:: 9/2004

Kriminalitätsentwicklung in Baden-Württemberg bis zum Jahr 2020

Mehr verurteilte Jugendliche trotz Bevölkerungsrückgang?

Bis zum Jahr 2020 ist kaum damit zu rechnen, dass sich die Zahl der rechtskräftig Verurteilten verringert. Selbst unter der Annahme, dass die Straffälligkeit des Jahres 2002 in allen Altersgruppen bis zum Jahr 2020 konstant bleibt, würde die Verurteiltenzahl geringfügig über dem Niveau des Jahres 2002 liegen. Setzen sich die in den einzelnen Altersgruppen zu beobachtenden Trends der Verurteiltenhäufigkeit der zurückliegenden 20 bzw. 10 Jahre allerdings fort, könnte das Niveau der Verurteilungen 9 bzw. 17 % über dem von 2002 liegen. Sollte bei den Jugendlichen und Heranwachsenden der Trend einer steigenden Straffälligkeit entsprechend den 90er-Jahren anhalten, würde die Zahl der verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden bis 2020 sogar um gut 30 % zunehmen, obwohl bis dahin in Baden-Württemberg voraussichtlich 7 % weniger Einwohner im Alter von 14 bis 21 Jahren leben als 2002.

Die zu erwartende Veränderung der Einwohnerzahl und deren Altersstruktur wird sich früher oder später in allen Bereichen der Gesellschaft niederschlagen. Der Bevölkerungsvorausrechnung für Baden-Württemberg zufolge wird die Einwohnerzahl gemäß der so genannten Variante 1 (Wanderungsgewinne von durchschnittlich 38 000 Personen pro Jahr) bis zum Jahr 2026 weiter steigen und danach bis zum Jahr 2050 kontinuierlich abnehmen. Nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Einwohner, sondern auch bezüglich deren Altersstruktur stehen gravierende Veränderungen in Aussicht. Anders als der Rückgang der Gesamtbevölkerung werden sich die strukturellen Veränderungen schon in naher Zukunft zeigen. Die Zahl älterer Menschen in der baden-württembergischen Bevölkerung wird zunehmen, während die Zahl der Jüngeren zurückgehen wird. Unmittelbare Auswirkungen dieses Alterungsprozesses sind beispielsweise die zahlenmäßige Abnahme von Kindern im Kindergarten- und Schulalter und ein steigender Bedarf an Plätzen in Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen.

Die Auswirkungen dieser demografischen Entwicklungen auf andere Bereiche der Gesellschaft wie die Sicherheit oder – anders ausgedrückt – die Entwicklung der Kriminalität im Land sind weitaus schwieriger zu quantifizieren, weil diese neben der Bevölkerungsentwicklung von vielen weiteren Faktoren beeinflusst wird. Ein Bevölkerungsrückgang, wie er ab dem Jahr 2026 erwartet wird, muss daher nicht zwangsläufig mit einer geringeren Zahl an Tatverdächtigen, Verurteilten oder Strafgefangenen einhergehen. Die hier untersuchten Auswirkungen auf die künftige Entwicklung der gerichtlich registrierten Kriminalität, also der Verurteiltenzahlen, hängen neben möglichen Veränderungen im Anzeigeverhalten, dem Erfolg der Ermittlungsbehörden oder möglicher Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen unter anderem ganz entscheidend davon ab, wie sich die Straffälligkeit der Bevölkerung – gemessen an der Zahl der Verurteilten je 100 000 Einwohner – weiterentwickeln wird. Weil darüber hinaus die Verurteiltenhäufigkeit der Bevölkerung hinsichtlich deren Nationalität und Alter stark divergiert, können unterschiedliche Annahmen zur künftigen Entwicklung der Verurteiltenhäufigkeit in verschiedenen Altersgruppen zu stark unterschiedlichen Ergebnissen bei der Vorausrechnung der Verurteiltenzahlen führen.

Trotz der genannten Unsicherheitsfaktoren haben Kriminalitätsvorausrechnungen einen großen Informationswert. Sie zeigen, welche quantitativen Veränderungen im Bereich der staatlichen Sicherheit und dem Rechtspflegesystem unter bestimmten Annahmen zu erwarten sind, und bilden damit einen Orientierungsrahmen für alle mit der Strafverfolgung und dem Strafvollzug, aber auch mit der Kriminalprävention betrauten Institutionen im Land.

