechte der EU-Bürger im Vereinigten Königreich nach dem EU-Austritt sowie die Grenzregelung zwischen Irland und Nordirland.

Auswirkungen Großbritanniens auf das globale Gewicht der EU

Durch den Austritt Großbritanniens verändert sich auch die EU als Ganzes. So wandert der geografische Mittelpunkt Europas von der Gemeinde Westerngrund an der bayerisch-hessischen Grenze Richtung Südosten nach Gadheim in der Nähe von Würzburg. Doch die Änderung ist tiefgehender, als der durch den Brexit um knapp 56 km verschobene Mittelpunkt Europas anzeigt. Denn die EU verliert ihr bevölkerungsmäßig drittgrößtes Mitglied. Mit dem Austritt verringert sich ihre Einwohnerzahl auf einen Schlag um 66 Mill. oder um 13 %. Dies wäre gleichbedeutend mit dem Austritt der 15 bevölkerungsmäßig kleinsten EU-Staaten. Auch wirtschaftlich schlägt der Austritt ins Kontor, denn das Vereinigte Königreich steuert über 15 % zur Wirtschaftsleistung der EU bei. Damit erzielt das Königreich nach Deutschland das zweithöchste Bruttoinlandsprodukt (BIP) (Schaubild 1), welches wiederum fast der Wirtschaftsleistung der 19 wirtschaftlich kleinsten EU-Mitgliedsländer entspricht. Vergleicht man den Bevölkerungsanteil (13 %) mit dem BIP-Anteil (15 %), so wird deutlich, dass der EU ein wirtschaftsstarkes Mitglied verloren geht.

Auch das internationale Gewicht der EU nimmt durch den Austritt ab. So repräsentierte die Union 2017 ohne das Königreich nur noch 6 % der Weltbevölkerung und 14 % der globalen Wirtschaftsleistung.3 Damit beschleunigt sich eine Entwicklung, die bereits seit längerer Zeit andauert. So wohnten in den 1980er-Jahren noch 10 % der Weltbevölkerung in der EU und die EU-Wirtschaftsleistung betrug knapp 29 % am kaufkraftbereinigten weltweiten BIP (Tabelle 1). Gleichzeitig stieg das wirtschaftliche Gewicht großer aufstrebender Nationen wie Indien, aber insbesondere China. 2017 steuerte die indische Volkswirtschaft 4 Prozentpunkte mehr zum weltweiten BIP bei als noch in den 1980er-Jahren. Noch stärker fiel die Verschiebung zugunsten Chinas aus. Die Volkswirtschaft aus dem Reich der Mitte erhöhte ihren Anteil am Welt-BIP sogar um 15 Prozentpunkte.4

Veränderte Wirtschaftsstruktur durch den Brexit

Die Wirtschaftsstruktur des Vereinigten Königreichs unterscheidet sich an zwei Stellen deutlich von der Struktur der EU-28 (Schaubild 2). Zum einen lag der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung (10,1 %) 2017 um 6 Prozentpunkte unter dem EU-Schnitt. Andererseits nahmen die Finanz- und Unternehmensdienstleister sowie das Grundstücks- und Wohnungswesen mit gut 33 % einen etwa 6 Prozentpunkte höheren Anteil als im EU-Durchschnitt an. Somit verändert sich bei einem Austritt Großbritanniens auch die Wirtschaftsstruktur der EU. Der Industrieanteil steigt um knapp 1 Prozentpunkt auf 17,5 %, während der oben genannte Dienstleistungsbereich 1 Prozentpunkt an Bedeutung verliert (26,2 %). Ein Vergleich der Wirtschaftsstruktur Deutschlands und Baden-Württembergs mit dem Vereinigten Königreich fördert ebenfalls interessante Unterschiede zu Tage. Um 13 Prozentpunkte überragte 2017 der deutsche Industrieanteil an der Wertschöpfung den entsprechenden britischen Wert. In Baden-Württemberg lag dieser sogar fast dreimal so hoch (32,5 %). Entsprechend nehmen die Dienstleistungsbereiche zwangsläufig ein geringeres Gewicht ein. Die Finanz-, Unternehmensdienstleister sowie das Grundstücks- und Wohnungswesen steuerten in Deutschland 25,3 % und 23,1 % in Baden-Württemberg zur Wertschöpfung bei. Im Vereinigten Königreich kam dieser Teilbereich der Dienstleistungen auf einen 8 bzw. 10 Prozentpunkte höheren Anteil. Auch der Bereich Handel, Verkehr, Gastgewerbe sowie Information und Kommunikation nahm im Vereinigten Königreich einen deutlich höheren Anteil ein als in Deutschland (+ 3 Prozentpunkte) oder im Südwesten (+ 5 Prozentpunkte).

