:: 3/2004

Perspektiven des Bevölkerungswachstums in Baden-Württemberg

Die Einwohnerzahl des Landes befindet sich seit der Wiedervereinigung Deutschlands auf deutlichem Wachstumskurs. Antrieb dieser Entwicklung waren in erster Linie die Nettozuwanderungen. Allein die Wanderungsgewinne gegenüber dem Ausland machten rund 60 % des Einwohnerzuwachses seit Anfang 1990 aus. In früheren Bevölkerungsvorausrechnungen wurden die Perspektiven für einen längerfristigen Anstieg der Bevölkerungszahlen eher zurückhaltend eingeschätzt. Aus heutiger Sicht kann auch in den kommenden 20 Jahren mit einem – wenn auch etwas abgeschwächten – Bevölkerungswachstum gerechnet werden, falls jährlich rund 38 000 Personen mehr ins Land zuwandern als fortziehen.

Beschleunigte Bevölkerungszuwächse seit Beginn der 90er-Jahre

Die Einwohnerzahl Baden-Württembergs hat sich seit Gründung des Landes 1952 bis zur Jahresmitte 2003 von seinerzeit fast 6,7 Mill. Einwohnern auf heute knapp 10,7 Mill. erhöht. Das entspricht einem Anstieg von rund 60 %. Dabei traten nur in sechs einzelnen Jahren (1974 bis 1976 und 1982 bis 1984) vorübergehend rückläufige Einwohnerzahlen auf. Während in den 50er- und 60er-Jahren Bevölkerungszuwächse von etwa 16 % bis 18 % pro Jahrzehnt verzeichnet wurden, stellte sich in den 70er- und 80er-Jahren mit rund 3 % und knapp 5 % pro Jahrzehnt ein deutlich niedrigeres Bevölkerungswachstum ein. Seit den 90er-Jahren entwickelte sich die Einwohnerzahl des Landes wieder stärker aufwärts. Von Anfang 1990 bis zur Jahresmitte 2003 ist die Bevölkerungszahl um rund 1,06 Mill. Menschen (+ 11 %) angestiegen.

Relativ stärkstes Bevölkerungswachstum unter den Ländern Deutschlands

Im Vergleich zu den übrigen Ländern Deutschlands erreichte Baden-Württemberg seit der Wiedervereinigung mit einem Plus von 8,7 % den relativ höchsten Bevölkerungszuwachs. Es folgten Bayern (+ 8,3 %), Niedersachsen (+ 8,1 %) und Rheinland-Pfalz (+ 7,8 %). Im Bundesdurchschnitt wuchs die Einwohnerzahl Deutschlands um rund 3,5 %. Erhebliche Einwohnerverluste mussten die neuen Länder hinnehmen. Die prozentual größte Bevölkerungsabnahme verzeichnete Sachsen-Anhalt mit einem Minus von fast 12 %. Auch in Mecklenburg-Vorpommern schlug die Abnahme der Bevölkerungszahl mit knapp − 10 % deutlich zu Buche. Von den Ländern des früheren Bundesgebietes verzeichneten das Saarland, Berlin und Bremen leichte Bevölkerungsrückgänge (Schaubild 1).

Nettozuwanderungen »Motor« des Bevölkerungswachstums

Der Bevölkerungszuwachs von rund einer Million Menschen seit Beginn der 90er-Jahre war zu gut 80 % auf Wanderungsgewinne und zu knapp 20 % auf ein Geburtenplus in der Bilanz aus Lebendgeborenen und Gestorbenen zurückzuführen. Obwohl die Wanderungsströme nach Baden-Württemberg seit Mitte der 90er-Jahre in deutlich ruhigeren Bahnen verlaufen als Anfang des vergangenen Jahrzehnts – seinerzeit ergaben sich starke Zuströme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, von Spätaussiedlern und aus Ostdeutschland –, stellte die Nettozuwanderung Jahr für Jahr den »Motor« für die Bevölkerungszuwächse dar. Demgegenüber schwächte sich der Beitrag der Geburtenüberschüsse zum Bevölkerungswachstum insbesondere seit Ende der 90er-Jahre mehr und mehr ab (Schaubild 2).