Angesichts der Vielzahl von Einflussfaktoren, die aus heutiger Sicht nur schwer vorhersehbar sind, erscheinen Modellrechnungen mit einem Projektionszeitraum nur bis zum Jahr 2020 sinnvoll. Die Vorausrechnungen zeigen, wie sich die Zahl der Verurteilten bis zum Jahr 2020 weiterentwickeln könnte, wenn sich die Verurteiltenhäufigkeit in den kommenden knapp 20 Jahren entsprechend dem Trend der zurückliegenden 10 bzw. 20 Jahre weiterentwickeln würde (i-Punkt). Prinzipiell sind auch unterschiedliche Varianten je nach Altersgruppe und damit eine Variantenkombination denkbar. Bei laufender Beobachtung der Straffälligkeitsentwicklungen in den Altersgruppen lassen sich so quantitative Vorstellungen zur Entwicklung der gerichtlich registrierten Kriminalität gewinnen.

Demografische Entwicklung ohne Einfluss auf künftige Verurteiltenzahl

In dem verkürzten Projektionszeitraum bis 2020 wird die Gesamtbevölkerung der Bevölkerungsvorausrechnung zufolge um rund 5 % auf 11,2 Millionen Einwohner steigen. Für die künftige Entwicklung der gerichtlich registrierten Kriminalität ist jedoch nicht die Entwicklung der Gesamtbevölkerung, sondern jene mit einem Mindestalter von 14 Jahren entscheidend. Diese so genannte strafmündige Bevölkerung wird bis 2020 sogar um rund 9 % und damit stärker steigen als die Gesamtbevölkerung, weil sich der zuerst in den sehr jungen Altersgruppen einsetzende Bevölkerungsrückgang wegen der Altersgrenze von 14 Jahren erst mit zeitlicher Verzögerung in der strafmündigen Bevölkerung niederschlägt (Schaubild 1).

Der rein demografische Effekt auf die Verurteiltenzahlen bis zum Jahr 2020 kommt in der so genannten »demografischen Variante« zum Ausdruck (Schaubild 2 und Tabelle). Danach wird die Zahl der Verurteilten bei Annahme konstanter Straffälligkeiten von 2002 bis 2020 in allen Altersgruppen insgesamt um gut 1 % oder 1 500 Verurteilte auf knapp 118 000 zunehmen und 2020 nur geringfügig über dem Niveau von 2002 liegen. Der prozentuale Zuwachs der Verurteilungen läge nach dieser Variante erheblich unter dem der strafmündigen Bevölkerung (+9 %). Ursache hierfür sind die unterschiedlichen Verurteiltenhäufigkeiten in den untersuchten neun Altersgruppen. Die Straffälligkeit oder die Zahl der Verurteilten bezogen auf 100 000 Einwohner steigt von der Altersgruppe der 14- bis unter 16-Jährigen bis zur Altersgruppe der Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) kontinuierlich an und nimmt mit zunehmendem Alter stark ab (Schaubild 3). Die Straffälligkeit der mindestens 60-Jährigen war 2002 beispielsweise etwa nur ein Fünftel so hoch wie die von Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren. Diese unterschiedliche Straffälligkeit hat zur Folge, dass die jüngeren Altersgruppen bei den Verurteilungen stärker und die höheren Altersgruppen weniger stark gewichtet werden, als dies in der Bevölkerung der Fall ist. Unter den Verurteilten waren im Jahr 2002 Personen im Alter von mindestens 40 Jahren mit einem Anteil von rund 29 % nur halb so stark vertreten wie in der strafmündigen Bevölkerung (58 %). Wegen der angenommenen Konstanz der Straffälligkeit kann die demografische Variante 2020 jedoch kaum als realistisch eingestuft werden und dient in dieser Untersuchung lediglich der isolierten Betrachtung der demografischen Auswirkungen auf die Verurteiltenentwicklung. Die Zahl der verurteilten Jugendlichen von 14 bis 18 Jahren bzw. der Heranwachsenden von 18 bis 21 Jahren würde rein demografisch bedingt bis 2020 um 10 bzw. 2 % zurückgehen. In den oberen Altersgruppen von 50 bis 60 bzw. von 60 und mehr Jahren würde im gleichen Zeitraum die Zahl der Verurteilten um 53 bzw. 25 % steigen (Schaubild 4).

9 % mehr Verurteilte bei Fortsetzung des Trends der 80er- und 90er-Jahre

Aus heutiger Sicht realistischer erscheint ein stärkerer Anstieg der Verurteiltenzahlen. Wird die Entwicklung der Verurteiltenhäufigkeit in den einzelnen Altersgruppen, wie sie in den zurückliegenden 20 Jahren – also in den 80er- und 90er-Jahren – zu beobachten war, in die kommenden knapp 20 Jahre projiziert, würde die Zahl der Verurteilten im Jahr 2020 um 9 % oder rund 10 000 höher liegen als im Jahr 2002. Die Verurteiltenzahl läge dann bei fast 127 000 und würde prozentual genauso stark zunehmen wie die strafmündige Bevölkerung.

