:: 12/2022

10 Jahre Statistik zur Kindeswohlgefährdung: Deutlicher Anstieg der Verfahren 2012 bis 2021

Zur Entwicklung der Gefährdungseinschätzungen durch die Jugendämter vor und während der Pandemie

Die Statistik zur Kindeswohlgefährdung wurde im Jahr 2012 im Kinderschutzgesetz mit dem Ziel angeordnet, die Datengrundlage für einen aktiven Kinderschutz zu verbessern. Im Jahr 2021 wurde die Statistik bereits zum zehnten Mal durchgeführt. Nachfolgend wird dargestellt, welches Bild der Gefährdungen die aktuellen Daten zeichnen, wie sich die Fallzahlen seit 2012 im Land Baden-Württemberg und in den Stadt- und Landkreisen entwickelt haben und welche Änderungen vor allem im 1. Pandemiejahr 2020 zu beobachten waren (siehe auch i-Punkt).

19 % der gefährdeten Kinder sind jünger als 3 Jahre

Die aktuellen Daten zu den Kindeswohlgefährdungen für das Berichtsjahr 2021 zeigen, dass die Gründe und Voraussetzungen der Gefährdungseinschätzungsverfahren vielfältig sind. Die Prüfung der insgesamt 16 727 Verfahren mit Verdacht auf Kindeswohlgefährdung kam zu folgendem Ergebnis:

  • 5 636 Fälle ohne Kindeswohlgefährdung und ohne Hilfebedarf (34 %),
  • 5 879 Fälle ohne Kindeswohlgefährdung, aber mit Hilfebedarf (35 %),
  • 2 493 Fälle latenter Kindeswohlgefährdung (15 %) und
  • 2 719 Fälle akuter Kindeswohlgefährdung (16 %).

Von den 5 212 Kindern bei denen 2021 eine akute oder latente Gefährdung festgestellt wurde, waren 19 % unter 3 Jahre alt. Weitere 19 % waren im klassischen Kindergartenalter zwischen 3 und unter 6 Jahren. Kinder im schulpflichtigen Alter (6 Jahre und älter) machten 62 % der Kinder mit einer festgestellten Kindeswohlgefährdung aus. Insgesamt waren 51 % der gefährdeten Jungen und 49 % Mädchen, wobei erkennbar ist, dass bis zum 12. Lebensjahr etwas häufiger Jungen (54 %) und ab dem 13. Lebensjahr vermehrt Mädchen betroffen waren (59 %).

Häufigste Art der Gefährdung: Anzeichen für Vernachlässigung

Bei 42 % der Fälle einer akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung wurden Anzeichen von Vernachlässigung festgestellt, bei 31 % psychische Misshandlung, bei 22 % körperliche Misshandlung und bei 4 % der Fälle sexuelle Gewalt. Während bei den betroffenen Kleinkindern unter 3 Jahren der Anteil der Vernachlässigungen mit 53 % vergleichsweise hoch war, wurden insbesondere bei den Mädchen ab 12 Jahren überdurchschnittlich häufig Anzeichen für körperliche Misshandlung festgestellt (25 %).

Stetiger Anstieg der Kindeswohlgefährdungen im Zeitverlauf

Seit dem 1. Erhebungsjahr 2012 ist die Anzahl der Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung jährlich gestiegen. Im Jahr 2012 waren es noch 9 630 Verfahren, im Jahr 2021 bereits 16 727 (+ 74 %). Den höchsten prozentualen Anstieg gab es im Jahr 2020 (+ 16 % gegenüber 2019). Die Anzahl der Verfahren, die mit dem Ergebnis einer akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung endeten, hat sich in den letzten 10 Jahren ebenfalls erhöht, allerdings etwas moderater. So ist die Zahl der festgestellten Kindeswohlgefährdungen von 3 463 im Jahr 2012 auf 5 212 im Jahr 2021 gestiegen (+ 51 %) (Schaubild 1).

27 von 10 000 Minderjährigen gefährdet

Betrachtet man die Fallzahlen in Zusammenhang mit der Gesamtzahl der minderjährigen Bevölkerung in Baden-Württemberg, zeigen sich ebenfalls deutliche Steigerungen über die Jahre. Die Verfahrensquote, also die Zahl der Verfahren zur Überprüfung einer Kindeswohlgefährdung pro 10 000 Einwohner und Einwohnerinnen unter 18 Jahren, lag 2012 bei 53 und stieg bis zum Jahr 2021 um zwei Drittel auf 88 an. Anders ausgedrückt wurden im Jahr 2021 für 0,9 % aller unter 18-Jährigen in Baden-Württemberg Verfahren zur Gefährdungseinschätzung abgeschlossen.

Die Gefährdungsquote, also die Zahl der bestätigten Kindeswohlgefährdungen bezogen auf 10 000 Minderjährige, ist von 19 im Jahr 2012 auf 27 im Jahr 2021 gestiegen, es wurden also bei 0,3 % der Kinder und Jugendlichen eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung festgestellt. Am höchsten war die Gefährdungsquote bei den Kleinkindern unter 3 Jahren mit 30 pro 10 000 gleichaltrige Kinder (0,3 %), während Jugendliche im Alter von 14 bis unter 18 Jahren mit 22 pro 10 000 Jugendliche der Bevölkerung vergleichsweise selten betroffen waren (0,2 %).