60 % des Bevölkerungswachstums seit 1990 durch Zuwanderungen aus dem Ausland

Über den gesamten Zeitraum von Anfang 1990 bis Mitte 2003 gesehen machten die Wanderungsgewinne von rund 634 000 Personen gegenüber dem Ausland etwa 60 % des Bevölkerungswachstums in diesem Zeitraum aus. Dabei handelte es sich in erster Linie um Zuwanderungen aus Kasachstan, Russland und Rumänien (hier jeweils in der Regel Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen) sowie aus dem ehemaligen Jugoslawien. Allein die Wanderungsströme aus diesen vier Ländern trugen zu etwas mehr als einem Drittel zum Bevölkerungsanstieg von insgesamt rund einer Million Menschen bei (Tabelle).

Die Wanderungsgewinne gegenüber den übrigen Ländern Deutschlands hatten einen Anteil am Einwohnerzuwachs von etwa 22 %. Dieser Beitrag ergab sich nur zu einem geringen Teil aus Nettozuwanderungen aus dem früheren Bundesgebiet (2 %). Hauptsächlich waren es Zuzüge aus ostdeutschen Ländern. So beruhten knapp 20 % des Anstiegs der baden-württembergischen Einwohnerzahl seit 1990 auf den Nettozuzügen von rund 208 000 Menschen aus den neuen Ländern.

Nachdem die größeren Rückwanderungswellen in das frühere Jugoslawien zum Ende der 90er-Jahre abgeebbt waren und sich die jährliche Zahl der Spätaussiedler in jüngerer Zeit deutlich rückläufig entwickelt hat, ist seit 1999 eine merkliche Verschiebung in der Bedeutung der einzelnen Wanderungsströme für das Bevölkerungswachstum im Lande eingetreten. Der Anstieg der Einwohnerzahl seit Jahresanfang 1999 um rund 255 000 Personen beruhte zu fast 36 % auf Zuwanderungen aus dem Ausland und zu knapp 53 % auf Wanderungsgewinnen gegenüber dem übrigen Bundesgebiet. Dabei trugen die Nettozuwanderungen aus Ostdeutschland zu 33 % zum Anstieg der Einwohnerzahl bei, 19 % entfielen auf Wanderungsgewinne gegenüber dem früheren Bundesgebiet. Der Anteil der Geburtenüberschüsse lag nur noch bei 12 %.

Bevölkerungszuwächse weiterhin auch durch Geburtenüberschüsse?

Während deutschlandweit bereits seit 1972 (die DDR mit eingerechnet) jährlich mehr Menschen starben als Kinder geboren wurden, wies die Bevölkerungsentwicklung im Lande bis Ende 2002 nahezu durchgängig (Ausnahmen 1978 und 1983) Geburtenüberschüsse auf. In den Jahren 2001 und 2002 stellte Baden-Württemberg sogar das einzige Land Deutschlands dar, das noch ein Geburtenplus verzeichnete. Gleichwohl ist die Entwicklungsrichtung der Geburtenüberschüsse auch im Lande seit 1998 deutlich abwärts geneigt. Mit knapp 4 500 Personen lag der Saldo der Bilanz aus Lebendgeborenen und Gestorbenen im Jahre 2002 um 80 % niedriger als 1990 (21 000 Personen) und um mehr als die Hälfte unter dem Stand des Jahres 2000 (10 800 Personen). Diese Entwicklung beruht ganz überwiegend auf den besonders seit 1998 deutlich rückläufigen Geborenenzahlen.

Für das Jahr 2003 zeichnet sich auch in Baden-Württemberg ein nur noch geringes Geburtenplus von wenigen hundert Personen ab. Die Perspektiven für die kommenden Jahre lassen dann einen von Jahr zu Jahr wachsenden Sterbefallüberschuss erwarten. Obwohl davon ausgegangen wird, dass die Sterblichkeit künftig weiter abnimmt1, würden aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung die Sterbefallzahlen dennoch ansteigen. Gleichzeitig dürften – wenn das gegenwärtige generative Verhalten unverändert bleibt – die Geborenenzahlen weiter zurückgehen. Damit könnte sich der Sterbefallüberschuss von 2003 bis zum Jahr 2010 auf insgesamt rund 52 000 Personen aufsummieren.

