Existiert Armut oft nur in der Statistik
Anmerkung zur Messung von Armut
Die Armutsgefährdung der Bevölkerung ist stets eine wichtige Meldung in den Medien. Gleichzeitig wird das Konzept der relativen Einkommensarmut kritisiert. In der Kritik steht vornehmlich die Orientierung des Armutsbegriffs an einem Durchschnittseinkommen. Armutsgefährdungsgrenzen und Armutsgefährdungsquoten seien als Indikatoren unbrauchbar und irrelevant. Die Kritik greift jedoch theoretisch und methodisch zu kurz. Das mediane Einkommen kann sehr wohl ein Indikator zur Messung von sozialer Ungleichheit und Armut sein. Von Interesse ist dabei weniger die exakte quantitative Messung der Beziehung von Einkommen und Armut, sondern ihre theoriegeleitete und damit niemals abschließbare Interpretation.
Deutschland ist ein reiches Land, in dem nur wenige Menschen in absoluter Armut leben, deren physische Existenz also unmittelbar durch Verhungern oder Erfrieren oder mittelbar durch mangelnde Resistenz bei Erkrankungen bedroht ist. Allerdings erwarten wir von unserer Gesellschaft, dass nicht allein das physische, sondern auch ein soziales Existenzminimum des Menschen gewährleistet sein soll. Es orientiert sich relativ zu dem, was in einer Gesellschaft als sozialer Mindestbedarf bezeichnet wird. Wer es unterschreitet, lebt in relativer Armut (siehe i-Punkt »Soziale Ungleichheit und Armut«).
Manche behaupten nun, dass diese relative Armut nie verschwinden könne, auch dann nicht, wenn die Gesellschaft immer reicher wird. Sie kritisieren den Nachweis von Armut durch das wissenschaftliche Konzept der relativen Armut und reduzieren es auf ein statistisches Phänomen.1 So jüngst wieder geschehen in einem Artikel der Schwäbischen Zeitung mit dem Titel »Warum Armut oft nur in der Statistik existiert«.2
Ist diese Kritik an der Statistik tatsächlich berechtigt? Die Frage gilt es anhand der Aussagen in der Schwäbischen Zeitung zu beantworten. Das Folgende diskutiert das statistische Konzept der relativen Armut und seine Leistungsfähigkeit.
»Mit den Zahlen stimmt etwas nicht«
In diesem Artikel kritisiert der Autor nicht nur Statistiken zur Armut in Deutschland und ihre Interpretation, sondern auch, dass daraus politische Forderungen erhoben werden. Er bezieht sich auf eine kürzlich veröffentlichte Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI).3 Das Institut gehört zur Hans-Böckler-Stiftung und damit zum Deutschen Gewerkschaftsbund. Laut dieser Studie sei die Armutsquote in Deutschland spürbar gestiegen, und zwar von 14,5 % 2010 auf 16,7 % der Bevölkerung 2022. Diese Entwicklung sei problematisch für die Demokratie in Deutschland. Denn, so zitiert der Autor die Interpretation der Studie, das Vertrauen in demokratische Institutionen sei abhängig von der Einkommenshöhe. Die Studie fordere als politische Maßnahmen: Sozialleistungen anheben, Mindestlohn erhöhen und Reiche stärker besteuern.
Für den Autor ist der Dreiklang von Statistik, Interpretation und politischer Forderungen deshalb problematisch: Die WSI-Studie wendet das Konzept »Relative Armut« an, und dieses ignoriere die Entwicklung des Wohlstandsniveaus. Der Autor beschreibt zunächst dieses Konzept völlig richtig (siehe i-Punkt »Arithmetisches Mittel und Median«): Als arm gilt jeder, dessen bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 % des bundesdeutschen Medians beträgt. Das Medianeinkommen teilt die Bürger in zwei Hälften: 50 % verdienen mehr und 50 % verdienen weniger. Zum Beispiel bei einem Medianeinkommen von 2 000 Euro netto im Monat, gilt als arm – gemäß amtlicher Statistik als armutsgefährdet – wer weniger als 60 % dieses Medianeinkommens, das sind 1 200 Euro, zur Verfügung hat. Der Autor begründet dann seine Kritik anhand von drei »Fakten«, die im Folgenden kurz als Fahrstuhl-Effekt, Geflüchtete und Lohnspreizung bezeichnet werden.
Die »Fakten« werden nun überprüft mit Hilfe eines Ausgangsszenarios mit seinen abweichenden Varianten (siehe Übersicht). Zum leichteren Verständnis der verschiedenen Schwellen und Quoten von Armut und Reichtum, gilt als arm, wer statt 60 % weniger als 50 % des jeweiligen Medianeinkommens zur Verfügung hat, und als reich, wer über das doppelte Medianeinkommen verfügt.