Strukturwandel seit den 1960er-Jahren am Beispiel des Verarbeitenden Gewerbes

Der im internationalen Vergleich sehr niedrige Industrieanteil Großbritanniens war das Ergebnis eines über Jahrzehnte andauernden Strukturwandels, der nicht auf das Königreich begrenzt blieb. Schaubild 3 zeigt die Entwicklung des Industrieanteils an der Bruttowertschöpfung seit den 1970er-Jahren. Alle dort betrachteten Länder wiesen über die Zeit hinweg einen abnehmenden Industrieanteil auf. In den Gründungsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ohne Luxemburg sank der Anteil in den 1980er-Jahren um 3,3 Prozentpunkte, den 1990er-Jahren um 3,6 Prozentpunkte und in den 2000er-Jahren um 2,7 Prozentpunkte zur jeweiligen Vordekade. Seit 2010 scheint sich die Deindustrialisierung allerdings verlangsamt zu haben, da der Industrieanteil nur noch um1,2 Prozentpunkte gegenüber dem Durchschnitt der 2000er-Jahre zurückging. Treiber dieser Entwicklung war Deutschland. Nachdem dort der Anteil in den 1980er-Jahren (– 3,4 Prozentpunkte), aber insbesondere in den 1990er-Jahren (– 5,9 Prozentpunkte) aufgrund der durch die deutsche Einheit ausgelösten wirtschaftlichen Anpassungen zurückging, scheint seit dem Tief von 20025 eine Reindustrialisierung eingesetzt zu haben. Um einen halben Prozentpunkt übertrifft der durchschnittliche Industrieanteil seit 2010 den Wert der Vordekade. In Japan als große Volkswirtschaft außerhalb Europas gewinnt die Industrie ebenfalls wieder an Gewicht, auch wenn dieses noch 1 Prozentpunkt unter der Vordekade liegt.

Der Industrieanteil im Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten entwickelte sich von den 1970er-Jahren bis zu den 1990er-Jahren nahezu parallel. In den 2000er-Jahren schritt die Deindustrialisierung im Königreich mit – 5,2 Prozentpunkten deutlich stärker voran als in den USA (– 3,2 Prozentpunkte). Damit verfügen beide Staaten über die geringsten im Schaubild 3 abgebildeten Industriequoten. Interessant hierbei ist, dass der kumulierte Verlust an Wertschöpfungsanteilen seit den 1970er-Jahren zwischen 11,7 (Großbritannien) und 9,1 Prozentpunkten (Baden-Württemberg) lag und der Strukturwandel in den betrachteten Ländern somit ähnlich verlaufen ist. Der niedrige Industrieanteil im Vereinigten Königreich und den USA lässt sich damit auch auf das vergleichsweise niedrige Gewicht der Industrie bereits in den 1970er-Jahren zurückführen.

Unsicherheit über Austritt belastet Wachstum – Investitionen besonders betroffen

Schon vor dem Referendum wurden die gesamtwirtschaftlichen Effekte eines Austritts in der britischen Presse kontrovers diskutiert. Während die Brexit-Befürworter eine Studie anführten, bei der die Wirtschaftsleistung nach einem Austritt um bis zu 1 % steigen wird6, wiesen die Gegner des Austritts auf deutliche Wohlstandsverluste hin. Aktuelle Simulationen deuten darauf hin, dass die britische Wirtschaftsleistung bei einem »No-Deal« im optimistischen Szenario bis 2023 zwischen 5 % und 6,3 % geringer ausfällt als ohne Brexit.7