Künftiges Bevölkerungswachstum durch Nettozuwanderungen

Angesichts der bereits in den nächsten Jahren erwarteten Sterbefallüberschüsse in der Bilanz aus Lebendgeborenen und Gestorbenen kann ein Bevölkerungswachstum künftig nur bei weiteren Nettozuwanderungen anhalten. Aufgrund der Erfahrungen mit den seit 1998 registrierten Wanderungsgewinnen, mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union ab 2004 und aus der Erwartung, dass das Land auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreicher sein wird als andere, werden in den aktuellen Bevölkerungsvorausrechnungen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte weiterhin deutliche Wanderungsgewinne angenommen.

Bei Nettozuwanderungen von jahresdurchschnittlich 38 000 Personen bis zum Jahr 2050 würde die Einwohnerzahl des Landes noch bis zur Mitte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts ansteigen. Um das Jahr 2025 läge die Bevölkerungszahl mit knapp 11,2 Mill. Menschen um fast 5 % höher als zur Jahresmitte 2003. Die anwachsenden Sterbefallüberschüsse würden nach 2025 jedoch zu einer rückläufigen Bevölkerungsentwicklung führen, weil sie dann die erwarteten Wanderungsgewinne in immer stärkerem Maße übertreffen (Schaubild 3).

Geht man demgegenüber von jährlichen Wanderungsgewinnen in Höhe von 50 000 Personen aus – dies entspräche in etwa den jahresdurchschnittlichen Nettozuwanderungen der vergangenen 50 Jahre –, so ist auch längerfristig mit steigenden Einwohnerzahlen zu rechnen. Um das Jahr 2040 hätte das Land mit knapp 11,6 Mill. Menschen eine um gut 8 % höhere Bevölkerungszahl als Mitte 2003. Aber auch in diesem Fall führen die erwarteten Sterbefallüberschüsse in den Folgejahren zu allmählich rückläufigen Einwohnerzahlen. Im Jahre 2050 würden dann etwas mehr als 11,5 Mill. Menschen im Lande leben.

Unter der Annahme, dass künftig keine Zu- und Abwanderungen über die Landesgrenze erfolgen, ergäben sich bereits ab 2004 abnehmende Bevölkerungszahlen. Aufgrund der künftig Jahr für Jahr ansteigenden Sterbefallüberschüsse würde die Einwohnerzahl bis um das Jahr 2030 mit rund 9,6 Mill. Personen wieder den Stand von Anfang 1990 erreicht haben, das heißt eine um eine Million niedrigere Bevölkerungszahl als heute.

Aus welchen Ländern sind künftig weitere Nettozuwanderungen zu erwarten?

Die Überlegungen zur künftigen Entwicklung der Wanderungsströme innerhalb des Bundesgebiets gehen davon aus, dass Baden-Württemberg bis 2010 per saldo rund 225 000 Personen durch Zuzüge aus den übrigen Ländern Deutschlands hinzugewinnt. Dabei dürfte der überwiegende Teil – schätzungsweise fast zwei Drittel – aus den neuen Ländern stammen. Geht man im Weiteren davon aus, dass ab 2003 jährlich 200 000 Personen netto aus dem Ausland ins Bundesgebiet zuwandern, so würden rund 23 600 von ihnen pro Jahr nach Baden-Württemberg kommen; bis 2010 wären dies fast 190 000 Menschen.

Eine Einschätzung der Verteilung der künftigen Wanderungsgewinne gegenüber dem Ausland differenziert nach den Herkunftsländern fällt angesichts der nicht selten auch kurzfristig stark schwankenden Wanderungsbewegungen außerordentlich schwer. Gleichwohl kann damit gerechnet werden, dass auch bereits vor der Gewährung der vollständigen Freizügigkeit nennenswerte Zuwanderungen aus den neuen Beitrittsländern zur Europäischen Union zu verzeichnen sein werden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Zuzüge von Spätaussiedlern nach Baden-Württemberg seit 2000 statistisch als Binnenwanderungen innerhalb des Bundesgebietes erscheinen, weil sie bei der Einreise nach Deutschland zentral über die Aufnahmestelle Friedland in Niedersachsen geleitet werden. Daraus erklären sich die nach 2000 sehr stark gesunkenen Zuzugszahlen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Als weiterer Einflussfaktor werden wie in der Vergangenheit vor allem auch die Strukturen und die Möglichkeiten des Arbeitsmarktes im Lande eine große Rolle spielen.

1 … das heißt, dass mehr Menschen ein hohes Alter erreichen werden.