:: 3/2021

Vor Corona: Verdienststrukturen 2018 in Baden-Württemberg – Teil 2

Insgesamt geringe Betroffenheit vom Mindestlohn, aber deutliche regionale Unterschiede

Nachdem im ersten Teil des Artikels auf die Verdienststrukturen der Beschäftigten hinsichtlich persönlicher, unternehmens- und arbeitsplatzbezogener Merkmale, den Niedrig- und Hochlohnbereich und den im Südwesten weiterhin sehr deutlichen Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern eingegangen wurde,1 soll nachfolgend anhand der Ergebnisse der Verdienststrukturerhebung 2018 (VSE)2 nun der Fokus auf den Mindestlohnbereich gelegt werden. Die Mindestlohnkommission hat im Juni 2020 vor dem Hintergrund unterschiedlicher Einflüsse und Interessenlagen, wie etwa den steigenden Lebenshaltungskosten einerseits und den wirtschaftlichen Belastungen der Unternehmen durch die Corona-Pandemie auf der anderen Seite, die gesetzlichen Mindestlohnsteigerungen für die nächsten 24 Monate festgelegt. Daher ist die Betrachtung des Zeitraumes vor diesen gesetzlichen Änderungen hilfreich zur Einschätzung der aktuellen Lage und der möglichen Auswirkungen auf die weitere Entwicklung in Baden-Württemberg in diesem Verdienstbereich. Dabei war die Betroffenheit vom Mindestlohn im April 2018 hierzulande im Bundesvergleich verhältnismäßig gering. Es zeigten sich jedoch deutliche Unterschiede, je nach dem, in welchem Wirtschaftsbereich und in welcher Region Baden-Württembergs eine Person beschäftigt war.

1,3 % der Beschäftigten 2018 im Mindestlohnbereich tätig

Vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Bemühungen um eine angemessene Vergütung, von der sich der Lebensunterhalt ohne zusätzliche staatliche Hilfen bestreiten lässt, ist der Mindestlohn von besonderer Bedeutung. Im Jahr 2018 betrug der von der Mindestlohnkommission unter anderem anhand der Daten der Verdiensterhebungen festgelegte gesetzliche Mindestlohn 8,84 Euro je Stunde (2019: 9,19 Euro/Stunde, 2020: 9,35 Euro/Stunde und ab 2021: 9,50 Euro/Stunde). Rund 80 000 oder 1,3 % der fast 6 Millionen (Mill.) Beschäftigten in Baden-Württemberg erzielten 2018 Verdienste, die im Mindestlohnbereich lagen, das heißt sie erhielten Stundenlöhne im Bereich zwischen 8,79 und 8,88 Euro. Von diesen rund 80 000 Beschäftigten waren ca. 61 % (ca. 49 000) Frauen und ungefähr 39 % (ca. 31 000) Männer. Weitere rund 76 000 Beschäftigte im Südwesten (1 %) lagen mit einem durchschnittlichen Verdienst von 7,96 Euro/Stunde sogar unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Damit bewegte sich dieser Wert etwas unter den 8,12 Euro/Stunde, welche die ca. 483 000 Beschäftigten (1 %), die deutschlandweit unter dem Mindestlohn verdienten, im Bundesschnitt pro Stunde erzielten. Zu beachten ist, dass zu dieser Personengruppe auch Auszubildende und Praktikanten sowie Beschäftigte unter 18 Jahren gehören, für die das Mindestlohngesetz 2018 nicht galt. Auch bei den Beschäftigten, die in Baden-Württemberg unter dem Mindestlohn verdienten, war die Zahl der Frauen mit ca. 55 % (ca. 42 500) höher als die der Männer mit etwa 33 400 Beschäftigungsverhältnissen (Tabelle 1).