Fakt 1: Der Fahrstuhl-Effekt – zwischen Armut und Reichtum
Seine Kritik am statistischen Konzept der relativen Armut beginnt der Autor mit einer Modellannahme, dass sich die Einkommen in Deutschland von einem Jahr aufs andere verdoppeln, die Preise aber gleichbleiben: »In diesem Fall würde es allen Menschen in Deutschland viel besser gehen.« Die unteren Einkommen würden von 1 200 auf 2 400 Euro netto im Monat steigen. Da sich auch das Medianeinkommen verdoppelt hätte, nämlich von 2 000 auf 4 000 Euro, blieben (…) weiterhin 16,7 % der Bevölkerung arm, weil sie immer noch weniger als 60 % des Medians verdienten. Die Wohlstandsentwicklung in Deutschland spiele bei diesem Konzept keine Rolle, denn: »Ganz egal wie weit die niedrigen Einkommen absolut betrachtet von Armut entfernt sind, (…) wird es Armut geben, solange die Wirtschaft wächst«.
Doch schon im darauffolgenden Satz widerspricht sich der Autor, denn das statistische Konzept scheint doch auf das Wohlstandsniveau zu reagieren: »Anders wäre es, wenn eine Volkswirtschaft zum Beispiel kriegsbedingt nahezu zum Erliegen kommt«. Die Einkommen unterschieden sich nur unwesentlich, weil fast alle nun arm seien, gleichwohl wäre der relative Anteil der Bevölkerung, der weniger als 60 % des Medians verdient, deutlich gesunken. Deshalb, so der Autor, sorgt das statistische Konzept der relativen Armut für ein paradoxes Ergebnis. »Tendenziell steigt die Armut, wenn es der Bevölkerung gut geht, und sie schwindet, je schlechter es der Bevölkerung geht«. Der Autor kommt zum Schluss, dass nach dem statistischen Konzept Armut am effektivsten bekämpft wird, indem Wohlstand vernichtet wird.
Im ersten Teil beschreibt der Autor eine Situation, die der im Deutschland der Nachkriegszeit ähnelt. Mehr Geld, mehr Konsum gab es für die meisten Menschen besonders in den 1950er- und 1960er-Jahren. Das kollektive Mehr an Wohlstand veränderte jedoch nicht grundlegend die ökonomische Ungleichheit zwischen »Oben« und »Unten«. Denn der Fahrstuhl fuhr für fast alle wenigstens eine Etage höher. Der Wohlstand stieg, aber nicht die Ungleichheit. In der New York Times vom 20. Oktober 2002 schreibt der Ökonom Paul Krugman über diese Zeit: »Daily experience confirmed the sense of a fairly equal society. The economic disparities you were conscious of were quite muted.«4
Das Szenario 1 »Fahrstuhl-Effekt« (siehe Übersicht) spielt diese historische Entwicklung – sicherlich sehr vereinfacht – nach: Die Bevölkerung verfügt jetzt – gemessen am Gesamteinkommen – über mehr Geld. Das Ergebnis: Die Einkommen verdoppeln sich bei allen Einkommensgrößen. Das mittlere Einkommen verdoppelt sich auf 4 000 Euro. Gleichermaßen steigt das Einkommen der bisher als arm definierten Personen auf 2 000 Euro (50 %-Armutsschwelle). Die Armutsgefährdungsquote bleibt unverändert. Sind diese jetzt nicht mehr arm? Statistisch sind sie es immer noch, denn sie verfügen immer noch höchstens über die Hälfte des medianen Einkommens. Gibt es in der Bevölkerung trotz höherem Gesamteinkommen wenigstens mehr Reiche? Nein, auch der Anteil der reichen Personen ändert sich nicht bei diesem Szenario. Er bleibt unverändert bei 10 %.
Insoweit hat der Autor recht, dass sich bei diesem Szenario offensichtlich das statistische Konzept der relativen Armut immun gegenüber einer Entwicklung des Wohlstands zeigt. Was der Autor jedoch mit der Annahme stabiler Preise ausblendet, ist ein empirischer Aspekt: Die Kaufkraft und ihre Veränderung. Wenn die Einkommen steigen, steigen in der Regel auch die Ausgaben. Die Inflation reduziert die Kaufkraft der zusätzlichen Euros. Was hier nicht diskutiert werden kann, ist das Ausmaß der Inflation und ihre ökonomische Wirkung auf Personen mit weiterhin vergleichsweisen sehr niedrigen oder sehr hohen Einkommen.
