:: 6/2004

Arbeitsplätze im Osten?

Im Jahr 2002 waren in den Ländern der EU-25 rund 200 Millionen Menschen erwerbstätig, darunter 163 Mill. in den früheren 15 EU-Ländern. Mit seinen über 5 Mill. Erwerbstätigen bietet Baden-Württemberg mehr Arbeitsplätze als 17 der 25 EU-Länder. In den für deutsche Unternehmer so attraktiv erscheinenden Ländern Tschechien, Slowakei, Slowenien und Ungarn arbeiten gerade einmal 11 Mill. – und gerade dort sollen die Lohnkosten für verlagerungswillige deutsche und baden-württembergische Unternehmen ins Lot gebracht werden?

»Den Prozess der Verlagerung werden wir nicht stoppen können…«

»… aber wir müssen unbedingt verhindern, dass er sich weiter beschleunigt. Nicht nur die Optimisten, sondern auch die vielen Realisten sollen sich für Investitionen in Deutschland entscheiden… Um im Vergleich zu den neuen Standortalternativen von Osteuropa über Russland bis China zu bestehen, muss Deutschland den Betrieben wettbewerbsfähige staatliche Rahmenbedingungen bieten«, meinte Martin Kannegießer, der Präsident von Gesamt-Metall, im März dieses Jahres.

17 EU-Länder haben weniger Arbeitsplätze als Baden-Württemberg

Jedem Investor stellt sich die Frage, welche Rahmenbedingungen und vor allem welches Arbeitskräftepotenzial die so oft zitierten neuen Mitgliedsländer der Europäischen Union – und dabei insbesondere jene im Südosten der EU – bieten. Einen Hinweis geben die Erwerbstätigenzahlen und die Arbeitslosenquoten. Danach sind in der Tschechischen Republik, in der Slowakei, in Ungarn und in Slowenien zusammen 11 Mill. Menschen erwerbstätig. Die Arbeitslosenquoten1, wie sie von Eurostat harmonisiert wurden, betrugen im Februar 2004 in

Ungarn5,9 %
Slowenien6,4 %
Tschechien8,2 %
Slowakei16,7 %

Das bedeutet, dass in kaum einem der favorisierten Länder nennenswerte Arbeitskräftereserven zur Verfügung stünden. In den benannten Ländern gibt es in der Summe zwar etwa 1 Mill. Arbeitslose, würde diese Zahl auf die Hälfte verringert, spricht man jedoch bereits von Vollbeschäftigung. Ob die verbleibende halbe Million dann gerade jene Qualifikationen hat, die sich deutsche Unternehmer vorstellen, ist zumindest fraglich. Zudem konkurrieren auch andere Hochlohnländer wie Österreich, Frankreich, Italien oder Großbritannien um die Arbeitskapazitäten in den neuen EU-Ländern. Somit verbleiben die baltischen Staaten und Polen. Erstere weisen deutliche lagebedingte Standortnachteile auf. Polen scheint derzeit mit einer Arbeistlosenquote von über 19 % rechnerisch zwar einen Arbeitskräfteüberschuss zu haben, die Kräfte Polens scheinen allerdings noch auf Jahre hinaus zur Bewältigung interner Strukturprobleme benötigt zu werden. Letztlich bieten sich die Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien sowie die westlichen Staaten der ehemaligen Sowjetunion – Weißrussland, Moldawien und Ukraine – als mögliche Investitionsstandorte an

Mit seinen über 5 Mill. Erwerbstätigen bietet Baden-Württemberg mehr Arbeitsplätze als 17 der 25 EU-Länder. Damit verglichen ist das »Fassungsvermögen« der kleineren und insbesondere der neuen EU-Länder sehr begrenzt.

21 Milliarden Euro zur Schaffung eines günstigen Investitionsklimas im Osten

Die eher mittelständische Industrie Baden-Württembergs wünscht und benötigt für Arbeitsplatzverlagerungen ein rechtlich gesichertes Umfeld innerhalb des normativen Geflechts der EU und ein günstiges Investitionsklima. Dafür investierte die EU von 1990 bis 1999 zusammen etwa 10 Mrd. Euro im Rahmen des PHARE-Programms. Im Zeitraum 2000 bis 2006 stellt PHARE weitere 11 Mrd. Euro an Kofinanzierung für den institutionellen Aufbau durch »Verwaltungspartnerschaften« und technische Zusammenarbeit sowie für die Unterstützung von Investitionen zur Verfügung. Ziel ist, die Bewerberländer in ihren Bemühungen zu unterstützen, ihre öffentlichen Verwaltungen und Institutionen zu stärken, um wirksam innerhalb der Union tätig zu sein, Konvergenz mit der umfangreichen Gesetzgebung der Europäischen Gemeinschaft zu fördern und die Notwendigkeit an Übergangsphasen zu verringern und um den wirtschaftlichen sowie sozialen Zusammenhang zu fördern.2