Obwohl der Austritt zum Redaktionsschluss dieses Beitrags noch nicht parlamentarisch beschlossen bzw. vollzogen wurde, macht sich die durch den Prozess ausgelöste Unsicherheit bereits in gesamtwirtschaftlichen Kennziffern bemerkbar. So hielten sich Unternehmen insbesondere im letzten Jahr mit Investitionen im Königreich merklich zurück. Als Resultat stagnierten die realen Bruttoanlageinvestitionen 2018 gegenüber dem Vorjahr (Schaubild 4a). Noch deutlicher zeigt sich die Investitionszurückhaltung, wenn man die Investitionen mit der Entwicklung in den übrigen G7-Staaten8 vergleicht. So wies das Königreich 2018 das schwächste Investitionswachstum aller G7-Staaten auf. 2014 lag Großbritannien noch an der Spitze aller G7-Länder. Die Investitionszurückhaltung schlägt sich auch auf das Wirtschaftswachstum als Ganzes nieder. Mit 1,4 % in der gleitenden Jahresrate verzeichnete die britische Volkswirtschaft im 4. Quartal 2018 ein auch verglichen zu anderen G7-Staaten niedriges reales Wachstum (Schaubild 4b).

Knapp die Hälfte des britischen Exports ging 2017 in die Europäische Union

Mit einer Warenexportquote von 17 % an der jährlichen Wirtschaftsleistung war das Vereinigte Königreich im Jahr 2017 deutlich weniger von der Außenwirtschaft abhängig als beispielsweise die Bundesrepublik (gut 39 %) oder Baden-Württemberg (knapp 41 %).9 Dennoch ist die Europäische Union als Exportmarkt alleine schon wegen der geografischen Nähe von herausragender Bedeutung. So ging 2017 fast die Hälfte (47 %) der britischen Exporte in die EU-Staaten. Interessant hierbei ist, dass das Vereinigte Königreich sich seit seinem Beitritt 1973 stärker in den EU-Binnenmarkt integriert hat als beispielsweise Deutschland (siehe Schaubild 5). So erhöhte sich der Exportanteil in die EU-Staaten von 32 % (1973) auf ein Maximum von 60 % (2006). Deutschland steigerte seinen Ausfuhranteil in die EU von 47 % in 1973 auf den Höchstwert 2007 von 65 %. Seit dem Höhepunkt 2006 bzw. 2007 hat der EU-Absatzmarkt in beiden Ländern an Bedeutung eingebüßt. Zum Teil kann dies auf die wirtschaftlichen Probleme einiger Länder der Eurozone während der Eurokrise 2012 zurückgeführt werden. So spielte sich die wirtschaftliche Dynamik in diesem Zeitraum außerhalb der Eurozone ab – beispielsweise in den Schwellenländern und den Vereinigten Staaten. Dementsprechend stieg der Exportanteil in diese Zielländer, sodass der EU-Anteil in Großbritannien um 13 Prozentpunkte und in Deutschland um 6 Prozentpunkte zurückging.

Befürworter des Austritts aus der EU argumentieren, dass sich das Vereinigte Königreich nach dem Brexit zu einem »Global Britain« entwickeln könne. Die Verhandlung der hierfür nötigen Handelsabkommen dürfte allerdings mehrere Jahre in Anspruch nehmen,10 zumal Großbritannien die zur Aushandlung von Handelsverträgen nötigen Experten fehlen.11 Doch selbst wenn das Vereinigte Königreich in kurzer Zeit vorteilhafte Abkommen verhandelt, so würden diese neuen Abkommen nur bedingt den Verlust des exklusiven Marktzugangs in die EU kompensieren. So machen die kulturell und historisch eng mit dem Vereinigten Königreich verknüpften 52 Staaten des Commonwealth 2017 nur knapp 8 % der Gesamtexporte aus. Beim britischen Beitritt 1973 lag dieser Anteil noch 10 Prozentpunkte höher (18,2 %).

Deutschland zweitwichtigster Exportmarkt für das Vereinigte Königreich

Deutschland ist für britische Produkte von zentraler Bedeutung. Ein detaillierterer Blick auf die Ausfuhren Großbritanniens nach Bestimmungsländern zeigt, dass 2017 knapp 11 % in die Bundesrepublik exportiert wurden (Schaubild 6). Nur in die Vereinigten Staaten lieferten britische Unternehmen im gleichen Zeitraum mehr Waren (13,3 %). Da das Vereinigte Königreich nur mit Irland eine Landgrenze teilt, dürfte diese geografische Nähe den sehr hohen Exportanteil mit der »grünen Insel« erklären. Mit knapp 6 % rangierte Irland auf dem fünften Platz und lag damit noch einen Platz vor China (4,8 %).