Diese Vorausrechnungsvariante würde sich vor allem in den jüngeren Altersgruppen positiv auf die Entwicklung der Kriminalität auswirken, weil in den zurückliegenden 20 Jahren dort eine sinkende Verurteiltenhäufigkeit zu beobachten war. In diesem Fall wird der demografische Entlastungseffekt durch die geringere Verurteiltenziffer spürbar verstärkt. Die Zahl der verurteilten Jugendlichen im Alter von 14 bis unter 18 Jahren würde sich bis 2020 gegenüber 2002 sogar halbieren (Schaubild 4). In den übrigen Altersgruppen mit Ausnahme der 30- bis 40-Jährigen würde sich die Zahl der Verurteilten dagegen erhöhen.

17 % mehr Verurteilte bei Fortsetzung des Trends der 90er-Jahre

Zu anderen Ergebnissen im Hinblick auf die Entwicklung der Verurteiltenzahl in einzelnen Altersgruppen kommt die Variante »Trend der 90er-Jahre«. Insgesamt würde die Zahl der Verurteilten in Baden-Württemberg bis 2020 um knapp 20 000 oder 17 % auf rund 136 000 zunehmen, also etwa doppelt so stark steigen wie bei der Wahl des um 10 Jahre längeren Stützzeitraums 1982 bis 2002.

Insbesondere für die Altersgruppen am »unteren« und »oberen Rand« der Altersskala war die Entwicklung der Verurteiltenhäufigkeit in den 90er-Jahren spürbar ungünstiger als in den 80er-Jahren. Bei den Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren war Anfang bis Mitte der 90er-Jahre sogar eine Trendwende eingetreten. In den 90er-Jahren lag die Verurteiltenhäufigkeit wieder im Aufwärtstrend, nachdem diese in den 80er-Jahren stark zurückgegangen war. Dieser Rückgang in den 80er-Jahren dürfte bei steigenden Tatverdächtigenzahlen je 100 000 Jugendliche vor allem mit der Sanktionierungspraxis im Zusammenhang stehen. Staatsanwaltschaften und Gerichte können nämlich gemäß §§ 45, 47 JGG insbesondere bei leichteren, von jugendlichen Beschuldigten begangenen Delikten von formellen, das heißt durch Urteil angeordnete Sanktionen zugunsten anderer erzieherischer Maßnahmen von einer weiteren Verfolgung der Straftat absehen.

Ohne diese Sanktionierungspraxis wäre die Verurteiltenhäufigkeit bei den Jugendlichen in den 90er-Jahren noch stärker gestiegen. Bei einer Fortsetzung des Straffälligkeitstrends der letzten 10 Jahre würden die demografischen Entlastungseffekte in den Altersgruppen der Jugendlichen und Heranwachsenden mehr als ausgeglichen, sodass die Zahl der verurteilten Jugendlichen bei einer Fortsetzung des 90er-Jahre-Trends bis 2020 um fast 50 % und die der verurteilten Heranwachsenden um 19 % steigen würde. Auch in den Altersgruppen über 40 Jahre läge die Verurteiltenzahl höher als in der Variante mit einem Stützzeitraum der Projektion von 20 Jahren.

Die vorliegenden Vorausrechnungsergebnisse zur gerichtlich registrierten Kriminalität zeigen, dass alleine ein demografisch bedingter Bevölkerungsrückgang, wie er in den jüngeren Altersgruppen bereits bis 2020 zu beobachten sein wird, nicht zwingend auf sinkende Verurteiltenzahlen schließen lässt. Obwohl die Einwohnerzahl bei den Jugendlichen und Heranwachsenden im Zeitraum bis 2020 bereits spürbar sinken wird, sind geringere Verurteiltenzahlen in diesen Altersgruppen nur unter der Prämisse realistisch, dass es gelingt, den in den 90er-Jahren kräftig gestiegenen Trend bei der Straffälligkeit der Jugendlichen und Heranwachsenden umzukehren oder zumindest zu verlangsamen. Erst mit dem ab 2026 zu erwartenden Rückgang der Gesamtbevölkerung steigen die Chancen auf geringere Verurteiltenzahlen. Bis dahin scheint eine Entlastung von Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichten und Justizvollzugsanstalten noch nicht in Sicht.