Explodierende Arbeitskosten in den neuen EU-Ländern

Zum wenig ergiebigen Arbeitsmarkt kommen in den meisten neuen EU-Ländern kräftig steigende Arbeitskosten. Der von Eurostat berechnete so genannte Labour cost index3, der die Entwicklung der Arbeitskosten repräsentiert, hat sich im Vergleich zu Deutschland bemerkenswert kraftvoll entwickelt. Ausgehend von einem Index = 100 im Jahr 2000 stiegen die Indices bis Ende 2003 für … auf:

Deutschland 108,8
Litauen108,1
Polen124,04
Slowenien131,05
Lettland132,9
Tschechien140,2
Estland140,8
Slowakei148,7
Ungarn154,3

Konkret heißt das zum Beispiel, dass in der Slowakei im Laufe des Jahres 2003 die durchschnittlichen monatlichen Löhne im Verarbeitenden Gewerbe von 330 Euro auf 403 Euro stiegen; das ist ein Plus von 22 %. Bei der Elektrizitäts-, Gas-, und Wasserversorgung stiegen die Löhne sogar um 27 %.

Auch bei den neuen EU-Ländern keine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung

In allen neuen Mitgliedsländern der EU treten seit Jahren die gleichen demografischen Phänomene wie in den EU-15-Ländern auf. Alle beigetretenen Länder – außer den Inselstaaten Zypern und Malta – melden zum Teil schon seit 10 Jahren mehr Sterbefälle als Geburten. Der Alterungsprozess bei gleichzeitig starkem Rückgang der Geburten hat auch diese Länder erfasst. Das Geburtendefizit6 war 2003 zum Teil schon ausgeprägter als in Deutschland (-1,8)7, so in

Litauen−3,0
Ungarn−3,9
Estland−3,7
Lettland−5,2

Auch in der Tschechischen Republik, in Polen, Slowenien und der Slowakei steht bereits ein Minus vor der Zahl – Tendenz deutlich negativ. Im Gegensatz zu den EU-15-Ländern, die im Jahr 2003 – laut Eurostat – noch eine Bevölkerungszunahme von 1,3 Mill. oder + 0,34 % hatten, verringerte sich die Bevölkerungszahl in den neuen EU-Ländern um 0,08 %.

Von einer nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung kann daher nicht gesprochen werden. Die kritischen Folgen für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme werden sich phasenverschoben in wenigen Jahren auch bei unseren östlichen Nachbarn einstellen. Bei der Verlagerung von Arbeitsplätzen in die neuen EU-Länder könnte sich sehr bald eine weitere Verlagerung in dann vermeintlich noch günstigere Regionen als notwendig erweisen, und so weiter, und so weiter. Man kann Kannegießer nur zustimmen, dass »nicht nur die Optimisten, sondern auch die vielen Realisten sich für Investitionen in Deutschland entscheiden sollen.«

1 Arbeitslos gemäß der Definition von Eurostat und entsprechend den Kriterien der International Labour Organisation (ILO) sind Personen zwischen 15 und 74 Jahren, die ohne Arbeit sind und innerhalb der beiden nächsten Wochen eine Arbeit aufnehmen können und während der vier vorhergehenden Wochen aktiv eine Arbeit gesucht haben. Die Arbeitslosenquote ist die Zahl der Arbeitslosen als prozentualer Anteil der Arbeitskräfte. Als Arbeitskräfte gelten beschäftigte Personen und Arbeitslose.

2 Bericht der Kommission zum PHARE Programm, Jahresbericht {SEC(2003) 228}

3 Der Labour cost index zeigt die kurzfristige Entwicklung aller Kosten für die Arbeitgeber. Der Index deckt alle marktwirtschaftlichen Aktivitäten außer Landwirtschaft, Fischerei, Forstwirtschaft, Erziehungswesen, Gesundheitswesen, Unterhaltungs- und Informationsgewerbe sowie persönliche Diensleistungen ab. Die Arbeitskosten umfassen Bruttolöhne und Gehälter, Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung und Steuern minus Unterstützungsmittel für die Beschäftigung.

4 Letzte Quartale geschätzt.

5 Letzte Quartale geschätzt.

6 Ausgedrückt als Differenz der Zahl der Lebendgeborenen je 1000 Einwohner minus der Zahl der Gestorbenen je 1000 Einwohner. Das natürliche Wachstum ist negativ, wenn die Zahl der Gestorbenen jene der Lebendgeborenen übersteigt.

7 Eurostat: Pressemitteilung 6/2004 vom 9. Januar 2004; Erste Bevölkerungsschätzungen: In der EU lebten am 1. Januar 2004 380,8 Mill. Personen, in den beitretenden Ländern 74,1 Mill.