Irland, die Niederlande und Dänemark unterhalten besonders intensive Handelsbeziehungen mit dem Königreich

Doch wie bedeutend ist der britische Exportmarkt für die verbleibenden EU-Mitgliedstaaten? Durchschnittlich exportierten 2017 die EU-27-Staaten 6,7 % ihrer Gesamtausfuhren in das Vereinigte Königreich (Schaubild 7). Somit war der britische Exportmarkt für die EU-Staaten anteilsmäßig deutlich kleiner als der EU-Markt für das Vereinigte Königreich. Bei einer genaueren Länderanalyse ergeben sich allerdings teilweise erhebliche Unterschiede. So war Irland wie zuvor bereits erwähnt aufgrund der geografischen Nähe von allen EU-Staaten am stärksten mit dem Königreich vernetzt. Über 13 % aller Waren wurden dorthin exportiert. An zweiter Stelle folgten Dänemark und die Niederlande. Letzteres dürfte am sogenannten »Rotterdam-Effekt« liegen, das heißt international gehandelte Produkte landen zunächst im größten europäischen Hafen an, bevor die Güter in ihre finalen Bestimmungsländer verteilt werden. Für Frankreich und Deutschland entsprach der Exportanteil ins Vereinigte Königreich 2017 genau dem EU-Durchschnitt.

Nach dem britischen Austritt wird das Königreich aus Exportsicht für die verbleibenden EU-Staaten ein Land unter vielen sein, während Großbritannien den privilegierten Marktzugang für fast die Hälfte seines Exports verliert. So muss künftig bei einer Einfuhr in die EU-Staaten sichergestellt werden, dass die britischen Produkte die EU-Bestimmungen beispielsweise zur Normierung oder Sicherheit erfüllen. Damit müssen selbst bei einem Zollsatz von Null Exporte in die EU-Staaten zollrechtlich abgefertigt werden, wodurch deutlich längere Lieferzeiten entstehen werden.12 In­wieweit das Königreich in bisher bestehende länderübergreifende Lieferketten eingebunden bleiben kann, wird sich noch herausstellen. Die dann teureren Produktionsbedingungen, aber vor allem die Unsicherheit zu den Modalitäten des Austritts spiegeln sich bereits in der rückläufigen Investitionsdynamik wider (siehe Schaubild 4a).

Handelsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich seit 1973 vervielfacht

Die Handelsbeziehungen Deutschlands und Baden-Württembergs mit dem Vereinigten Königreich haben sich seit dessen Beitritt zur EWG im Jahr 1973 um zweistellige Faktoren vervielfacht. Im Jahr 2018 exportierten Deutschland bzw. Baden-Württemberg Waren im Wert von 82 Mrd. bzw. 9,8 Mrd. Euro in das Vereinigte Königreich, während es 1973 noch lediglich 4,3 Mrd. bzw. 0,7 Mrd. Euro waren. Umgekehrt wurden 2018 Güter mit einem Warenwert von 37 Mrd. bzw. 3,8 Mrd. Euro aus dem Vereinigten Königreich nach Deutschland bzw. Baden-Württemberg importiert. 45 Jahre zuvor lagen die entsprechenden Warenwerte noch bei lediglich 2,6 Mrd. bzw. 0,2 Mrd. Euro.

Die Handelsbeziehungen Baden-Württembergs und Deutschlands mit Großbritannien wuchsen dabei seit dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EWG 1973 bis zum Jahr vor dem Austrittsreferendum (2015) überdurchschnittlich stark. So lag die jährliche Wachstumsrate der Südwest-Exporte nach Großbritannien in diesem Zeitraum durchschnittlich bei 7,3 %, während die Gesamtexporte durchschnittlich nur um 6,2 % zulegten. Ähnliches war bei den Importen Baden-Württembergs in das Vereinigte Königreich (+ 7,4 %) im Vergleich zur Entwicklung der Gesamtimporte zu beobachten (+ 6,7 %) (Schaubild 8).