Im zweiten Teil folgt der Autor einer weiteren gängigen Kritik am Konzept der relativen Armut. Nur wenn jeder das gleiche Einkommen hat, kann es statistisch gesehen keine relative Armut geben, aber auch das blendet der Autor aus: keinen relativen Reichtum. In diesem wenig realistischen Modell sind alle weder arm noch reich, denn der Durchschnitt fehlt, an dem das einzelne Einkommen gemessen und verglichen werden kann. Anders formuliert: Wenn alle Personen exakt das gleiche Einkommen haben, egal wie hoch oder niedrig, verdient niemand mehr unter- oder überdurchschnittlich.
Fakt 1: Armut ist keine statistische Notwendigkeit
Diese selektiven Ausblendungen des Autors mag man noch hinnehmen, denn: Das statistische Konzept der relativen Armut gründet nun einmal auf der Tatsache, dass nur relative Aussagen einen empirischen Informationsgehalt besitzen. Das Einkommen einer Person liefert absolut, das heißt ohne Bezug auf anderes, keine relevante Information; erst relational zum Einkommen einer anderen Person oder zum Durchschnitt aller Einkommen entsteht relevante Information: Es ist gleich, höher oder niedriger. Völlig daneben liegt der Autor jedoch mit seiner Aussage zum Zusammenhang von Statistik einerseits sowie Armut und Wohlstand andererseits.
Es trifft zu, wo es einen Durchschnitt gibt, wird es immer auch Personen geben, die eben unterdurchschnittlich verdienen oder besitzen. Aber trifft es zu, dass mit dem statistischen Verfahren per Definition es immer Armut geben müsste ungeachtet der Einkommensentwicklung und -verteilung? Das Szenario 2 »Reichtum ohne Armut« spielt folgende sozialpolitische Variante durch: Das unterste Einkommen steigt gegenüber dem Ausgangsszenario um mehr als das Doppelte, alle anderen Einkommen nehmen wesentlich geringfügiger zu, der prozentuelle Zuwachs sinkt mit steigendem Einkommen. Das Ergebnis: Die Bevölkerung wird reicher, das mittlere Einkommen steigt. Ebenso steigt die Schwelle zur Armut, so dass Armut tatsächlich verschwinden kann. Alle unterdurchschnittlichen Einkommen liegen oberhalb der Armutschwelle. Gleichzeitig verringert sich nicht der Anteil der Reichen. Mit anderen Worten: Gerade anders als der Autor behauptet, lässt sich, rein statistisch beobachtet, Armut am effektivsten bekämpfen, wenn man den Wohlstand allgemein und besonders bei den untersten Einkommen erhöht. Armut ist keine statistische Notwendigkeit, sondern Folge von ökonomischen und politischen Entscheidungen der Gesellschaft und persönlichen Entscheidungen jedes Einzelnen.
Fakt 2: Geflüchtete – immer mehr Arme
Das statistische Konzept der relativen Armut kann auch bei einem weiteren Thema zu mehr Sachlichkeit beitragen. Der Autor führt einen zweiten Aspekt der Armutsdebatte an. Die Einwanderung sorge für zusätzliche Armutsgefährdung, weil »sich der Anteil von Einwanderern aus Afrika und dem mittleren Osten mit einem geringeren Bildungsniveau erhöht« habe. Entsprechend sei auch die Zahl der Menschen in Deutschland gestiegen, deren Einkommen bei weniger als 60 % des Medians läge. Das Szenario 3 »Geflüchtete« versucht diese Entwicklung sehr vereinfacht wiederzugeben: Es kommen Menschen nach Deutschland, die hier nur über das niedrigste Einkommen verfügen. Einwanderer mit höheren Einkommen, Auswanderer oder ökonomische Auf- und Abstiege innerhalb der schon bestehenden Bevölkerung bleiben unberücksichtigt. In diesem Szenario steigt die Anzahl der Personen im untersten Einkommen beispielsweise um 50 %, und damit die Gesamtbevölkerung um 5 %. Bei einer Bevölkerung von 80 Millionen Einwohnern entspräche dieser Anstieg etwa zusätzliche 4 Millionen Menschen. Wie reagiert das statistische Konzept der relativen Armut? Gegenüber dem Ausgangsszenario sinkt das Durchschnittseinkommen auf 1 875 Euro und mit ihm die 50 %-Armutsschwelle auf ca. 937 Euro. Trotz niedrigerer Armutsschwelle steigt die Armutsquote auf ca. 14 %. Kurzum: Auch dieses Szenario belegt, dass das statistische Konzept der relativen Armut sensibel auf Veränderungen des Wohlstandsniveaus reagiert.