Regionale Unterschiede erkennbar

Die Verfahrensquote schwankte 2021 stark zwischen den Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs. Besonders viele Verfahren pro 10 000 unter 18-Jährige wurden mit je über 190 in den Stadtkreisen Ulm, Mannheim, Stuttgart und Karlsruhe durchgeführt. Die wenigsten Verfahren zur Gefährdungseinschätzung mit jeweils unter 20 pro 10 000 Minderjährige wiesen die Landkreise Göppingen und Ravensburg auf. In insgesamt sechs Stadt- und Landkreisen wurden über die Hälfte der Verdachtsfälle durch die Feststellung einer akuten oder latenten Gefährdung bestätigt. In weiteren 13 Stadt- und Landkreisen wurden weniger als ein Viertel der Verdachtsfälle bestätigt (Schaubild 2).

Den regionalen Unterschieden können vielfältige Ursachen zugrunde liegen, wie beispielsweise auch unterschiedliche organisatorische Strukturen oder Arbeitsweisen. Daher ist bei dieser Betrachtung zu berücksichtigen, dass es sich um eine rein quantitative Darstellung handelt, die keine umfassenden Rückschlüsse auf die Qualität der regionalen Struktur zulässt.

Gefährdungseinschätzungen in Zeiten der Corona-Pandemie

Die Fallzahl der Gefährdungseinschätzungsverfahren hat im Jahr 2020, dem 1. Jahr der Corona-Pandemie, gegenüber dem Vorjahr um 15 % zugenommen. Sie ist damit stärker gestiegen als in den Vorjahren. Im 2. Coronajahr 2021 war ein Anstieg der Zahlen von lediglich 0,1 % gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Das hohe Niveau von 2020 wurde demnach gehalten. Die Anzahl der Verfahren, die mit dem Ergebnis einer akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung endeten, ist im Jahr 2020 um 9,5 % und 2021 um 1,7 % gegenüber dem jeweiligen Vorjahr gestiegen.

Vermehrt Gefährdungsmeldungen durch Polizei und Justiz

Hinweise auf mögliche Gefährdungen werden den Jugendämtern von unterschiedlichen Personen und Institutionen herangetragen. Seit dem Erhebungsjahr 2013 gingen jährlich die meisten Meldungen zu möglichen Kindeswohlgefährdungen über Polizei und Justiz ein. Der Anteil ist stetig gestiegen von 19 % im Jahr 2013 auf 29 % im Jahr 2021. Im Jahr 2020 war der Anstieg im Vergleich zum Vorjahr (+ 3 Prozentpunkte) am höchsten, 2021 wurde das hohe Niveau gehalten. Im Jahr 2020 ist außerdem der Anteil der Meldungen durch Eltern bzw. Sorgeberechtigte gestiegen (+ 2 Prozentpunkte) und 2021 leicht gesunken (–1 Prozentpunkt).

Bei den Meldungen durch Polizei/Justiz wurden 24 % der Verdachtsfälle durch die Feststellung einer akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung bestätigt. Von den Meldungen durch Eltern/Sorgeberechtige wurden 33 % bestätigt. Der Durchschnitt über alle Gefährdungsmeldungen hinweg lag bei 31 % bestätigten Verdachtsfällen.

Erstmals Rückgang der Gefährdungsmeldungen durch Schulen

Am stärksten gesunken ist der Anteil an gemeldeten Fällen durch Schulen von 10 % im Jahr 2019 auf jeweils 8 % in den Jahren 2020 und 2021. Bei der Betrachtung der Zahlen wird deutlich, dass 2020 im Vergleich zum Vorjahr die Anzahl der Verfahren insgesamt um 16 % gestiegen, die Meldungen durch Schulen hingegen um 12 % gesunken sind. Im Jahr 2021 sind die Meldungen durch Schulen wieder gestiegen (+ 10 %) und haben sich dem Niveau von 2019 annähernd angeglichen. Somit wurde 2020 erstmals seit dem Erhebungsjahr 2013 ein Rückgang der Gefährdungsmeldungen durch Schulen verzeichnet. Es ist davon auszugehen, dass die Ursache hierfür hauptsächlich in den coronabedingten Schulschließungen (Lockdown) im Jahr 2020 liegen dürfte.

Die Meldungen durch Schulen wurden 2021 mit 36 % und 2020 mit 40 % überdurchschnittlich häufig durch die Feststellung einer akuten oder latenten Gefährdung bestätigt (Durchschnitt: 31 %). Der Rückgang der Gefährdungsmeldungen durch Schulen mit einer hohen Verlässlichkeit und die Zunahme der Meldungen durch Polizei/Justiz mit einer geringeren Verlässlichkeit könnte zur höheren Differenz zwischen durchgeführten Gefährdungseinschätzungsverfahren und bestätigten Kindeswohlgefährdungen beigetragen haben.

Fazit

10 Jahre nach der Einführung der Statistik zur Kindeswohlgefährdung als Datengrundlage für einen aktiven Kinderschutz lässt sich durch die Zahlen sowohl die zeitliche Entwicklung, als auch der aktuelle Sachstand auf Grundlage der Ergebnisse 2021 abbilden.

Erkennbar sind ein stetiger Anstieg der Verfahren zur Gefährdungseinschätzung seit 2012, insbesondere zu Zeiten der Pandemie, sowie deutliche regionale Unterschiede. Bei näherer Betrachtung der Gefährdungsfälle werden unter anderem Unterschiede nach Altersgruppen und Geschlecht sichtbar. Diese und weitere konkrete Erkenntnisse aus der amtlichen Statistik können beispielsweise zur Optimierung altersspezifischer und gendersensibler Schutzkonzepte genutzt werden.