Seit Brexit-Referendum Bremsspuren bei Handelsbeziehungen

Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 sind bereits deutliche Bremsspuren in den Handelsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich zu beobachten, die in Baden-Württemberg weitaus gravierender ausfielen als bundesweit. Während die Gesamtexporte im Zeitraum 2015 bis 2018 in Deutschland bzw. in Baden-Württemberg durchschnittlich um 3,4 % bzw. 1,2 % pro Jahr zunahmen, gingen die Warenlieferungen in das Vereinigte Königreich im gleichen Zeitraum jährlich um 2,7 % bzw. 11,8 % zurück. Anders ausgedrückt brachen die Südwest-Exporte nach Großbritannien binnen 3 Jahren um fast ein Drittel ein. Zahlenmäßig gingen diese um 4,5 Mrd. Euro auf 9,8 Mrd. Euro zurück und erreichten im Jahr 2018 ein Niveau wie seit 2012 nicht mehr.

Flankiert war diese negative Auswirkung auf den britischen Absatzmarkt von einer Abwertung des britischen Pfunds gegenüber dem Euro, die für eine Verteuerung der Importe des Vereinigten Königreichs aus der Euro-Zone und damit auch der Importe aus Baden-Württemberg sorgte. So mussten die Briten im Jahresdurchschnitt 2018 für einen Euro 21,9 % mehr britische Pfund ausgeben als 3 Jahre zuvor. Alleine im Jahr 2016 legte der Wechselkurs des Euro gegenüber dem britischen Pfund um 12,8 % zu. Die größte Wechselkurs-Bewegung fand unmittelbar nach dem für die Finanzmärkte überraschenden Referendumsergebnis statt.

Bei den Importen aus dem Vereinigten Königreich waren in Deutschland und Baden-Württemberg spiegelbildliche Entwicklungen zu beobachten. Während die Importe aus dem Vereinigten Königreich nach Deutschland 2016 zunächst ab- und danach wieder zunahmen, stiegen die Südwest-Importe 2016 noch, bevor diese in den Folgejahren zurückgingen. Hierfür könnten neben den Wechselkurseffekten auch geänderte Wertschöpfungsketten beigetragen haben. 2018 lagen die Importe aus Großbritannien auf einem so niedrigen Niveau wie seit 2002 nicht mehr.

Betrachtet man die Bilanz der Handelsbeziehungen Deutschlands und Baden-Württembergs mit Großbritannien über den gesamten Zeitraum 1973 bis 2018, so haben sich die einst überdurchschnittlich guten Entwicklungen der Exporte und Importe seit dem Brexit-Referendum den Gesamtentwicklungen weitgehend angeglichen. Dies wird in Schaubild 8 durch die starke Annäherung der Export- und Importentwicklungen mit dem Vereinigten Königreich und den entsprechenden Gesamtentwicklungen deutlich. So betrugen in Baden-Württemberg die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten der Exporte bzw. Importe nach bzw. aus Großbritannien im Zeitraum 1973 bis 2018 5,9 % bzw. 6,6 %. Diese entsprachen nahezu den entsprechenden jährlichen Wachstumsraten der Gesamtaus- und -einfuhren in diesem Zeitraum. Damit hatten die Handelsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich 2018 bezogen auf die Gesamtaus- und -einfuhren wieder fast das gleiche Gewicht wie zum Zeitpunkt des EWG-Beitritts im Jahr 1973. Der Exportanteil Großbritanniens an der Gesamtausfuhr Baden-Württembergs lag 2018 bei 4,8 %, der entsprechende Importanteil war mit 2,1 % weniger als halb so hoch.

Vereinigtes Königreich wichtiger Handelspartner für Deutschland und den Südwesten

Der Blick auf die aktuellen Entwicklungen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Vereinigte Königreich für Deutschland und Baden-Württemberg – insbesondere im Exportgeschäft – nach wie vor ein wichtiger Handelspartner ist.

Im Jahr 2018 lag das Vereinigte Königreich in Deutschland im Ranking der wichtigsten Exportländer mit einem Anteil am Gesamtexportwert von 6,2 % auf Rang 5. Auf den Rängen 1 bis 4 lagen die Vereinigten Staaten (8,6 %), Frankreich (8,0 %), China (7,1 %) und die Niederlande (6,9 %). In Baden-Württemberg rangierte Großbritannien 2018 mit einem Anteil von 4,8 % auf Rang 6 hinter den Vereinigten Staaten (12,4 %), China (7,8 %), Frankreich (7,6 %), den Niederlanden (7,4 %) und der Schweiz (7,3 %).