Fakt 3: Lohnspreizung – immer reicher, immer ärmer
Als letztes Faktum greift der Autor die Auseinanderentwicklung der unteren und oberen Lohngruppen auf mit der Folge, »dass die Schere zwischen einkommensarmen und einkommensreichen Bürgern auseinandergeht«. Auch diese empirische Entwicklung der Gesellschaft lässt sich mit dem Konzept der relativen Armut beobachten und beschreiben. Der gesellschaftliche Hintergrund für das Szenario 4 »Immer reicher – immer ärmer« ist auch die Entwicklung in den USA.
Spätestens seit Ende der 1970er-Jahre hat sich die Schere zwischen Reich und Arm erheblich geöffnet. Ein Grund könnte darin liegen, dass die Armen nur nicht so stark am Wohlstandszuwachs partizipiert haben wie alle anderen. Doch das trifft nicht zu. Die Armen sind tatsächlich noch ärmer geworden und die Reichen noch reicher. Die Einkommens- und Vermögensschere öffnet sich besonders in den USA, aber auch seit Ende des letzten Jahrhunderts zunehmend in Deutschland.5
Das Szenario 4 stellt diese Entwicklung nach: Das unterste Einkommen sinkt, das oberste Einkommen verdoppelt sich, und die mittleren Einkommen steigen vergleichsweise geringfügig. Das Ergebnis: In der Summe und im Schnitt ist die Bevölkerung reicher. Auffällig ist jedoch, dass die Armutsquote mit 10 % unverändert bleibt, und dies obwohl die Ärmsten der Armen über noch weniger verfügen als zu Beginn der Entwicklung. Der Grund für die unveränderte Armutsquote ist, dass – anders als ein mit dem arithmetischen Mittel berechnetes Durchschnittseinkommen – das Medianeinkommen nicht auf alle Einkommensentwicklungen reagiert, sondern auf jene in der unteren Hälfte der Einkommensbezieher. Allerdings auch hier nicht auf alle. Der Median ist unempfindlich gegenüber Veränderungen des Einkommens am untersten Ende der Einkommensverteilung. Die finanzielle Situation dieser Personen ist jetzt jedoch prekärer, und der absolute Abstand zum Durchschnitt der Gesellschaft ist größer geworden. Mit anderen Worten: Verschlechtert sich die ökonomische Situation der Armen, existiert diese verschärfte Armut nicht in der Statistik. Das statistische Konzept der relativen Armut ist immun gegenüber intensionalen Entwicklungen an den untersten und obersten Rändern einer Gesellschaft (siehe i-Punkt »Zur Paradoxie des Medians«).
Die Zahlen stimmen – Statistik misst die Armut der Gesellschaft
Wer Armut in Deutschland auch anhand des Einkommens und mit Hilfe des Medians misst und interpretiert, hat die Eigenschaften der statistischen Maßzahl zu kennen, das heißt wie sie auf Veränderungen der Höhe und Verteilung von Einkommen reagiert und welchen unmittelbaren Einfluss sie auf Armutsgrenzen und -quoten ausübt. Die Armutsgrenze selbst ist grundsätzlich ein willkürlich gesetzter mathematischer Wert. Diese Eigenschaften sprechen nicht gegen das Maß als ein Indikator zur Messung von Armutsgefährdung und auch nicht gegen eine sozial konstruierte Armutsgrenze, sondern für die theoriegeleitete Interpretation der Ergebnisse: In Deutschland lag 2021 die Armutsgefährdungsschwelle bei 1 148 Euro für die einzelne Person und bei 2 410 Euro für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren.6 Mit diesen und weniger Einkommen bestreiten die jeweiligen armutsgefährdeten Haushalte unter anderem Wohnungskosten, Versicherungen, Nahrung und Kleidung. Von Interesse ist hier nicht die exakte quantitative Messung der Beziehungen von Einkommen und Armut, sondern ihre »qualitative Färbung« durch Wertideen (Max Weber). Der empirische Informationsgehalt dieser Ergebnisse lässt die Annahme, dass eine Familie unterhalb dieses Einkommens armutsgefährdet ist, als sehr wahrscheinlich, naheliegend oder plausibel gelten. Allerdings bedarf diese Annahme weiterer empirischer Überprüfungen und Begründungen entlang zusätzlicher Indikatoren. Die Überprüfungen sind jedoch niemals endgültig abschließbar, so dass jede Untersuchung irgendwann einmal ihre Zuflucht zu Plausibilitätskonventionen nehmen muss. Kurzum: Einkommen, Berechnungen mit dem Median und die mit Hilfe des Medians ermittelten relative Armutsgefährdungsschwelle und -quote sind brauchbare und relevante Indikatoren, um Aspekte von sozialer Ungleichheit und Armut zu messen. Armut existiert also nur deshalb, weil wir als Gesellschaft Armut produzieren. Die Statistik misst diese Wirklichkeit.