:: 8/2004

»Wie kann die Kommune auf die demografische Entwicklung reagieren?«

Statement Dr. Christof Eichert, Bertelsmann Stiftung

Für die Bildung stellen sich im Zuge des demografischen Wandels die Fragen: Welche Auswirkungen auf das Bildungssystem sind durch die in Deutschland bereits heute zu erkennenden Veränderungen zu erwarten? Wie muss dieses System darauf reagieren? Dies hat im besonderen Maße auch mit der kommunalen Struktur zu tun, mit den dort arbeitenden Partnern einer lokalen Bildungslandschaft und deren Zusammenarbeit. Und die Wirklichkeit in der Bildungslandschaft etwa von Mecklenburg-Vorpommern heißt heute auch schon Schulschließungen in erheblicher Zahl.

Der durchschnittliche Schulweg eines Grundschülers liegt in Einzelfällen bereits bei mehr als 20 Kilometern. Zu den Reaktionsmöglichkeiten einer Kommune nimmt Dr. Christof Eichert aus seiner Erfahrung als Oberbürgermeister in Ludwigsburg Stellung.

Seit den Anfängen dieses Landes nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Begriff Entwicklung nur eine Deutung und Fragestellung: Wie geht eine Kommune mit Zuwachs um, mit der Nachfragesteigerung nach Bauland, öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen? Daraus haben sich komplette Gesetze entwickelt, die nur diese eine Richtung kennen, etwa das Baugesetzbuch des Bundes für die Bauleitplanung der Kommunen.

Ich habe als Oberbürgermeister von Ludwigsburg im Jahr 2001 ein Gutachten zur Bevölkerungsentwicklung in Auftrag gegeben, das seit Sommer 2002 vorliegt. Ich wollte dabei vor allem wissen, was geschieht, wenn nichts geschieht, wenn also die bisherige Politik einfach in die Zukunft fortgesetzt wird? Die Ergebnisse sind in der Zwischenzeit angesichts der allgemeinen Diskussion nicht mehr überraschend, damals aber schon eindrucksvoll gewesen: Im äußersten Fall schrumpft die Stadt bis 2050 um rund 20 %, im besten Fall bleibt die Größe knapp konstant.

Ein Bild, das in einem Artikel in der TAZ für diese Entwicklung gefunden wurde, heißt: Das Land der durchlöcherten Städte. Denn es ist keine planbare oder gar steuerbare Verringerung der Bevölkerungsstruktur, sondern ein über Jahre hinweg schleichender Schrumpfungsprozess, der Leerstände, Brachen und zufällig ausgedünnte Siedlungen nach sich zieht. Damit wird eine Grundvoraussetzung unserer kommunalen Strukturen wegfallen, die in der standardisierten Versorgung der Bevölkerung mit Infrastruktur und Dienstleistung besteht: vom Kindergarten über die Schule, über die Kultur und Vereinslandschaft bis zum Altenheim folgt das kommunale Handeln einem mehr oder weniger gleichen Standard. Gleichzeitig verhalten sich die Menschen aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr standardisiert, sie entwickeln ein völlig neues, zyklisch anderes Verhalten in Ausbildung, Beruf und Alter als heute noch von den Kommunen erwartet. Dies ist eine Entwicklung der nachindustriellen Gesellschaft und der anderen wirtschaftlichen Bedingungen, und es wird durch den demografischen Wandel noch beschleunigt. Es gibt immer weniger lineare und an einen Ort gebundene Lebensläufe.

Wenn es eine Erkenntnis für den kommunalen Politikprozess geben muss, dann diese: Es lassen sich gewohnte Standards und fest gefügte Institutionen nicht mehr wie bisher vertreten, es muss ein völlig neues Maß an Flexibilität entwickelt werden. Dabei greife ich gerne das berühmte Beispiel des Kindergartens auf, der irgendwann mangels Kindern nicht mehr benötigt sein könnte. Allerdings ist die Annahme, dann könne man ja daraus eine Altenbegegnungsstätte machen, die falsche Antwort. Weder brauchen wir so viele Begegnungsstätten, noch werden all die zukünftigen Alten – wir! – dort hingehen, noch kann die Kommune dies finanzieren. Aus einem heutigen Kindergarten in 10 Jahren eine Wohnung zu machen, die dann privat angemietet wird, das ist die richtige Alternative, die ich in Ludwigsburg begonnen habe. Kommunale Zweckbauten zu errichten, die keine andere Nutzung – insbesondere in privater Hand – erlauben, ist in der Zukunft äußerst problematisch. Die mangelnde Flexibilität der Kommunen in der Anpassung ihrer Leistungen, die »verbaute«, weil durch Immobilien und deren Kosten belastete, Zukunft muss verändert werden; Modelle dafür gibt es längst.

Ein zweites Thema ist mit diesem Aspekt verbunden: Die Bevölkerung der Zukunft wird weit weniger homogen oder gar langfristig einschätzbar sein, sondern viel verschiedener, als sie es in den stabilen Strukturen der Vergangenheit war. Das betrifft sowohl die Zahl der Migranten und deren andere Lebensentwürfe als auch die altersmäßige Zusammensetzung und auch die Zahl der Jahre, in denen ein Bürger in einer Stadt lebt.

Der aktive Umgang mit dieser Vielfalt und Verschiedenheit der Lebensentwürfe wird ein entscheidendes Merkmal für die Attraktivität der Kommune sein. Das günstige Angebot an Bauland war früher ein gutes Argument für das Zuziehen von Menschen. Heute ist es in erster Linie das Angebot an beruflichen Chancen für die Menschen und das Angebot auf ein offenes Stadtklima mit flexiblen und qualitativ hochwertigen Angeboten für die jeweilige Lebens- und Interessenlage. Daraus kann ein neues Miteinander der verschiedenen Bevölkerungsgruppen entstehen, das wir dringend als Maß der sozialen Integration brauchen.

Zuletzt noch ein wichtiger Hinweis: Die Frage, wie eine Kommune mit den Entwicklungen in der Zukunft umgeht, richtet sich nicht allein an das Rathaus! Es gibt eine Vielzahl von Akteuren vor Ort, die ein eigenes Interesse haben und auch eigene Möglichkeiten nutzen müssen, auf Veränderungen in der beschriebenen Form zu reagieren. Denken Sie an private Wohnungsunternehmen, an Wohlfahrtsverbände, an die Vereine und so weiter. Es sind letztlich alle Bürger einer Kommune betroffen.

Deutschland steht vor einer großen Herausforderung, schreibt Prof. Vaupel, der Chef des Rostocker Instituts für demografische Forschung. Das schlimme dabei ist nicht der demografische Wandel, sondern die allgemeine demografische Ignoranz. Und er meint dabei nicht nur die Politik, sondern auch und gerade die Gesellschaft insgesamt.

Es gibt das bittere Wort des Ignoranten: »Ich weiß, das ich Recht habe, störe mich nicht mit Fakten.« Die Fakten liegen auf dem Tisch, wir müssen nun damit aktiv umgehen. Und das bedeutet nicht den Untergang unserer Werte, sondern möglicherweise nur eine Änderung der Maßstäbe.

Um es in einem Beispiel aus der Schullandschaft zu beschreiben: der durchschnittliche Schulweg in anderen Ländern ist deutlich weiter als in Deutschland. Das hat aber dort keine negativen Folgen, im Gegenteil: der durchschnittliche Schulerfolg ist häufig besser als bei uns.

Betrachten wir also die Fakten und entscheiden wir uns dann. Möglichkeiten und gute Beispiele haben wir genug!