Bei den Wareneinfuhren spielt das Vereinigte Königreich landes- wie bundesweit im Vergleich dazu eine nachrangigere Rolle. Bundesweit lag es mit einem Anteil am Gesamtimport von 3,4 % auf Rang 11 der wichtigsten Import-Ursprungsländer, im Südwesten mit einem Anteil von 2,1 % sogar lediglich auf dem 15. Platz.

Allerdings liegen den genannten Werten Gesamtbetrachtungen zugrunde, die bei differenzierterer Betrachtung nach Warengruppen deutlich davon abweichen können. Dies gilt auch für die bundesweite Bedeutung der Südwest-Exporte nach Großbritannien.

Kraftwagen bundes- und landesweit im Vereinigten Königreich stark gefragt

Im Jahr 2018 betrug der Anteil Baden-Württembergs an den Ausfuhren Deutschlands in das Vereinigte Königreich 12 % und lag unterhalb des Landesanteils an den Gesamtexporten Deutschlands in Höhe von 15,4 %.

Wie beim Gesamtexport sind auch im Vereinigten Königreich Kraftwagen und Kraftwagenteile aus Deutschland und Baden-Württemberg unter den Gütergruppen am stärksten gefragt. Im Jahr 2018 machte diese Warengruppe 27,4 % der deutschen und 26 % der baden-württembergischen Exporte in das Vereinigte Königreich aus. Damit kam bundes- und landesweit mehr als jeder 4. Euro im Exportgeschäft mit Großbritannien der Kfz-Branche zugute. Es folgten jeweils Maschinen mit Anteilswerten von 11,5 % bzw. 19,7 %. Auf Platz 3 der wichtigsten Exportgüter lagen in Deutschland die Datenverarbeitungsgeräte sowie optische und elektronische Erzeugnisse (7,5 %), in Baden-Württemberg dagegen pharmazeutische Erzeugnisse (8,8 %) (Schaubild 9, Tabelle 2).

Bundesweit kommt Baden-Württemberg beim Export von Pharmaprodukten, elektrischen Ausrüstungen und Maschinen in das Vereinigte Königreich eine Schlüsselrolle zu: In diesen Warengruppen stammt jeweils mehr als ein Fünftel des Exportwerts aus Deutschland nach Großbritannien aus baden-württembergischer Produktion.

Bei Kraftwagen und Kraftwagenteilen beträgt der Südwest-Anteil am Exportwert Deutschlands in das Vereinigte Königreich dagegen lediglich 11,4 %. Allerdings steht das Vereinigte Königreich im baden-württembergischen Exportgeschäft mit Kraftwagen und Kraftwagenteilen weit oben auf der Kundenliste. So rangierte Großbritannien im Jahr 2018 mit einem Anteil von 5,8 % am gesamten Kfz-Exportwert des Landes hinter den Vereinigten Staaten (17,7 %), China (11,5 %) und der Republik Korea (6,1 %) auf Platz 4 der wichtigsten Zielländer und war damit das wichtigste Kfz-Abnehmerland in Europa, vor Frankreich, Italien und Spanien.

Seit 2015 starke Exportrückgänge bei Pharmaprodukten und Kraftwagen

Für den in Baden-Württemberg seit 2015 beobachteten starken Exporteinbruch um 4,5 Mrd. Euro mit dem Vereinigten Königreich war in erster Linie der Handel mit pharmazeutischen Erzeugnissen ausschlaggebend, gefolgt vom Export von Kraftwagen und Kraftwagenteilen. Die Exporte an pharmazeutischen Erzeugnissen gingen im Zeitraum 2015 bis 2018 um 2,8 Mrd. Euro zurück, der Export an Kraftwagen und Kraftwagenteilen um 1,3 Mrd. Euro. Alleine 0,9 Mrd. Euro betrug der Rückgang im Jahr 2018, der teilweise auch mit den Verzögerungen aufgrund des aufwändigeren Emissionstestverfahrens WLTP (Worldwide harmonized Light-duty vehicles Test Procedure) im Zusammenhang stehen dürfte, das eine Drosselung der Fahrzeugproduktion zur Folge hatte. So gingen 2018 auch die Kfz-Exporte in alle anderen Länder (ohne das Vereinigte Königreich) um 2,3 % zurück, jedoch nur einen Bruchteil so stark wie die nach Großbritannien (– 26,5 %). Die Maschinenexporte in das Vereinigte Königreich konnten sich dagegen nach einem Rückgang im Jahr 2016 wieder stabilisieren.