Niedriglöhne vor allem bei Arbeitgebern ohne Tarifbindung

Sowohl bei den Jobs im Mindestlohnbereich als auch bei Beschäftigungsverhältnissen mit Einkommen unterhalb des Mindestlohnbereichs wird zudem deutlich, dass ein Großteil der Arbeitgeber dieser Beschäftigten im entsprechenden Vergütungsbereich keiner Tarifbindung unterliegt (90 % bzw. 87 %). Die Jobs im Mindestlohnbereich sind außerdem mit 74 % mehrheitlich geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse (sogenannte Minijobs). Im Gastgewerbe als Wirtschaftszweig mit dem größten Anteil an Niedriglohnjobs, sind die Arbeitgeber von ca. 103 000 oder 80 % der etwa 129 000 Voll- und Teilzeittätigen nicht tarifgebunden, die geringfügig Beschäftigten noch gar nicht mit eingerechnet. Im generell eher besser vergüteten Verarbeitenden Gewerbe drückt die fehlende Tarifbindung die Löhne hingegen kaum in den Niedriglohnbereich. Insgesamt zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Tarifbindung, wobei der Rückgang der tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse mit der Vergrößerung des Niedriglohnsektors einhergeht.3 War Anfang der 1990er-Jahre noch der Großteil der Beschäftigungsverhältnisse tarifgebunden, so hatten 2014 bereits 56,9 % und 2018 schon 59,3 % keine Tarifbindung mehr. Dabei verdienten tarifgebundene Vollzeittätige im April 2018 monatlich 12,4 % und pro Stunde 16,2 % mehr brutto als solche ohne Tarifbindung.4

Durchschnittseinkommen 2018 fast dreimal höher als der Mindestlohn

Aus dem für 2018 geltenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,84 Euro/Stunde ergibt sich bei einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 39,9 Stunden ein monatlicher Mindestlohn von 1 532 Euro brutto. Für Vollzeitbeschäftigte in Baden-Württemberg errechnete sich für den April 2018 ein durchschnittlicher Bruttomonatsverdienst (ohne Sonderzahlungen, aber einschließlich aller Zuschläge) von 4 076 Euro. Der Bruttomonatsverdienst lag folglich mit dem Faktor 2,7 fast dreimal so hoch wie der gesetzliche Mindestlohn.

Der deutschlandweite monatliche Mindestlohn betrug damit 37,6 % des durchschnittlichen Bruttomonatsverdienstes von Vollzeittätigen in Baden-Württemberg. Diese Prozentzahl ist der sogenannte Kaitz-Index, der den Lohnabstand zwischen monatlichem Mindest- und Durchschnittslohn von Vollzeitkräften anzeigt und als Maß der potenziellen Betroffenheit vom Mindestlohn herangezogen wird: Je höher der Kaitz-Index in einer Region ist, desto stärker könnten die Auswirkungen einer Veränderung des Mindestlohns dort sein. Denn je höher der Kaitz-Index, desto geringer sind die durchschnittlichen Verdienste in einer Region. Läge er bei 100 %, würde in dem betroffenen Gebiet ausschließlich der Mindestlohn verdient.

Für Gesamtdeutschland lag der Kaitz-Index 2018 bei 40,4 %, wobei sich auch hier eine weiterhin große Diskrepanz zwischen den durchschnittlichen Bruttoverdiensten in Ost und West zeigt. So lag der Durchschnitt für das frühere Bundesgebiet bei 39,2 %, während der Kaitz-Index für die neuen Länder insgesamt 50,3 % betrug, was eine deutlich stärkere potenzielle Betroffenheit der dortigen Beschäftigten vom Mindestlohn in Deutschland bedeutet. Der Südwesten liegt dagegen unter dem Kaitz-Wert des Bundesgebiets und weist im Ländervergleich nach Hamburg mit 35,5 % und Hessen mit 37,1 % den drittniedrigsten Kaitz-Index auf. Der geringste Lohnabstand zwischen monatlichem Mindest- und Durchschnittslohn und damit die potenziell höchste Betroffenheit vom Mindestlohn findet sich dagegen in Mecklenburg-Vorpommern (51,8 %) und Thüringen (51,6 %) (Tabelle 2, Schaubild 1).

Kaitz-Index – Wie stark sind die Regionen in Baden-Württemberg potenziell vom Mindestlohn betroffen?