»In« or »Out« – »Deal« or »No-Deal«?

Noch ist völlig unklar, in welche Zukunft die Handelsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich gehen werden. Selbst die Frage, ob es tatsächlich zum Brexit kommt und wenn ja, in welcher Form der Austritt aus der EU vollzogen wird, ist auch fast 3 Jahre nach dem Brexit-Referendum noch nicht geklärt. Aus wirtschaftlicher Sicht wäre ein geregelter »weicher« Brexit einem No-Deal-Brexit vorzuzuziehen. Das mit der EU verhandelte Austrittsabkommen sieht lange Übergangsfristen vor und streckt damit die wirtschaftlichen Folgen über mehrere Jahre. Ein harter Brexit birgt die Gefahr, dass nach der zwingenden Einführung von Zollkontrollen nach dem Austritt der bisher reibungslose Warenverkehr und damit jahrzehntelang bewährte Wertschöpfungsketten beeinträchtigt werden. Deutschland und Baden-Württemberg wären hierbei aufgrund der engen Verzahnung mit Großbritannien im besonderen Maße betroffen.

1 Der derzeitige mehrjährige Finanzrahmen umfasst die Periode von 2014 bis 2020.

2 Office for Budget Responsibility: Economic and fiscal outlook, October 2018, S. 158 ff.

3 Gemessen in Kaufkrafteinheiten. Mit dem Vereinigten Königreich liegt der Bevölkerungsanteil bei 6,9 % und der Anteil am Welt-BIP bei 16,5 %.

4 Bei internationalen Vergleichen ist es üblich, die Wirtschaftsleistung um die Kaufkraft im jeweiligen Land zu bereinigen. So wird die geringe Kaufkraft in aufstrebenden Volkswirtschaften an die hohe Kaufkraft der Industriestaaten angepasst mit dem Ergebnis, dass China die USA als größte Volkswirtschaft abgelöst hat. In US-Dollar gerechnet lag die chinesische Volkswirtschaft 2017 noch deutlich hinter der US-Wirtschaft und auch der EU-28 bzw. der EU ohne Großbritannien.

5 Der noch niedrigere Industrieanteil im Jahr 2009 hatte seine Ursache nicht im Strukturwandel, sondern wurde durch die Finanzkrise ausgelöst. Bereits im Folgejahr erreichte der Anteil wieder das Vorkrisenniveau.

6 Economists for Brexit (Hrsg.): The Economy after Brexit, 2016.

7 Siehe International Monetary Fund (Hrsg.): Euro Area Policies. Washington D.C., 2018; und HM Government: EU Exit Longterm economic analysis. London, 2018. Eine Übersicht der unterschiedlichen Szenarien eines Austritts Großbritanniens aus der EU ist hier zu finden: Ondarza, Nicolai: Der No-Deal Brexit, in: Stiftung Wissenschaft und Politik AP Nr. 01, Januar 2019.

8 Die G7-Staaten (Gruppe von sieben führenden Industrieländern) sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA.

9 Siehe Debes, Sebastian: »10 Jahre nach der Finanzkrise – Baden-Württemberg im internationalen Vergleich«, in: »Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 10/2018«, S. 39.

10 Die Verhandlungsdauer für das Handelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) betrug insgesamt 5 Jahre, mit Japan (JEFTA) 4 Jahre und das seit 2013 zu verhandelnde Abkommen mit den USA (TTIP) ist ausgesetzt.

11 Seit dem Vertrag von Lissabon 2009 haben alle EU-Mitgliedstaaten ihre Kompetenz für Handelsabkommen an die EU-Kommission übertragen. Durch diese Verlagerung wurden Handelsexperten bei der Kommission konzentriert, die Großbritannien jetzt bei möglichen Neuverhandlungen fehlen.

12 So rechnet das Hafenmanagement von Dover, dass eine Verzögerung bei der Abfertigung von 2 Minuten einen Rückstau von 27 Kilometern erzeugen würde, siehe Finke, Björn: Großbritanniens Lebensader, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.12.2018; https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brexit-port-of-dover-zoll-1.4233690 (Abruf: 02.04.2019).