Im Bundesvergleich ist Baden-Württemberg eines der Länder mit den höchsten Bruttolöhnen, sodass die potenzielle Betroffenheit vom Mindestlohn gesamtwirtschaftlich und überregional gesehen eher gering ist. Wirft man einen Blick auf die regionale Ebene, zeigen sich aber Unterschiede zwischen den verschiedenen Arbeitsmarktregionen im Land. So verzeichnet die Region Stuttgart mit ihren ca. 1,16 Mill. sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und damit der mit Abstand größten Beschäftigtenzahl aller baden-württembergischen Arbeitsmarktregionen, gemeinsam mit der Region Heilbronn den zweithöchsten durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst von Vollzeittätigen mit 4 500 Euro und den entsprechend zweitniedrigsten Kaitz-Index von 34 %. Nur in der Region Friedrichshafen verdienten Vollzeitbeschäftigte im Schnitt noch mehr im Monat (4 600 Euro) und sind folglich potenziell noch weniger vom Mindestlohn betroffen (33 %). Dagegen weisen Tauberbischofsheim (3 400 Euro), Waldshut (3 300 Euro) und Calw (3 200 Euro) die geringsten durchschnittlichen Monatslöhne auf und entsprechend höher ist auch der Kaitz-Index, der in der Region Calw mit 49 % den höchsten Wert im Südwesten annimmt. Hierzu passt auch der Umstand, dass der monatliche und stündliche Bruttodurchschnittsverdienst von Vollzeittätigen in städtischen Regionen gute 11 % höher liegt als in weniger dicht besiedelten Gegenden (sogenannte Regionen mit Verdichtungsansatz). Trotz insgesamt hoher Verdienste, gibt es also auch in Baden-Württemberg durchaus regionale Differenzen in der Verdienstverteilung und -struktur (Schaubild 2).

Wie entwickeln sich Mindestlohnbereich und Verdienstzahlen angesichts von Mindestlohnerhöhungen und Corona-Einschränkungen?

Auch der Blick auf den Mindestlohnbereich verdeutlicht, dass Baden-Württemberg hinsichtlich der Verdienste der Beschäftigten insgesamt gesehen bundesweit eine gute Position einnimmt und 2018 nur gering vom Mindestlohn betroffen war. Wie sich dies angesichts der kommenden gesetzlichen Erhöhungen des Mindestlohns in Kombination mit den aktuellen wirtschaftlichen Einschnitten durch die Corona-Pandemie weiter entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Mögliche Auswirkungen der etappenweisen halbjährlichen Steigerungen des Mindestlohns auf zunächst 9,35 Euro/Stunde zum Anfang dieses Jahres, 9,60 Euro/Stunde zur 2. Jahreshälfte 2021 bis hin zu 10,45 Euro/Stunde im 2. Halbjahr 2022 auf die Verdienstentwicklung und -strukturen im Land werden die künftigen Ergebnisse der Verdienststatistiken aufzeigen. Ob sich womöglich künftig eine stärkere Betroffenheit vom Mindestlohn vor allem in ohnehin eher niedrig vergüteten Wirtschaftsbereichen wie dem Gastgewerbe oder auch noch weiteren Wirtschaftsbereichen abzeichnen wird, falls die Tariflöhne durch eine coronabedingt schwache Konjunktur in verschiedenen Branchen künftig nicht stärker ansteigen als der Mindestlohn, gilt es hierbei zu beobachten. Nachdem in der Ministerpräsidentenkonferenz am 19. Januar 2021 zunächst eine Verlängerung des Lockdowns bis mindestens Mitte Februar dieses Jahres sowie weitere Verschärfungen der bestehenden Schutzmaßnahmen beschlossen wurden und am 10. Februar 2021 der Lockdown für weite Teile der Wirtschaft bis mindestens zum 7. März verlängert wurde, zeichnet sich ein schnelles Ende der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise weiterhin nicht ab. Viele Wirtschaftsbetriebe und Arbeitnehmende müssen sich also auf weiter andauernde ökonomische und gesellschaftliche Einschränkungen und Unsicherheiten einstellen, was hohe Tarifsteigerungen in Zukunft vermutlich unwahrscheinlicher machen dürfte.

In Zeiten der Corona-Pandemie und den damit andauernden wirtschaftlichen Einschränkungen bleiben ökonomische Kennzahlen wie die Verdienste und deren Entwicklung weiter von hohem Interesse. Die Ergebnisse der VSE und anderer Verdiensterhebungen können hier künftig als Referenzwerte für spätere Vergleiche der Situation vor, während und nach der Corona-Krise dienen. Erkenntnisse über die künftige Verdienstentwicklung bietet dabei die auf konjunkturelle Veränderungen fokussierte Vierteljährliche Verdiensterhebung und vor allem auch die ab 2022 monatlich stattfindende neue Verdiensterhebung, die wie die VSE auch die Verdienststrukturen näher in den Blick nimmt (vergleiche Beitrag de la Croix, Madeleine: Die Novellierung des Verdienststatistikgesetzes ab 2021, ebenfalls in diesem Heft).